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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Henning Borggräfe hat Geschichte und Politikwissenschaften studiert. Er ist Leiter der Abteilung Forschung und Bildung des International Tracing Service (ITS) Die Historikerin Isabel Panek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Forschung und Bildung. Gemeinsam mit Henning Borggräfe und Christian Höschler arbeitet sie an einer Dauerausstellung über den ITS.

Von Henning Borggräfe und Isabel Panek

„Ich möchte mehr über meine Herkunft und das Schicksal meines Vater wissen“ und „wir recherchieren zum Schicksal von Zwangsarbeitern in unserer Region“ sind typische Anfragen, die den International Tracing Service (ITS) in der nordhessischen Kleinstadt Bad Arolsen fast täglich erreichen. Vor mehr als 70 Jahren wurde die Institution als Suchdienst für NS-Verfolgte gegründet und ist heute ein Informationszentrum und Archiv, das eine der weltweit größten Sammlungen zur Geschichte der NS-Verbrechen und ihrer Nachwirkungen verwahrt. Die Entstehungsgeschichte und den Wandel des ITS stellen wir im Folgenden skizzenhaft vor.

Weitverzweigte Suche nach der Befreiung vom Nationalsozialismus

Bei der Eroberung Deutschlands und der zuvor von den Deutschen besetzten Gebiete stießen die Alliierten auf etwa zehn Millionen sogenannte Displaced Persons (DPs). Zu ihnen zählten die Befreiten aus den Konzentrationslagern, Überlebende des Holocaust und des Genozids an den Sinti und Roma, ehemalige Zwangsarbeiter_innen sowie andere Personen, die sich bei Kriegsende außerhalb ihrer Herkunftsländer befanden, darunter auch Zehntausende Kinder. Die Alliierten sicherten zunächst die Versorgung der DPs und waren bestrebt, sie möglichst rasch in die Herkunftsländer zurückzubringen. Zugleich waren nicht nur die meisten DPs, sondern auch Millionen von Menschen weltweit auf der Suche nach Informationen über das Schicksal von vermissten Verwandten und Freund_innen. Dieser frühen Suche nach Opfern und Überlebenden der NS-Verfolgung nahmen sich verschiedene Akteur_innen an und ein weitverzweigtes Netzwerk von Suchstellen entstand. Dieses Netzwerk wurde getragen von Überlebenden, die sich nach der Befreiung organisierten, von jüdischen Hilfsstellen sowie von verschiedenen nationalen Rot-Kreuz-Gesellschaften.

Um die Suche nach vermissten NS-Verfolgten und anderen Menschen aus den Staaten der Vereinten Nationen zu koordinieren, gründeten die Alliierten im Spätsommer 1945 ein Central Tracing Bureau (CTB) unter der Leitung der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Dieses Büro, das zunächst in Frankfurt-Höchst und ab Januar 1946 in Arolsen angesiedelt war, bildete bis 1947 einen Knotenpunkt der Suchaktivitäten, indem es Anfragen und Dokumente zwischen Suchstellen in den drei westlichen Besatzungszonen und einer Reihe von nationalen Suchdiensten verteilte und eine Zentrale Namenkartei (ZNK) aufbaute. Von 1948 bis 1951 wurden die Suchaktivitäten unter der Leitung der International Refugee Organization (IRO), die für die Betreuung der verbliebenen DPs zuständig war, in Arolsen zentralisiert und die zonalen Büros aufgelöst. Im Zuge dessen wurde das CTB ab dem 1. Januar 1948 zum International Tracing Service ausgebaut.

Bedeutung von Dokumenten

Für die Suche nach Vermissten und die Auskunftserteilung über ihr Schicksal, aber auch für die Dokumentation des Grauens, Strafverfolgungen und mögliche Entschädigungsansprüche, waren schriftliche Zeugnisse der Verfolgung unverzichtbar. Gleiches galt für das Wissen über den nationalsozialistischen Terrorapparat, die verschiedenen Haftorte und Massenverbrechen. Schon seit den letzten Kriegsmonaten sicherten daher Initiativen von Überlebenden Dokumente der Täter. Die alliierten Befreier beschlagnahmten Unterlagen der Konzentrationslager, welche die SS nicht hatte zerstören können. Auf Befehl der Alliierten gaben Verwaltungen, Firmen und Versicherungen ab 1946 Millionen von Dokumenten über ausländische Zwangsarbeiter_innen heraus. In den späten 1940ern suchten ITS-Mitarbeiter_innen nach Spuren entlang der Todesmarsch-Routen oder durchkämmten Standesämter und Waisenhäuser auf der Suche nach Hinweisen zu vermissten und geraubten ausländischen Kindern. Und schließlich trug der ITS weitere Millionen von Unterlagen über die Registrierung, Versorgung und Auswanderung der DPs in Arolsen zusammen. All diese Unterlagen bilden den Kern des ITS-Archivs, das in den folgenden Jahrzehnten durch die Übernahme weiterer Bestände im Original oder in Kopie immer weiter anwuchs und heute mehr als 30 Millionen Dokumente umfasst. Die Dokumente sind unter anderem über eine Zentrale Namenkartei erschlossen. Diese besteht aus mehr als 50 Millionen Hinweiskarten zum Schicksal von über 17 Millionen Menschen.

Der ITS – eine internationale Organisation in Deutschland

Der ITS war zunächst als temporäre Einrichtung geplant - wie die IRO, die ihn leitete. Schnell wurde jedoch klar, dass die Suche längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Und mit der Dokumentation der Verfolgung für Entschädigungsverfahren trat schon um 1950 eine neue Aufgabe hinzu. Nach der Auflösung der IRO 1951 blieb der ITS daher weiter bestehen und die Alliierte Hohe Kommission für Deutschland (HICOG) übernahm die Leitung. Als diese 1955 ebenfalls aufgelöst wurde, ging die Leitung des ITS nach kontroversen Debatten auf das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) über. Im Mittelpunkt der Debatten stand die brisante Frage, wer die Kontrolle über das Archiv haben sollte. Eine Rückgabe der Dokumente an die Täter schien vielen unvorstellbar. Aus diesem Grund erfolgte 1955 auch die Einrichtung eines Internationalen Ausschusses, der bis heute Richtlinien für die Arbeit des ITS festlegt. 2012 zog sich das IKRK aus der Leitung des ITS zurück und der Ausschuss, dem heute elf Staaten angehören, übernahm selbst diese Aufgabe. Somit befinden sich der ITS und sein Archiv zwar in Deutschland, waren und sind aber unter internationaler Aufsicht.

Suche und Auskunftstätigkeit im Wandel

Als die gewaltigen Dimensionen der Verbrechen erkennbar wurden, war den Suchstellen schnell klar, dass sie viele Vermisste nicht lebend finden würden und dass oft nicht einmal Dokumente zu ihrem Schicksal existierten. Deshalb betrieb der ITS in den 1940er Jahren auch eine aktive Feldsuche nach Vermissten und führte über verschiedene Medien, wie z.B. Radios und Zeitungen, ein sogenanntes Mass Tracing durch. Zugleich entstand 1948 ein Sonderstandesamt in Arolsen, um Angehörigen den Tod eines Verwandten bescheinigen zu können. Für die Zehntausendenminderjährigen NS-Opfer gab es anfangs eine eigene Organisation, die 1951 als Child Search Branch in den ITS integriert wurde.

Ab den 1950er Jahren wandelten sich mit ersten Entschädigungszahlungen auch die Bedürfnisse der meisten Menschen, die den ITS kontaktierten: Sie waren auf der Suche nach Belegen der Verfolgung für ihre Entschädigungsanträge. Bis Ende der 1960er Jahre erhielt der ITS Hunderttausende solcher Anfragen. Für die Mitarbeiter_innen bedeutete die Suchen nun in erster Linie eine Recherche nach Hinweisen in den Dokumenten des Archivs, die sie in standardisierten Inhaftierungs- und Aufenthaltsbescheinigungen zusammenfassten. Eine zweite große Anfragenwelle erlebte der ITS seit den späten 1980er Jahren im Kontext neuer Debatten über Zwangsarbeiter_innen und andere sogenannte vergessene Opfer. Als dann der Bundesrepublik und deutschen Unternehmen nach Ende des Kalten Krieges erstmals Entschädigungen für NS-Verfolgte aus Ostmittel- und Osteuropa abgerungen werden konnten, explodierte der Posteingang des ITS. Hunderttausende Anfragen pro Jahr führten zu immensen Rückständen und teils jahrelangen Wartezeiten – eine Herausforderung, die für die nun hochbetagten NS-Verfolgten trotz neuer Schnellprüfungen und des Beginns der Digitalisierung des Archivs nicht zufriedenstellend bewältigt werden konnte.

Die Mehrzahl heutiger Anfragen stammt dagegen von Angehörigen der zweiten und dritten Generation, die das Verfolgungsschicksal von Familienangehörigen rekonstruieren möchten. Vom ITS erhalten sie digitale Kopien der Archivdokumente und erklärende Informationen.

2017 erreichten den ITS aus der ganzen Welt 16.786 Anfragen zu 23.513 NS-Verfolgten. Etwa 8% der Anfragen kamen noch direkt von Überlebenden oder ihren Anwält_innen, 70% dagegen von Familienangehörigen. Jahr für Jahr steigen auch die Anfragen von Forscher_innen und Vermittler_innen, die im vergangenen Jahr 16% der Anfragenden ausmachten; circa 900 Besucher_innen recherchierten selbst im Lesesaal des ITS. 

Öffnung, Schließung und erneute Öffnung 

Dass Forscher_innen und Vermittler_innen ITS-Auskünfte erhalten und im Lesesaal recherchieren, ist keine Selbstverständlichkeit. Denn von Anfang der 1980er Jahre bis 2007 war das Archiv für die Öffentlichkeit geschlossen. Der damalige Direktor begründete die Abschottung einerseits mit der wachsenden Bedeutung von Datenschutzfragen und stellte andererseits heraus, dass der ITS sich strikt auf das humanitäre Mandat fokussieren müsse, wie es 1955 definiert worden sei. In den 1960er und 70er Jahren hatte der vorherige Direktor das Mandat allerdings freier interpretiert, die Vernetzung mit Verfolgtenverbänden und Gedenkstätten gesucht und das Archiv für die Forschung geöffnet. Die Schließung des ITS-Archivs in den frühen 1980er Jahren wog umso schwerer, als die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und bis dahin marginalisierten Opfergruppen gerade erst richtig begann. Seither kritisierten abgewiesene Wissenschaftler_innen, Gedenkinitiativen und NS-Gedenkstätten aus dem In- und Ausland immer wieder die Abschottung des ITS. Zu einer Wende kam es jedoch erst, als auf internationaler Ebene politischer Druck entstand und das Verhalten der ITS-Leitung, ebenso wie die langen Wartezeiten auf Auskünfte, auch in den Medien skandalisiert wurden. Nach langen Debatten beschloss der Internationale Ausschuss 2007 die erneute Öffnung des ITS-Archivs für die interessierte Öffentlichkeit.

Während die Auskünfte an ehemals Verfolgte und ihre Angehörigen weiterhin einen Kern der ITS-Aktivitäten bilden, haben sich die Aufgaben seit der Öffnung stark erweitert. Es gibt professionelle Maßnahmen zur Erhaltung und Restaurierung der Originaldokumente, die 2013 von der UNESCO als Teil des „Memory of the World“ anerkannt wurden. Die Verbesserung des Zugangs zum Archiv – im Lesesaal wie auch im Internet – steht ganz oben auf der Agenda. Und mit eigenen Aktivitäten und verschiedenen Angeboten betreibt und fördert der ITS heute Forschungs- und Bildungsprojekte.

 

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