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Der International Tracing Service (ITS) - ein besonderer Lernort

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Der Verfasser wurde 1968 geboren und lebt in Ahnatal bei Kassel. An der Georg-August-Universität Göttingen studierte er Alte Geschichte, Mittlere und Neuere Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Politikwissenschaften, Deutsche Philologie und Pädagogik. Seit 2005 unterrichtet er an der Wilhelm-Filchner-Schule Wolfhagen neben Geschichte die Fächer Deutsch, Erdkunde, Politik und Wirtschaft sowie Darstellendes Spiel. Der Oberstudienrat ist dort seit 2006 auch Vorsteher der Fachschaft Geschichte.

Von Marcus von der Straten

Der folgende Text berichtet von den Erfahrungen der erfolgreichen langjährigen Kooperation der Wilhelm-Filchner-Schule Wolfhagen mit dem International Tracing Service im benachbarten Bad Arolsen.

Neben der Arbeit mit Darstellungstexten gehört der kritische Umgang mit schriftlichen Quellen zum festen Kanon der fachspezifischen Methoden des Geschichtsunterrichts und ist längst bewährter Bestandteil der gängigen Unterrichtswerke. Bei den Quelleneditionen vieler Schulbücher besteht allerdings die Problematik, dass sie sich optisch, d.h. (typo)grafisch, von echten Dokumenten unterscheiden und dass sie teilweise bis zur Unkenntlichkeit didaktisiert sind. Dies hat aber zumindest den Vorteil, dass auf diese Weise historische Quellen unter Einbeziehung darstellender Texte im zeitlichen und methodischen Takt des Regelunterrichts kontextualisiert und gedeutet werden können. Neben diesen eher textbasierten Materialien sollten moderne Lernarrangements möglichst unterschiedliche Quellengattungen (Bild-, Sach- und audio-visuelle Quellen), Filmdokumentationen, Historienfilme, digitale Medien etc. und auch außerschulische Lernorte beinhalten.

Besuche in Archiven etwa bieten didaktisch-methodischeLernchancen, die allerdings aus organisatorischenGründen im Schulalltag meist nicht genutzt werden (können). Gerade derartige Exkursionen wirken aber bereits durch den Ausstieg aus dem gewohnten schulischen Rahmen motivational anregend. Hinzu kommt, dass beispielsweise beim ITS eine unmittelbare Erfahrung der Geschichte durch die Beschäftigung mit didaktisch nicht bearbeiteten und bereits dechiffrierten Dokumenten ermöglicht wird: Hier bietet sich im Rahmen forschenden Lernens die Möglichkeit zu von den Schüler_innen selbst entwickelten Fragen an die Geschichte!

ITS-Archiv und Schule - die Praxis

Seit 2010 praktizieren die Wilhelm-Filchner-Schule und der ITS verschiedene Formen der Kooperation: Nachdem zunächst Fortbildungen für Lehrkräfte durchgeführt wurden, besteht die Möglichkeit, das Archiv zu Recherchezwecken zu nutzen, zur Vorbereitung von Gedenkstättenbesuchen digitalisiertes Archivgut zu erhalten und für Unterrichtszwecke die Veröffentlichungen des ITS zu verwenden. Über diese meist projektbezogene Zusammenarbeit hinaus können Schüler_innen das Archiv und seine Bibliothek selbständig nutzen, wenn sie Referate oder z.B. besondere Lernleistungen anfertigen.

Den Schwerpunkt bilden die ganztägigen Archivbesuche, die regelmäßig von der Geschichtswerkstatt, einem Wahlpflichtkurs (Jg. 10/11), durchgeführt werden. Hierbei hat sich folgender Ablauf bewährt: Begrüßung und Klärung der Erwartungen, Präsentation zu Geschichte und Aufgaben des ITS, Einführung in die Archivdatenbank, betreute individuelle Recherche im digitalen ITS-Archiv, ergänzende Nutzung der Bibliothek, Kurzvorstellung der Ergebnisse, Feedback, Weiterarbeit und Präsentation in der Schule. Den technischen Umgang mit dem digitalen Archiv erlernen die Jugendlichen zumeist sehr schnell, zumal es sich hierbei um ein aktuelles Medium aus ihrer Lebenswirklichkeit handelt. Bei der selbständigen Recherche der Lernenden ist hingegen angesichts der Komplexität des Archivbestandes eine fachliche Unterstützung durch die hilfsbereiten ITS-Mitarbeiter_innen und die betreuende Lehrkraft notwendig. Sind die Fragen zunächst anwendungsbezogen (Verzeichnisstruktur, Speicherweg etc.) und allgemeiner Natur (Fachtermini, Fremdwörter), so bewegen sie sich im weiteren Verlauf vorwiegend um konkrete inhaltliche Aspekte. So betreut, können die meisten Schüler_innen eigenständig ihre sachthematische Recherche durchführen und Dokumente entsprechend auswerten. Abschließend wird das recherchierte Material kostenfrei digital zur Verfügung gestellt, damit es später in der Schule weiter verwendet werden kann. Auf Anfrage leistet das ITS-Team auch eine Nachrecherche.

Geschichtsdidaktisches Potenzial des forschenden Lernens beim ITS

Damit ein Recherchebesuch beim ITS erfolgreich sein kann, ist es unbedingt notwendig, frühzeitig mit den Mitarbeiter_innen in Kontakt zu treten und die Archivnutzer_innenthematisch darauf vorzubereiten. Je nach Schwerpunkt sollte eine unterrichtliche Behandlung wichtiger Themenkomplexe erfolgen (z.B. NS-Ideologie und ihre Trägerschichten, Propaganda und Terror als Herrschaftsinstrumente, Organisation und Ausformung des KZ-Systems, Opfer- und Häftlingsgruppen, Lageralltag, Zwangsarbeit). Darüber hinaus muss die begleitende Lehrkraft die Bereitschaft zur aktiven und fachlich fundierten Betreuung besitzen.

Der ITS ist Europas größtes Archiv zu den NS-Verbrechen und ihren Folgen. Als Such- und Auskunftsstelle ist er besonders für namens- und ortsbezogene Recherchen auf dem Gebiet des ehemaligen Deutschen Reichs bzw. der von ihm besetzten Gebiete geeignet. Insofern können sich hier Lerngruppen anhand zahlreicher Sachdokumente und personenbezogener Unterlagen aus den Archivbereichen „Inhaftierung“, „Zwangsarbeit“, „Displaced Persons“ und „Suchdienst“ einerseits mit der Rekonstruktion von Einzelschicksalen und andererseits mit dem Inhalt des Behördenschriftguts beschäftigen. Das Archiv setzt sich dabei sowohl aus NS-Beständen als auch aus Beständen der Alliierten bzw. des ITS und seiner Vorgängerorganisationen zusammen und ist größtenteils digitalisiert.

Auch wenn es im Verlauf der Recherche unter Umständen dazu kommen kann, dass diese nicht immer erfolg- und ertragreich ist, da zu einzelnen Personen, Orten oder Themen keine oder nur rudimentäre Daten bzw. Dokumente vorliegen, und Probleme, wie fremdsprachige, beschädigte oder schwer lesbare Quellen, auftreten, sind die Jugendlichen mit ihrer Arbeit und der Betreuung in der Regel sehr zufrieden So kommt es eher dazu, dass aufgrund der hohen Identifikation der Lernenden mit ihrer eigenen Arbeit die Recherche angesichts der limitierten Arbeitszeit abgebrochen werden muss. Gerade das forschende Lernen führt zu einer intrinsischen Motivation und wirkt aktivierend kognitiv. Durch das Erfahren von Authentizität und Empathie bei der Einsicht in Originaldokumente und das Leben von konkreten historischen Personen erhält das Lernen eine neue Qualität: So ist die Entdeckung eines Namens auf einer Deportationsliste oder die Sichtung von Egodokumenten eines KZ-Überlebenden etwas völlig anderes als darüber eine abstrakte Darstellung zu lesen. Auf diese Weise werden ein tieferes Verstehen und eine Konkretisierung des aus dem Unterricht Bekannten wie ebenso des Unbekannten erreicht. Anknüpfend an den von vielen Schüler_innen artikulierten Wunsch, mehr über die NS-Diktatur, den Holocaust und die unmittelbare Nachkriegszeit zu erfahren, kann so - durchaus auch mit regionalem Bezug - ihr Vorwissen kognitiv gefestigt und erweitert werden.

Darüber hinaus üben und festigen die Lernenden die zentrale fachliche Fähigkeit des Umgangs mit Schriftquellen. Gerade das Sinn entnehmende und kritische Lesen ist angesichts der sich wandelnden Lese- und Schreibkultur (Stichwort: Fake News) umso wichtiger geworden. Neben fachspezifischen Kompetenzen, wie der Quellenkritik, Kontextualisierung und Interpretation, kann z.B.in der Auseinandersetzung mit Behördenschriftgut auch die Sensibilisierung für eine entlarvende euphemistische NS-Sprache geschult oder die Inhumanität administrativer Vorgänge erkannt werden. Insofern bietet der ITS eine anspruchsvolle und vielfältige Gelegenheit zum historischen Lernen in aktiv-entdeckender Form durch Entwicklung eigener Fragestellungen, Anwendung analytischer Fähigkeiten, Entwickeln von Problemlösungsstrategien und Ausbildung eines Historizitäts- sowie Gegenwartsbewusstseins(Wahrnehmungs-, Analyse-, Urteils- und Orientierungskompetenz).

Am Ende des eigenständigen, kooperativ-mitbestimmten und reflektierenden Lernens sollte ein gemeinsames - ggf. bewertbares -Produkt stehen (narrative Kompetenz): Gedenkrede, Erinnerungstafel, Ausstellungsvitrine, Video, Website, Geschichtszeitung, Schulbuchkapitel, Referat, Plakat, etc.pp.

Plädoyer für die schulische Arbeit mit (ITS-)Archivgut

Allgemein ist eine stärkere unterrichtliche Einbeziehung der vorhandenen Archive, Gedenkorte bzw. -stätten, Museen, Bibliotheken usw. zu begrüßen, denn dort wird ein entdeckendes und erfahrungsbezogenes Lernen am konkreten historischen Beispiel ermöglicht.

In concreto hat sich aus schulpädagogischer und fachdidaktischer Perspektive die Kooperation mit dem ITS sehr bewährt. Über den normalen Schulbuch- und Arbeitsblattunterricht hinaus bietet sich hier die Chance, echte Neugier und detektivisches Gespür der Schüler_innen zu wecken und sie durch die Beschäftigung mit Quellenmaterial, das nicht didaktisch vorgefertigt ist, bei der Ausbildung fachlicher und überfachlicher sowie inhalts- und prozessbezogener Kompetenzen zu unterstützen. Im Rahmen dieser institutionellen Lerngelegenheit machen Lernende tatsächlich ein „schulisches“ Thema zu ihrem eigenen,erfahren historisches Arbeiten und beteiligen sich freiwillig intensiver.

 

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