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Sachquellen in der Sammlung der Gedenkstätte Bergen-Belsen und die Tablet Application

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Stephanie Billib hat Geschichte und Englische und Amerikanische Literaturwissenschaft studiert. Seit 2009 ist sie in der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Seit 2014 leitet sie das Projekt „Digitale Strategien“ der Gedenkstätte Bergen-Belsen innerhalb des Forschungsprojektes Accessing Campshares: Inclusive Strategies for Using European Conflicted Heritage im Rahmen der Humanities in the European Research Area der EU.

Von Stephanie Billib

Der Bestand der Sachquellen in der Sammlung der Gedenkstätte Bergen-Belsen stellt einen wichtigen Fundus für den Einsatz in der Tablet Application dar.

Schon lange gab es von Seiten der Besucher_innen den Wunsch nach einer besseren Sichtbarkeit von Lagerstrukturen im Gelände und gleichzeitig eine Skepsis der Mitarbeiter_innen gegenüber plakativ-illustrativ verwendeten Hilfsmitteln oder gar dem Wiederaufbau von zum Beispiel einer Holzbaracke. Auch die jetzige Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes und das dazugehörige Besucher_innenleitsystem stellen gerade für junge Besucher_innen nur einen unzureichenden Zugang zur Geschichte des Ortes dar.

Eine Lösung entstand ab 2012 in einer zunächst als Videoinstallation erarbeiteten digitalen Rekonstruktion der Lagertopografie, die dann auch den Kern der Tablet Application bildete. Hierbei handelt es sich um ein kombiniertes Angebot aus Karten- und 3D-Ansichten, die wahlweise im Virtual Reality- oder Augmented Reality -Modus dargestellt werden. Der Raum des Lagergeländes ist der Bezugs- und Ausgangspunkt unseres Zugangs, mit dem eine Orientierung im Gelände und eine räumliche Vorstellung der topografischen Strukturen erleichtert werden. Die grafische Darstellung ist dabei bewusst abstrakt gehalten.

Darüber hinaus sind in der Application georeferenzierte Informationen hinterlegt, die bei der Erkundung des Geländes aufgenommen werden können. Dabei handelt es sich um verschiedene Quellen, wie beispielsweise Tagebuchausschnitte, Dokumente, Fotos, Zeichnungen oder Audiosequenzen aus Interviews. Kontextinformationen bieten für die Quellen einen Rahmen. Das Konzept der Tablet Application soll dem Nutzenden ermöglichen, den Raum des ehemaligen Lagers mit von den eigenen Interessen und Fähigkeiten bestimmten Informationsangeboten wahrzunehmen.

Anstelle einer linearen und damit weitgehend vorgegebenen Anleitung und Führung ist der Nutzende vor die Notwendigkeit gestellt, aus dem non-linearen Angebot des Inhalts selbst auszuwählen. Die Entwicklung der Tablet Application ist bisher vorrangig für die Nutzung mit betreuten Gruppen erfolgt, oftmals sind dies Schul- oder Universitätsgruppen. Eine wichtige Funktion hat dabei der Betreuende der Gedenkstätte, der immer wieder Inhalte der Application mit Informationen der Ausstellung oder eigenem Wissen verschränken kann. Die Teilnehmenden arbeiten mit den Tablets in Kleingruppen von zwei bis drei Personen und sind so von Beginn an darauf angewiesen, die Entscheidungen für den gewählten Weg und die Dokumente immer wieder untereinander abzustimmen. Die Tablet Application wird in der Regel im Rahmen eines mindestens eintägigen Programms verwendet, dessen Ablauf einem festen Konzept folgt, um sicherzustellen, dass der Einsatz der Tablets klar in die Wahrnehmung des heutigen Ortes und die Auseinandersetzung mit historischen Geschehnissen im Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager Bergen-Belsen eingebettet ist. Die eigenständige Geländeorientierung benötigt etwa eine Stunde Zeit, sodass erst in einem zeitlich längeren Angebot eine vertiefende Beschäftigung mit den verschiedenen Bereichen und Aspekten des Ortes gewährleistet werden kann.

Ein wichtiger Gedanke bei der Entwicklung der Tablet Application mit unseren Kooperationspartnern der SPECS research group an der Universität Pompeu Fabra, Barcelona, war die Überlegung, die Application als ergänzendes Werkzeug zu den weiteren Elementen des Informationsangebots der Gedenkstätte Bergen-Belsen zu konzipieren. Es sollte keineswegs ein Ersatz für den Besuch der Ausstellung oder eine Führung sein. In der Application sollen hingegen Informationen aus der Ausstellung wiederholt und mit dem ehemaligen Lagergelände in Beziehung gebracht werden. Bild- und Textelemente werden wieder aufgegriffen und im Gelände dort platziert, wo der oder die Nutzer_in einen räumlichen Bezug zu den Inhalten der Dokumente herstellen kann. So sind verschiedene Sachquellen in der Anwendung eingesetzt, die zum Teil auch in der Ausstellung präsentiert werden, aber auch und gerade solche, die dort nicht gezeigt werden. Neben Fundstücken vom Gelände bieten vor allem persönliche Gegenstände, die der Gedenkstätte von Überlebenden oder Angehörigen überlassen wurden, die Möglichkeit einer Verknüpfung von konkreter Sachinformation und örtlichem Bezug. Dies gilt ähnlich für andere historische Originalobjekte wie etwa Dokumente der Verwaltung, z.B. Transportlisten oder Sterbebucheinträge der SS oder von Häftlingen. Wichtigste und größte Sachquelle für die Tablet Application ist natürlich der geografische Raum des Lagergeländes selbst, den sich der Nutzende mithilfe der Anwendung erschließt.

Nachdem zu Beginn Fotografien aus den Tagen nach der Befreiung und Texte oder Zeichnungen von Häftlingen genutzt und in der Anwendung räumlich verortet wurden, kamen in einem nächsten Schritt vielfach Abbildungen von Objekten hinzu, die zumeist von Textpassagen aus Interviews ergänzt werden. Schon solche Abbildungen von Objekten und ihre Geschichten wirken stark auf die Nutzenden und werden oftmals bei den selbstbestimmten Erkundungen des Geländes angesteuert. Sie scheinen persönliche Geschichten zu transportieren und überwinden somit die scheinbare Distanz des parkähnlichen Geländes zu den historischen Ereignissen des Ortes. So wurden mithilfe der Tablet Application die Handschuhe von Yvonne Koch an einer Küchenbarracke des Frauenlagers verortet und mit dem Textausschnitt ihres Interviews ergänzt. Beides ist auch in der Ausstellung präsentiert und kann nun vom Besuchenden jeweils wiederentdeckt werden. Koch war als Elfjährige allein in Bergen-Belsen und erhielt die gestrickten Handschuhe von einer fremden Frau bei der Küchenbarracke.
Eine denkbare Fortführung könnte in der Einbindung dreidimensionaler Reproduktionen in die Darstellung bzw. in das Gelände liegen. Dies ist jedoch zurzeit noch nicht konzeptionell weiterentwickelt.

Eine Chance stellt die Tablet Application darüber hinaus für Quellenbestände dar, die in der derzeitigen Ausstellung keine Berücksichtigung fanden. So bietet beispielsweise der Bestand an Audiointerviews die Möglichkeit, auditive Elemente anzubieten, persönliche Erlebnisse zu erzählen und die Eindrücke mehrerer Sinne zu verbinden und somit die Wahrnehmung zu intensivieren. Grundsätzlich ist wichtig, dass die Inhalte der Sammlung umfassend digitalisiert werden, um ihre Einbindung in die verschiedenen Vermittlungsangebote und -formen zu ermöglichen. Nur so können Objekte gut geschützt und bewahrt werden und zugleich von Besuchenden als Zeugnisse wahrgenommen und reflektiert werden.

In dem flexiblen Instrument der Tablet Application ist es für die Kurator_innn darüber hinaus auch möglich, transparent mit bestehendem Wissen umzugehen. Anhand eines Fundobjekts vom Gelände lässt sich zum Beispiel der Verlauf einer Recherche sichtbar machen. So kann der oder die Besucher_in nachvollziehen, wie aus einem ersten Rechercheerfolg neue Fragen und Ungewissheiten entstehen, die manchmal nicht gelöst werden können und dadurch das Objekt für eine ‚einfache’ Präsentation in einer Ausstellung wenig geeignet machen. Der non-lineare Charakter der Anwendung ist dabei besonders gut geeignet, Informationen zum historischen Ort anzubieten und zugleich verschiedene Wissensstände zu zeigen und dem Nutzenden den Blick auf die Arbeit der Gedenkstätte zu gewähren. Ein Beispiel in der Application ist hierfür ein Trinkbecher, der in der Nähe eines Löschwasserbeckens gefunden wurde. Aufgrund der kyrillischen Gravur konnte der Becher Viktor Adasjew zugeordnet werden. Adasjew war selbst nicht in Bergen-Belsen inhaftiert, er wurde 1945 im KZ Dachau befreit, wie die Recherche ergab. Wie sein Becher nach Bergen-Belsen kam, ist unklar.

Aus den Rückmeldungen der Besuchenden wird deutlich, dass bei der Nutzung der Tablet Application gerade die Orientierung im Gelände und die Wahrnehmung der räumlichen Dimensionen ausgesprochen positiv bewertet wird. Die Möglichkeit, durch die 3D-Darstellung der Rekonstruktion den heutigen Zustand des Geländes mit der architektonischen Situation zweier Zeitpunkte aus der Lagerzeit vergleichen und einen Eindruck der räumlichen Situation erhalten zu können, versetzt die Nutzenden in die Lage, das Gelände deutlich als Zeugen der Lagergeschichte wahrzunehmen. Die Tatsache, dass das ehemalige Lagergelände heute ein Friedhof ist und daher seit seiner Gestaltung als Friedhofslandschaft weitgehend nur landschaftsgestalterisch verändert wird, macht es schwierig, topografische Strukturen der Lagerzeit wahrzunehmen. Durch den Einsatz einer virtuellen Rekonstruktion entsteht nunmehr eine Brücke für die räumliche Vorstellung, die zugleich das Gelände als Friedhof achtet.

 

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