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Vor- und Nachbereitung von Gedenkstättenfahrten auf Basis von Dokumenten aus dem ITS-Archiv: Das Projekt documentED

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Christian Höschler hat in München Geschichte, Anglistik und Erziehungswissenschaften studiert. Er ist stellvertretender Leiter der Abteilung Forschung und Bildung beim International Tracing Service (ITS) in Bad Arolsen.

Von Christian Höschler

Im Archiv des International Tracing Service (ITS) sind über 30 Millionen Dokumente verwahrt, die Informationen zum Schicksal von mehr als 17 Millionen Opfern der NS-Verfolgung enthalten. Darunter befinden sich auch Überlieferungen aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Dokumente zur Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs und Material aus der Zeit nach der Befreiung: neben Unterlagen, die von den Alliierten während der Besatzungszeit erstellt wurden, auch die jahrzehntelange Korrespondenz des ITS mit Überlebenden und ihren Angehörigen. Diese einzigartige Sammlung birgt großes Potential für die historisch-politische Bildungsarbeit.

Vor diesem Hintergrund entwickelt der ITS neue Angebote, die auf eine Vermittlung der Geschichte der NS-Verfolgung zielen. Ein neues Projekt mit der Bezeichnung documentED – ein Kofferwort aus documents und education – zielt beispielsweise auf die Vor- und Nachbereitung von KZ-Gedenkstättenfahrten auf Basis von Dokumenten aus dem ITS-Archiv.

Dieser Beitrag beschreibt das Konzept des Projekts, welches sich derzeit noch in der Anfangsphase befindet. Im Sommer 2018 wird documentED zunächst im Rahmen einer Testphase erprobt, an der sich mehrere Gedenkstätten im deutschsprachigen Raum beteiligen. Auf Basis der Erfahrungswerte, die dabei gesammelt werden, ist perspektivisch geplant, das Projekt ab 2019 als Dauerangebot des ITS zu verstetigen.

Grundidee

Nehmen wir an, eine Schulklasse plant den Besuch einer KZ-Gedenkstätte. Wie könnte die Lehrkraft diesen Besuch im Unterricht sinnvoll vorbereiten? Hier setzt das Projekt documentED an: Der ITS kooperiert dabei mit verschiedenen KZ-Gedenkstätten, die den ITS laufend über geplante Besuche von Gruppen informieren, für die eine Beteiligung an documentED interessant sein könnte. Der ITS wiederum stellt für diese individualisierte documentED-Pakete zusammen.

Hierfür werden im Digitalen Archiv des ITS Dokumente recherchiert, die einen Bezug zu Häftlingen aufweisen, welche ursprünglich aus der Region oder dem Herkunftsort der Jugendgruppe stammten. Beabsichtigt beispielsweise eine Schulklasse aus Jena den Besuch der KZ-Gedenkstätte Buchenwald, so kann der ITS in seinen Beständen gezielt Unterlagen zu Häftlingen des KZ Buchenwald heraussuchen, die aus Jena kamen.

Bei der Auswahl der Dokumente – typischerweise handelt es sich dabei um personenbezogene Unterlagen wie etwa Häftlings-Personal-Karte oder Fragebögen – werden die Anforderungen der pädagogischen Fachkraft bzw. die Bedürfnisse der jeweiligen Gruppe gezielt berücksichtigt. Wie viel Zeit steht für die Vorbereitung der Gedenkstättenfahrt zur Verfügung? Erfolgt der Besuch im Rahmen einer (Halb-)Tagesfahrt oder als Teil einer Projektwoche? Wie steht es um das Vorwissen der Lernenden mit Blick auf die Thematik der NS-Verfolgung? Was sind die definierten Lernziele? Soll im Nachgang zur Gedenkstättenfahrt auch die Möglichkeit bestehen, durch die Arbeit mit weiteren Dokumenten didaktisch an den Besuch des historischen Orts anzuknüpfen?

Bezug zur Lebenswelt der Lernenden

Wird der ITS bei seiner Suche nach geeigneten Dokumenten im Archiv fündig, resultiert hieraus im besten Fall ein doppelter Lokalbezug – nämlich sowohl zum Besuchs- als auch zum Herkunftsort. Anhand dieser Verbindung lässt sich direkt an die Lebenswelt der Schüler_innen anknüpfen.

Ist beispielsweise auf einer Häftlingspersonal-Karte aus dem KZ-Buchenwald die frühere Anschrift des Häftlings vermerkt, so ist diese den Lernenden vielleicht bekannt. Die Erkenntnis, dass die ehemals verfolgte Person aus demselben Ort stammte wie die Gruppe, die nun den historischen Ort der Inhaftierung besuchen wird, erzeugt aufseiten der Schüler_innen idealerweise ein genuines Interesse: Wer war dieser Mensch, der aus meiner Stadt kam? Aus welchen Verhältnissen stammte er, welchem Beruf ging er nach? Warum wurde er von den Nationalsozialisten verhaftet und in einem KZ inhaftiert? Hat er die Verfolgung überlebt? Wenn ja, wie sah sein Leben nach der Befreiung aus?

Die Informationen, die sich den im ITS-Archiv verwahrten Dokumenten entnehmen lassen, ermöglichen eine Auseinandersetzung mit dem konkreten Einzelschicksal. Davon ausgehend lässt sich aber auch an die strukturelle Geschichte der NS-Verfolgung anknüpfen. Diese Form des Einstiegs ist methodisch-didaktisch besser geeignet als beispielsweise die Lektüre langer Sachtexte, in denen die NS-Verfolgung zwar in all ihren Schrecklichkeiten beschrieben wird, aber über weite Strecken vielleicht abstrakt bleibt.

Kontextualisierung

Die meisten Unterlagen aus dem ITS-Archiv, die einen Bezug zu den nationalsozialistischen KZ haben, sind Täterdokumente. Sie wurden in einem spezifischen historischen Kontext verwendet, in diesem Fall in der KZ-Verwaltung. Weil solche Dokumente – man denke etwa an die Erfassung körperlicher Merkmale oder die Angabe der Haftkategorie – das menschenverachtende Weltbild der Nationalsozialisten spiegeln und mit Blick auf ihren Informationsgehalt hochproblematisch sind, können sie im Rahmen von Bildungsaktivitäten niemals für sich allein stehen. Stattdessen müssen die Dokumente, wenn sie im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommen, sorgfältig dekonstruiert und in ihrem jeweiligen Entstehungszusammenhang betrachtet werden. Den Schüler_innen soll klar werden, wer diese Dokumente zu welchem Zweck erstellt hat, und dass ihr Inhalt kritisch hinterfragt werden muss.

Aus diesem Grund stellt der ITS im Rahmen des Projekts documentEDnicht nur das reine Quellenmaterial zur Verfügung, sondern bietet auf seiner Website einen sogenannten e-Guide an, mit dem die Dokumente erklärt und in einen Kontext gestellt werden können. Der e-Guide, ein digitales Werkzeug, beschreibt die Form und Funktion der häufigsten Typen von Dokumenten, die im Archiv des ITS überliefert sind, darunter die gängigsten KZ-Unterlagen. Zentrale Fragen Wer hat das Dokument vor welchem Hintergrund erstellt? Was ist bei der Arbeit mit dem Dokument zu beachten?) werden umfassend und zugleich in einfacher Sprache beantwortet.

So können Schüler_innen auch ohne umfassendes Vorwissen mit den Dokumenten arbeiten, weil ihnen das entsprechende Kontextwissen zur Verfügung gestellt wird bzw. sie sich dieses selbstständig erarbeiten können. Einerseits soll so verhindert werden, dass aus den Täterquellen falsche Schlussfolgerungen gezogen werden, andererseits ermöglicht dieses Vorgehen aber insbesondere ein forschend-entdeckendes Lernen, wodurch Schüler_innen die Chance haben, quellenkritische Kompetenzen zu erwerben.

Didaktische Hinweise

Neben den Dokumenten und dem e-Guide stellen didaktische Hinweise den dritten Baustein der documentED-Pakete dar. In begleitenden Texten, die sich an die pädagogische Fachkraft richten, kommen grundlegende Aspekte zur Sprache, die aus Sicht des ITS beim didaktischen Einsatz der Dokumente zu beachten sind.

So ermöglicht die Arbeit mit personenbezogenen Unterlagen zur NS-Verfolgung und ihrer Konsequenzen eine Begegnung mit Einzelschicksalen. Das sich daraus ergebende Bild bleibt jedoch notwendigerweise lückenhaft; eine Rekonstruktion eines vollständigen Verfolgungsweges oder einer umfassenden Biografie) ist nicht möglich. Dem lässt sich zwar entgegenhalten, dass die damit einhergehenden Potentiale des forschenden Lernens einen entscheidenden Vorteil darstellen. Trotzdem können fehlende Informationen und inhaltliche Leerstellen – teilweise auch aufgrund widersprüchlicher Angaben auf den Dokumenten – bei den Schüler_innen für Verständnisprobleme sorgen und sich negativ auf die Motivation bzw. den erwünschten Lernerfolg auswirken.

Auf entsprechende Reaktionen seitens der Gruppe sollte die Lehrkraft deshalb vorbereitet sein, indem sie zum einen auf den fragmentarischen Charakter der Dokumente verweist – eine zentrale Erkenntnis im Zusammenhang mit der Quellenkritik – und die Schüler_innen zugleich anregt, weiterführende Forschungen anzustellen. Denkbar wäre hier vor allem die Recherche in lokalen Archiven, um mehr über die Biographie der ehemals Verfolgten bzw. allgemein die Geschichte der NS-Verfolgung am Herkunftsort zu erfahren. Alternativ könnten sich die Lernenden auch mit ITS-Dokumenten aus der Nachkriegszeit (beispielsweise aus den alliierten Displaced Persons Camps) befassen, um die Erkenntnisse, welche im Zusammenhang mit dem Gedenkstättenbesuch erworben wurden, in einen breiteren Kontext einzuordnen. Diese und weitere Punkte, die für die Arbeit mit Dokumenten aus dem ITS-Archiv von Bedeutung sind, werden im Rahmen von documentED differenziert, aber in überschaubarem Umfang, erläutert.

So stellen die documentED-Pakete nicht nur maßgeschneiderte Materialsammlungen mit wertvollen Kontextinformationen dar, sondern haben zugleich den Charakter einer leicht verwendbaren Handreichung für jede pädagogische Fachkraft, die Quellenmaterial zur Geschichte der NS-Verfolgung gewinnbringend im Zusammenhang mit Gedenkstättenfahrten einsetzen möchte.

 

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