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Wann endete in Polen der Kommunismus? Konkurrierende Deutungen der polnischen Transformationsgeschichte

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Florian Peters, Dr. phil., ist Historiker und arbeitet in der Berliner Forschungsabteilung des Instituts für Zeitgeschichte. Seit seiner Dissertation (Revolution der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtskultur des spätsozialistischen Polen. Berlin: Ch. Links 2016) befasst er sich mit Geschichtspolitik und Erinnerung in Polen. Gegenwärtig forscht er zu ökonomischen Leitbildern in der polnischen Transformationszeit. E-Mail: peters [at] ifz-muenchen [dot] de

Von Florian Peters

„Vor einer Woche endete in Polen der Kommunismus.“ Diese frohe Botschaft verkündete der damalige polnische Innenminister Mariusz Błaszczak seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern kurz nach Weihnachten 2017 im Radio. Auf den ersten Blick mag dieses Statement absurd erscheinen. Unter den Politikern und Anhängern der national-populistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) ist Błaszczak mit dieser Ansicht aber keineswegs allein. Sie vertreten ernsthaft die Position, erst mit den umstrittenen Justizreformen der gegenwärtigen Regierung seien die letzten Reste des Kommunismus aus dem polnischen Staatswesen getilgt worden. Um dessen Präsenz auch aus dem öffentlichen Raum der polnischen Städte und Gemeinden zu verbannen, erachtete das Regierungslager es sogar für notwendig, ausgerechnet am 1. April 2016 ein Gesetz zur Dekommunisierung von Straßennamen und Denkmälern zu verabschieden – obwohl es in Polen ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft weder an Denkmälern des polnischen Papstes Johannes Pauls II. noch an Piłsudski-Straßen mangelt.

Verständlich wird der antikommunistische Furor der polnischen Rechtsregierung erst, wenn man sich den tiefen Graben vor Augen führt, der die polnische Gesellschaft in der Deutung der jüngsten Vergangenheit in zwei Hälften spaltet. Der doppelte Übergang vom Staatssozialismus zur parlamentarischen Demokratie und von der Planwirtschaft zum Kapitalismus war für viele Menschen östlich der Oder mit schmerzhaften lebensweltlichen Einschnitten verbunden, die anders als in der ehemaligen DDR nicht durch milliardenschwere Sozialtransfers aus dem Westen abgefedert wurden. Dagegen konnten andere Polinnen und Polen die neuen Chancen für sich nutzen. Sie erlebten die Transformation als persönliche Erfolgsgeschichte. Deshalb stellen die Erfahrungen dieser Zeit bis heute einen emotional und politisch höchst aufgeladenen Gegenstand individueller und kollektiver Erinnerungen dar, die sich mit dem kontinuierlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts in den letzten beiden Jahrzehnten keineswegs erledigt haben.

Selbstbefreiung vom Kommunismus: Triumph oder Fehlschlag?

In der polnischen Öffentlichkeit stehen sich zwei Deutungen der Transformationsgeschichte unversöhnlich gegenüber: Die Liberalen verklären das Ende der Volksrepublik als Sieg der Freiheit über das sowjetische Joch. Der Runde Tisch zwischen Regime und Opposition sowie die ersten teilweise freien Parlamentswahlen am 4. Juni 1989 gelten ihnen als krönender Abschluss des Kampfes der demokratischen Oppositionsbewegung, der 1980 mit dem Streik auf der Danziger Leninwerft und der Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarność begonnen hatte. Dagegen wirft die national-populistische Rechte den linksliberalen Oppositionseliten vor, sie hätten am Runden Tisch gemeinsame Sache mit den Kommunisten gemacht und grünes Licht für die Selbstbereicherung der Nomenklatura gegeben. Die erhoffte antikommunistische Revolution sei durch diesen Verrat vereitelt worden und müsse nun endlich nachgeholt werden, und sei es nur symbolisch.
Beide Lager interpretieren das Ende des polnischen Staatssozialismus also als geradlinigen Weg einer nationalen Selbstbefreiung, in der Gorbatschows Perestrojka, die wirtschaftliche Implosion des Ostblocks und andere externe Einflussfaktoren allenfalls am Rande vorkommen. Die konkurrierenden Großerzählungen unterscheiden sich lediglich darin, dass sie die Selbstbefreiung vom Kommunismus einerseits als erreicht, andererseits als misslungen betrachten. Folglich behaupten nationalkonservative Historiker wie der von der PiS-Regierung berufene neue Chef des Instituts des Nationalen Gedenkens Jarosław Szarek, der Kommunismus habe seinen Untergang als politisches System doch irgendwie überdauert: „Nach 1989 wurde die Dekoration geändert, aber die Instrumente [der Macht] blieben in der Hand von Leuten des alten Systems.“

Da es der PiS-Regierung politisch zupass kommt, den liberalen Eliten der 1989 entstandenen Dritten Republik ihren angeblich fehlenden Bruch mit dem kommunistischen Unrechtsregime vorzuhalten, greift sie diese Deutung offensiv auf. Selbst Ikonen der demokratischen Opposition wie der Nobelpreisträger und spätere Staatspräsident Lech Wałęsa werden in den regierungstreuen Staatsmedien als Verräter attackiert. Im Falle Wałęsas wird dies durch jüngst aufgefundene Dokumente der polnischen Staatssicherheit erleichtert, die belegen, dass der damals 27-jährige, politisch unerfahrene Elektriker sich nach der blutigen Niederschlagung der Danziger Unruhen von 1970 kurzfristig auf eine Zusammenarbeit mit der Geheimpolizei einließ. Diese Episode aus den frühen 1970er Jahren wird nun benutzt, um die spätere politische Rolle des Gewerkschaftsführers zu diskreditieren. Auch der unter maßgeblicher Beteiligung Wałęsas am Runden Tisch ausgehandelte Kompromiss soll in diesem Lichte als Teil einer von den kommunistischen Geheimdiensten gesteuerten fassadenhaften Demokratisierung erscheinen.

Schocktherapie statt friedlicher Revolution

Allerdings erschöpft sich die konservative Version der Transformationsgeschichte nicht in verschwörungstheoretischen Mutmaßungen. Vielmehr greift sie einige augenfällige Widersprüche der triumphalistischen liberalen Erfolgsgeschichte auf. Diese lässt nämlich unter den Tisch fallen, dass die 1980 eingeforderte Solidarität und die 1989 errungene Freiheit eben doch nicht ganz genau dasselbe waren. Zwar rekrutierte sich die Regierung des ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki, die den politischen und ökonomischen Systemwechsel einleitete, überwiegend aus den intellektuellen Beraterkreisen der Solidarność. Zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht konnte sie sich aber nicht guten Gewissens auf deren ideelles Erbe berufen.

Denn die Solidarność von 1980/81 war alles andere als ein Lobbyverein angehender Kleinaktionäre, die nur darauf warteten, dass endlich der Kapitalismus in Polen Einzug halten würde. Ganz im Gegenteil: Als gewerkschaftliche Massenbewegung, die sich in erster Linie auf die Arbeiterschaft in der staatssozialistischen Großindustrie stützte, richtete sie sich gerade gegen die Ansätze einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, die im Laufe der 1970er Jahre durch die Wirtschaftspolitik der polnischen Kommunisten unter Edward Gierek entstanden waren. Zur Lösung der enormen wirtschaftlichen Probleme setzte sie nicht etwa auf Konkurrenz und Marktkräfte, sondern auf Kollektivismus und Verteilungsgerechtigkeit. Während die Privatisierung der staatlichen Industriebetriebe damals völlig undenkbar war, orientierte sich die Gewerkschaft an jugoslawischen Modellen der Arbeiterselbstverwaltung. Erst die Einführung des Kriegsrechts im Dezember 1981 machte diese Hoffnungen jäh zunichte.

Knapp acht Jahre später, nach dem überragenden Wahlsieg der demokratischen Opposition, waren die wirtschaftspolitischen Ideen von 1980/81 nur noch Erinnerungen aus grauer Vorzeit. Dass die aus der Opposition hervorgegangene Regierung Mazowiecki sich für die von Vizepremier Leszek Balcerowicz propagierte radikale Schocktherapie nach neoliberalem Muster entschied, mochte nach Lage der Dinge alternativlos gewesen sein oder auch nicht – es kam jedenfalls einem eklatanten Bruch mit dem Erbe der Solidarność-Bewegung gleich. Hinzu kommt, dass dieser Bruch nicht offen diskutiert, sondern über die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger hinweg vollzogen wurde. Anders als in der Tschechoslowakei oder der DDR ging der Systemwechsel in Polen ohne wesentliche Impulse von unten, ohne Massendemonstrationen und revolutionäre Aufbruchstimmung über die Bühne. Nicht ohne Grund spricht dort kaum jemand von einer „friedlichen Revolution“, wenn er den rasanten Wandel von 1989 meint. Die neuen demokratischen Eliten zeigten wenig Interesse an demokratischer Partizipation und Empowerment, wie der bekannte Publizist Marcin Król kürzlich in einer vielbeachteten Selbstkritik mit dem pointierten Titel „Wir waren dumm“ eingestand. So fühlten sich weite Teile der Gesellschaft beim Sprung ins kalte Wasser des neoliberalen Kapitalismus alleingelassen.

Nachholender Antikommunismus als Geschichtspolitik

Die inneren Widersprüche der liberalen Erzählung vom glorreichen Sieg über den Kommunismus und ihr Desinteresse an den vielfältigen Erfahrungen individuellen und kollektiven Kontrollverlusts während der Transformation machten es der national-populistischen Rechten leicht, sich die latente Sehnsucht nach sinnstiftenden Deutungsangeboten für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Indem sie den Zäsurcharakter von 1989 leugnet und die vermeintlich ausgebliebene antikommunistische Revolution symbolisch nachholt, spricht die PiS-Regierung keineswegs nur ökonomische Verlierer der Transformation an. Vielmehr kommt ihre Geschichtspolitik den durch den langjährigen Wirtschaftsboom gestiegenen Ansprüchen vieler Polinnen und Polen an kulturelle Deutungshoheit und kollektive Anerkennung entgegen.

Um die gegenwärtige politische Spaltung der polnischen Gesellschaft zu überwinden, führt deshalb kein Weg daran vorbei, sich sowohl von der liberalen Triumphgeschichte als auch vom nationalistischen Verratsmythos zu verabschieden. Ein vielschichtigeres Bild der Transformationszeit wird jedoch nichts daran ändern, dass der Kommunismus in Polen spätestens im Sommer 1989 politisch, wirtschaftlich und ideell am Ende war.

 

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