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Bodo von Borries (2011): Geschichtslernen und Menschenrechtsbildung. Auswege aus einem Missverhältnis? Normative Überlegungen und praktische Beispiele. Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts., 350 S.

Von Lucas Frings

Mit seiner Monografie will Bodo von Borries einen Bereich beleuchten, der, zumindest bei Erscheinen des Buches 2011, in der historischen Fachdidaktik verhältnismäßig selten bearbeitet wurde, den der „normativen Fundierung“ (S.11) von Geschichtslernen. Wo zuvor auch durch ihn selbst, die Theorie (Geschichtsbegriff, historische Identität), die Empirie (Kenntnisse der Lernenden, Unterrichtsgestaltung) und die Pragmatik (Überwindung einer europäisch-patriarchalen Geschichtsvermittlung, neue Felder wie Geschlechter- oder Kolonialgeschichte) den Großteil der Veröffentlichungen bestimmt hätten, seien normative Fragen lange nicht gestellt worden. Eine Diskussion wie in der Politikdidaktik, die zum Beutelsbacher Konsens führte, sei in der Geschichtsdidaktik weitestgehend ausgeblieben. (Vgl. S.12) Angesichts von neuartigen Kriegen und Kriegsinterventionen sowie Konflikten wie Terrorismus brauche es eine „Diskussion der normativen Bedingungen und Entscheidungen des Geschichtslernens“ (S.12).

Die Geschichte der Menschenrechte betrachtet von Borries multiperspektivisch und bietet so einen äußerst erfrischenden Zugang, der sich von einer trockenen Chronologie abhebt. Zwischen vier Varianten – „bürgerlich-aufklärerisch“, „abendländisch-europäisch“, „multikulturell-universalistisch“ und „antitotalitär-zeitgeschichtlich“ – unterscheidend, macht er deutlich wie unterschiedlich Menschenrechte gelesen werden können und wie kontrovers und prozesshaft sie dabei sind.

Menschenrechte und Geschichtsunterricht als Spannungsfeld

Im dritten Kapitel widmet sich von Borries den Problemfeldern bzw. den Dilemmata und Fallen von Menschenrechtsbildung. Neben der schon zuvor aufgeworfenen Frage ob Menschenrechte auch für Menschenrechtsgegner gelten sollen, zeigt sich hier der Konflikt zwischen einem zeitlosen, universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte und den historischen, kulturellen Unterschieden bei Entstehung und Anwendung dieser. Auch den Widerspruch zwischen Anspruch und realpolitischer und juristischer Durchsetzungsmöglichkeit nimmt von Borries ihn den Blick, etwa die Komplexität bei der Umsetzung von der Denknotwendigkeit aus über eine programmatische Forderung, eine Zuständigkeitsbenennung bis hin zum tatsächlichen Erhalt eines Menschenrechts. Diese Komplexität führt zu einem langen Prozess, der manchmal erst einsetzen kann wenn eine Menschenrechtsverletzung bereits beendet ist. So konstatiert von Borries zu „ethnic cleansing“: „Verboten sind nur aktuelle und scheiternde Vertreibungen. Die vergangenen erfolgreichen gehören zum gesicherten Bestand und zu den notwendigen Kosten des nation-building.“(S.48)

Als Fallen von Bildungsarbeit mit und zu Menschenrechten nennt von Borries u.a. die Gefahren der einsetzenden Frustration bei der (notwendigen) Beschäftigung mit Verbrechen und Verstößen und der Überforderung durch Emotionalisierung. Der Frage nach einem Beitrag historischer Bildung für die Menschrechtsbildung nähert sich von Borries mit empirischen Studien und eigenen Konzeptvorschlägen, etwa zum Geschichtslernen in der „Einwanderungsgesellschaft“ über die „Nahweltgeschichte als Orientierungshilfe“ (S.65) oder die Thematisierung wer „die Deutschen“ waren und sind. Das Lernen über Geschichte, über die Kämpfe für Menschenrechte biete u.a. den Vorteil der heutigen Situation von als unumstrittenen, beizeiten überwältigend normativ aufgeladenen, dargestellten Menschenrechten einen Gegenpol zu bieten. Die Streitbarkeit der Menschenrechte in historischen Beispielen könne sie konkreter und greifbarer für die Bildungsarbeit machen.

Fallstudien zu einzelnen Menschenrechten

Den Hauptteil der Arbeit bilden fünf Fallstudien zur Herausbildung und Durchsetzung von einzelnen Menschenrechten, beispielhaft an Ereignissen zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten beleuchtet und in Bezug zur Perspektive von Lernenden gesetzt. Vorgestellt werden Studien zu Freizügigkeit (Diskriminierung deutscher Einwanderer_innen in den USA, „Armenienmassaker“(sic!) ab 1915 und Internierung von Japaner_innen in den USA 1942/1945), Gleichberechtigung (Frauenrechte, Eheformen als Menschenrechtsproblem? und Geschlechterkampf um 1900), Soziale Sicherheit (Sozialistischer Staat der Inka, das Märchen „Von den Fischer und siine Fru") und Natur-und Umweltschutz (Umweltdenken im Alten China, Waldsterben, Industrialisierung der Landwirtschaft).

An dieser Stelle soll die Fallstudie zu persönlicher Freiheit als Menschenrecht am Beispiel von Sklaverei näher vorgestellt werden. Für die Subjektseite stellt von Borries fest, dass es in der Gesellschaft und bei Jugendlichen wenig Bewusstsein für die historischen Dimensionen der Sklaverei gibt. Auf der Objektseite, den Beispielen, schlägt von Borries zuerst eine Beschäftigung mit Sklaverei und Kritik an dieser in antiken Quellen vor und stellt u.a. Aristoteles Erklärung zur Natürlichkeit und Notwendigkeit von Antike einen Text aus der Philosophenschule der Stoa gegenüber. Das zweite Beispiel besteht aus Reportagen und Autobiografien zu Leibeigenschaft im 18./19. Jahrhundert im russischen Zarenreich. Anhand von mehreren längeren Zitaten russischer Dichter, Adliger und Leibeigenen diskutiert von Borries hier die Verwertbarkeit von derartigen Zeugnissen, die eine Quellenkritik notwendig machen um die Position der Autor_innen in Machtgefügen deutlich zu machen. Für das dritte Beispiel widmet sich von Borries aktuellen Comics zu Sklaverei und „Sklaven-Widerstand“. Abschließend beschreibt der Autor seine Beobachtungen aus dem Schulunterricht zum Thema, die in ihrer Kürze leider ein eher dünnes Bild von den Chancen des Ansatzes geben können. 

Der letzte Teil der Monografie geht auf Hindernisse bzw. neuralgische Punkte bei Menschenrechtsbildung mit historischen Beispielen ein. Neben den Herausforderungen des Lernorts Schule an dem Lernen nur bedingt ein selbstgewähltes Ziel der Lernenden ist und der selten ausreichend Zeit für eine angemessene Bearbeitung von Menschenrechten bietet, benennt von Borries erwartbare Schülertaktiken zur Abwehr von Lerninhalten. Er betont erneut wie wichtig eine Anwendung des Beutelsbacher Konsens mit seinem Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot für die Bearbeitung von Menschenrechten sei, und dass es sei diesen auch im Geschichtsunterricht anzuwenden.

Fazit

Von Borries widmet sich insbesondere eingangs philosophischen und hochpolitischen Fragen. Dabei gelingt es ihm diese nicht zu banalisieren und dennoch gut verständlich darzulegen, zu diskutieren und auf Menschenrechtsdebatten zu beziehen. Mit seinen Fallstudien bietet er seiner Leser_innenschaft eine große Themen- und Methodenvielfalt und einen ausführlichen Einblick in die Chancen von historischen Beispielen in der Menschenrechtsbildung. Hoch anzurechnen ist dem Autor auch die vielschichtige, kritisch-produktive Betrachtung und Infragestellung seiner und fremder Vorschläge für die Menschenrechtsbildung. Wo immer Konzepte aussichtsreich erscheinen, werden auch Defizite und Fallstricke benannt. Vorgestellte Lernmodelle und Übungen lassen sich von Fachdidaktiker_innen übernehmen und weiterentwickeln, sind jedoch durch ihren steten Bezug auf die Diskussion um die Kontroversität und Widersprüchlichkeit von Menschenrechten, nicht nur für diese von Interesse.

 

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