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Erinnerungskulturen? Was ist denn das genau?

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Die Autor_innen sind Studierende der Fächer Politik, Geschichte und Soziologie in Leipzig und Halle.

Von Kira Bartsch, Lea Guhlmann, Till Hovestadt, Stefan R. Schmid und Kristina Yanson

Vor dieser Frage standen wir, eine Gruppe von Studierenden aus Leipzig und Halle im Dezember letzten Jahres. Wir hatten uns dazu entschlossen an dem Seminar „Erinnerungskulturen zum Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust“ in Polen teilzunehmen. Eine internationale Jugendbegegnung mit Teilnehmer_innen aus Belarus, Polen und Deutschland sollte es werden - wie spannend! Zwei weitere Seminare sollten folgen - mit dem Ziel eine gemeinsame Publikation aus dem Projekt entstehen zu lassen. „Was für eine Chance!“, stimmten wir angehenden Geisteswissenschaftler_innen aus Mitteldeutschland uns gegenseitig zu und stiegen in den Zug nach Oświęcim.

Rückblende und Kommunikationsschwierigkeiten

Inzwischen ist es Januar 2018 und wir versuchen neben Prüfungsstress und Unialltag Gelegenheit dazu zu finden das Seminar Revue passieren zu lassen. Gar nicht so leicht! Schließlich gibt es in unserer Sechsergruppe so viele verschiedene Eindrücke zu verarbeiten. Wie und wo fängt mensch da am besten an?

Vielleicht ganz am Anfang: Unser einwöchiges Seminar begann in der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz/Oświęcim. An einem Sonntagabend lernten sich die Teilnehmer_innen nach langer Reise endlich kennen. Schnell wurde klar, dass dieser Workshop insbesondere für die Initiator_innen eine Herzensangelegenheit ist. Sie sprachen davon, dass es die Zivilgesellschaft war, die erste Annäherungen zwischen den Völkern nach dem Krieg ermöglichte. Bevor es bei uns zu Annäherungen kommen konnte, mussten zunächst einige Grundregeln festgelegt werden. Abseits der Frage, wie wir am besten kommunizieren sollten, wurde auch schnell deutlich, wie oft wir von ganz unterschiedlichen Dingen sprachen, ohne es überhaupt zu merken. Es mussten also Definitionen her. Irgendwann schwirrten uns jedoch allen von Begriffen wie „Erinnerungskultur“ und „Kollektivgedächtnis“ die Köpfe. Aber so merkwürdig all diese Theorien und Konstrukte auch wirken mochten, wir brauchten sie um uns gemeinsam verständigen zu können.

Die ersten Tage in Oświęcim – Realität prallt auf Unvorstellbares

Also: Erinnerungskulturen? Ein großer, wissenschaftlicher Begriff, an den wir uns bis jetzt nicht ganz herantrauen. Wir sprechen deshalb im Folgenden zunächst von Erinnerungsformen, die wir beobachtet haben. Wir wollen dabei besonders auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den „Ländergruppen“ eingehen. Schauen, ob sich unsere Art und Weise der Erinnerung an den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg im Laufe des Seminars verändert hat. Schließlich war es für viele von uns der erste Besuch in der Gedenkstätte Auschwitz. Ein Besuch den wir mit nervöser Spannung erwarteten.

In den ehemaligen Konzentrationslagern waren wir zwar zusammen, aber in Gedanken war jede_r allein. Im Schweigen blieben die Fragen hängen, vielleicht weil es kein Verstehen gab, kein Nachvollziehen und keine Erklärung zu dem Schrecken, der uns umgab. Ob es das überhaupt je geben wird? Immer wieder schossen uns Fragen durch die Köpfe: Was darf ich an diesem Ort denken, sagen und tun? An bedeutsamen Orten innerhalb der Lager, wie den Verbrennungsanlagen, wurde immer wieder um kurze Momente des Schweigens gebeten. Auch sonst wurde nicht viel geredet, ein beklemmendes Gefühl hatte sich in unseren Kehlen breitgemacht. Dagegen war die Stadt in der sich dieses Vernichtungslager befindet unerträglich lebhaft. Oświęcim gilt inzwischen als touristischer Ort, zieht das ganze Jahr über viele Besucher_innen an. Mit dem Verlassen des Geländes und der Rückkehr zur Begegnungsstätte setzte langsam das Leben wieder ein. „Alltag“ fühlte sich falsch und unangemessen an, war aber dennoch wichtig, um diesen lebensfeindlichen Ort hinter uns lassen zu können.

Die Weisheit mit Löffeln gefressen? Von wegen!

In der Aufbereitung wurde schnell klar, dass Teilnehmer_innen aller drei Gruppen ähnlich empfunden hatten. Deutlicher wurden die internationalen Unterschiede eher in den Diskussionen im Plenum. In Belarus wird beispielsweise vor allem der sowjetischen Soldaten gedacht. Es wird der Sieg über Deutschland im „großen vaterländischen Krieg“ gefeiert. Zu unserer Überraschung erzählten uns die belarussischen Teilnehmer_innen, dass der Holocaust hingegen während ihrer Schulzeit nicht gerade umfassend behandelt worden war. Bei den polnischen Teilnehmenden schien die Erinnerung an den Holocaust eng mit dem Gedenken an die polnischen Opfer des Zweiten Weltkrieges verbunden zu sein. Im aktuellen Diskurs wird Polen vorrangig als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt – eine eventuelle Mittäterschaft Polens soll gar nicht erst in Betracht gezogen werden. Jüngst wurde ein Gesetz verabschiedet, welches bei Gebrauch des Begriffs „polnische Vernichtungslager“ bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe bedeuten kann.

Diese Formen der Erinnerung kollidierten zunächst stark mit den unseren. Wir sahen uns in der Lage über die Erinnerungsformen der Anderen urteilen zu können, da wir das Gefühl hatten über eine vielleicht gelungenere Art des Gedenkens zu verfügen. Schließlich kamen wir aus Deutschland! Nicht nur Export- sondern auch Aufarbeitungsmeister. Das Gespräch mit der polnischen und belarussischen Gruppe machte aber deutlich, dass jede Form der Erinnerung nicht nur in einen persönlichen, sondern auch in einen kulturellen und politischen Kontext eingebettet ist. Auch Deutschland hatte und hat Probleme seine Vergangenheit zu bewältigen. So wurde eine weitgehende Aufarbeitung des Nationalsozialismus erst spät nach dem Krieg begonnen. Davon wissen nur wenige. Uns als ach-so-reflektierte Menschen darzustellen, war daher fehl am Platz. In der Diskussion fiel oft das Wort „Narrativ“, sozusagen ein Motiv der Erzählung. Letzten Endes ist Erinnerung ja auch nichts anderes als eine Geschichte, die wir uns selbst erzählen, um mit der Gegenwart leben zu können. Aber diese Erzählungen sehen überall anders aus. Mit dieser Erkenntnis brachen wir in die polnische Hauptstadt auf.

Drei Mal Erinnerungskultur in Warschau, bitte!

In einem heftigen Kontrast zur Gedenkstätte in Auschwitz stand das Museum des Warschauer Aufstands. Wir waren mit einer vollkommen anderen Form von Erinnerung konfrontiert. In dem Museum wird vor allem die Rolle der polnischen Heimatarmee in den Mittelpunkt gestellt. Das „Narrativ“ des Heldentums der aufständischen Rebell_innen begleitet die Besucher_innen durch das Gebäude. Von „Kollaboration“ oder „Antisemitismus in Polen“ ist dort nicht die Rede. Die permanenten Sound- und Licht-Effekte vermittelten eher den Eindruck eines 4D-Kinos als den eines Museums. Der Besuch dieses Museums verdeutlichte, dass Geschichte immer auch für politische Zwecke genutzt, wenn nicht sogar missbraucht werden kann. Polen erlebte den größten Teil des 20. Jahrhunderts unter Besatzung oder ausländischer Führung. Erst seit 1989 ist es wieder ein unabhängiger Staat. Dies spiegelt sich in der nationalen Erinnerungskultur wieder, die viel Wert auf patriotische Darstellung setzt.

Anders präsentierte sich das POLIN Museum der Geschichte der polnischen Jüdinnen_Juden. Hier wurde eine umfassende und differenzierte Sicht auf jüdisches Leben in Polen geworfen. Vor allem im zeitgenössischen Abschnitt der Führung wurde kritisch-reflektierend mit den Problemen umgegangen mit denen Jüdinnen_Juden noch heute in und aus Polen zu kämpfen haben.

Das Ringelblum-Archiv, welches wir zum Abschluss besuchten, zeigte die Perspektive der Juden und Jüdinnen aus dem Warschauer Ghetto. Wir betraten die Ausstellung und sahen als erstes eine Milchkanne in der die Ghetto-Insassen Zeitzeugenberichte versteckt haben. Als Beweis für die Nachwelt: Tagebucheinträge, Fotos, Zeichnungen, Kassenzettel, Rechnungen, Abschiedsbriefe, wütende Gebete. Wieder legte sich ein respektvolles Schweigen über die Gruppe. Dadurch, dass das Ringelblum-Archiv versucht keine wertende Haltung einzunehmen, sondern einfach die Dokumente zugänglich macht, lässt es die Opfer für sich selbst sprechen.

Eine gemeinsame Erinnerungskultur…

Letztlich merkten wir, dass es falsch ist, ein „Wir“ oder „Die“ aus der Erinnerung zu machen. Bei Erinnerung sollte es nicht darum gehen sich selbst zu definieren oder zu profilieren. Sie ist kein Wettbewerb. Erinnerung sollte Respekt, Gedenken und Lernen bedeuten. Zudem wurden uns auch die Schattenseiten unserer eigenen Art der Erinnerung bewusst. Beispielsweise wird in Deutschland kaum vom Genozid an den Sinti und Roma während des Nationalsozialismus gesprochen - viele Widerstandsgruppen galten noch lange nach dem „Dritten Reich“ als kriminell. Dass Deutschland mit seinem Aufarbeitungsprozess noch lange nicht abgeschlossen hat, mussten wir uns immer wieder bewusstmachen. Der internationale Austausch vor Ort lehrte uns, dass wir viel voneinander lernen können und müssen und dass Erinnerung sich von nationalstaatlichen Standpunkten lösen sollte. Gemeinsam haben wir ein vollständigeres Bild von Geschichte.

…und noch viel mehr

Ende Januar hat uns Liza, eine der belarussischen Teilnehmerinnen in Leipzig besucht. Das Seminar hat uns nicht nur inhaltlich bereichert, es hat auch zu internationalen Freundschaften geführt. Mit Liza kam das Gespräch schnell wieder auf die Erfahrungen des Seminars. Wir merkten, wie schnell die Eindrücke vom Alltag verdrängt wurden. Dennoch haben uns das Seminar und der Besuch in Auschwitz tief bewegt und zum Nachdenken angeregt - wir freuen uns auf den folgenden Teil in Minsk und sind gespannt tiefer in die belarussische Erinnerungskultur eintauchen zu dürfen.

 

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