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Workshopbericht: „Der Widerstand von Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus und seine Bedeutung für die Gegenwart“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von Tobias von Borcke, Guillermo Ruiz Torres, Stefanie Steinbach

Der Widerstand von Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus und seine Bedeutung für die Gegenwart“ lautete das Thema eines eintägigen Workshops, der im Mai 2017 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand stattgefunden hat. Realisiert wurde die Veranstaltung als Kooperation zwischen dem Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Amaro Foro e.V. und Sozialfabrik e.V..

Am 16. Mai 1944 widersetzten sich Sinti und Roma im »Zigeunerfamilienlager« im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau der »Auflösung« dieses Lagerabschnitts. Damit verhinderten sie die für diesen Zeitpunkt geplante Ermordung der Häftlinge durch die SS. Bis heute ist dieser Akt des Widerstandes einer breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Insbesondere Selbstorganisationen von Roma und Sinti erinnern an diesem Tag allerdings bereits seit einigen Jahren daran, dass die Verfolgten keineswegs bloß passive Opfer waren. Sie haben auf unterschiedliche Arten Widerstand geleistet, um ihre Würde gekämpft oder sich dem Verfolgungsapparat entzogen.

Die etwa 70 Teilnehmer_innen diskutierten vor allem über Formen, Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes von Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus wie auch über die Frage, was dieser Teil der Geschichte für uns heute bedeuten kann. Außerdem wurde die Frage thematisiert, warum der 16. Mai als Gedenktag erst langsam an Bedeutung gewinnt und inwieweit Sinti und Roma heutzutage Widerstand gegen antiziganistische Vorurteile und Übergriffe leisten müssen. Wie drückt sich dieser aus und ist der Begriff Widerstand in diesem Zusammenhang passend?
Zu Beginn des Workshops konnten alle Interessierten optional an einem geführten Rundgang durch ausgewählte Teile der Dauerausstellung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand teilnehmen.

Nach einleitenden Worten von Prof. Dr. Johannes Tuchel (Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand) ging Romani Rose (Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma) in seinem Grußwort auf die verschiedenen Facetten des Widerstandes von Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus ein. Er würdigte insbesondere die Bedeutung des 16. Mai 1944. Für Romani Rose ist die Geschichte des Widerstandes nicht zuletzt Teil seiner Familiengeschichte, hat sich doch sein Vater Oskar Rose bemüht, die katholische Kirche zum Beistand für die verfolgte Minderheit zu bewegen. Ein Versuch, bei Kardinal Faulhaber vorzusprechen blieb erfolglos – in seinem Tagebuch vermerkte Faulhaber hierzu: „Nein, kann keine Hilfe in Aussicht stellen.“ Romani Rose sieht in diesem Tagebucheintrag „ein Sinnbild für das moralische Versagen der damaligen Kirchenführung“. Die Tagung solle dazu beitragen, „das Bewusstsein von der Bandbreite des Widerstands von Sinti und Roma unter der Nazi-Diktatur zu schärfen“, denn:

„Zur Geschichte des Holocaust an unserer Minderheit gehört auch der verzweifelte Mut derer, die selbst in ausweglosen Situationen ihren Mördern getrotzt haben. Diesem existentiellen Ringen um Selbstbehauptung gebührt unser Respekt und ein Platz in unserem historischen Gedächtnis.“

Die Auseinandersetzung mit dem Widerstand von Sinti und Roma ist dabei in wissenschaftlicher Hinsicht alles andere als einfach, liegen doch kaum systematische Forschungen zu diesem Thema vor. Der Vortrag von Tobias von Borcke (Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma) war auch der Versuch einer Bestandsaufnahme und nahm unter anderem politisch motivierten Widerstand von Angehörigen der Minderheit sowie Versuche, sich dem zunehmenden Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben zu widersetzen und den Überlebenskampf in den Konzentrations- und Vernichtungslagern in den Blick. Die Beteiligung von Roma und Sinti am bewaffneten Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland – sei es als Partisan_innen in besetzten Ländern, sei es als Teil der alliierten Armeen – kam ebenso zur Sprache wie das Thema des Rettungswiderstandes. Im zweiten Teil des Vortrags ging es um gegenwärtige Bezugnahmen auf den historischen Widerstand. Dürfte das Thema gesellschaftlich kaum bekannt sein, hat es für Selbstorganisationen schon seit längerer Zeit einen großen Stellenwert und gerade im europäischen Rahmen setzt sich der 16. Mai als Gedenktag zunehmend durch. Gedenken wird dabei in der Regel nicht bloß als eine Beschäftigung mit Geschichte verstanden, sondern ist unmittelbar für die Gegenwart von Bedeutung. Das Vorbild des historischen Widerstandes wird als Inspiration für den Kampf gegen heutige Formen von Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung gesehen.

Im Anschluss an den Impulsvortrag wurden zwei Arbeitsgruppen gebildet. In der Arbeitsgruppe „Zeugnisse des Widerstandes“ standen die Möglichkeiten und Grenzen der Bildungsarbeit mit historischen Quellen zum Widerstand von Sinti und Roma im Vordergrund.

Dr. Christine Müller-Botsch und Dr. Stefanie Steinbach (beide Gedenkstätte Deutscher Widerstand) stellten sowohl den Ausstellungsbereich wie auch die hauseigenen Bildungsmaterialien der Gedenkstätte Deutscher Widerstand zum Themenbereich vor. Zusätzlich wurde exemplarisch die biografische Mappe zum sinto-deutschen Boxer Johann Trollmann vorgestellt. Die Mappen werden in den Seminaren der Gedenkstätte eingesetzt und enthalten jeweils den lebensgeschichtlichen Kontext, Bildmaterial und Informationen zur Widerstandsaktion der betreffenden Person. Tobias von Borcke stellte einige ausgewählte Quellen zum Widerstand von Sinti und Roma vor und bezüglich ihrer historischen Aussagekraft zur Diskussion. Was können uns die historischen Dokumente heute sagen und wie müssen sie interpretiert werden? Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Tatsache dar, dass viele überlieferte Quellen die Sicht der Täter_innen wiedergeben und der Blick auf die Verfolgten entsprechend verzehrt und stereotyp ist. Aber auch der Umgang mit den Berichten von Überlebenden ist nicht immer einfach. Vor diesem Hintergrund bedarf die Arbeit mit historischen Quellen in der Bildungsarbeit einiger Reflexion.

In der zweiten Arbeitsgruppe diskutierten die Teilnehmenden unter der Leitung von Guillermo Ruiz (Sozialfabrik e.V.) und Dr. Álvaro Rodríguez (Amaro Foro e.V.) über das durch die beiden Vereine realisierte Filmprojekt „16. Mai: Erinnerung, Identität, Selbstbestimmung“. Das Projekt dreht sich um die historische Bedeutung des 16. Mai und lässt verschiedene Jugendliche – Roma und Nicht-Roma – sowie einige Personen des politischen und kulturellen Lebens in Berlin zu Wort kommen. Sie wurden zu ihrer Meinung in Bezug auf die aktuelle Bedeutung von „Widerstand", zu Minderheiten, kultureller Identität, dem Kampf um Anerkennung, politische Beteiligung und Erinnerung befragt.

Diskussionsbeiträge und Erfahrungsaustausch

Viel diskutiert war die Frage, warum der Widerstand der Sinti und Roma gegen die Nationalsozialisten sowohl innerhalb der Minderheit als auch in der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist.
Einige der Teilnehmer_innen erläuterten, dass nach Ende des Zweiten Weltkrieges zahlreiche ehemalige Anhänger_innen beziehungsweise aktiv an Verbrechen der Nationalsozialisten Beteiligte in Schlüsselpositionen in der Gesellschaft und im Staat – z.B. im Polizeidienst, in Schulen oder Ministerien – verblieben waren. Auch die späte Anerkennung des Genozids an den Sinti und Roma durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahre 1982 verzögerte die Thematisierung des Widerstandes über Jahrzehnte.

Ein Nachkomme von Überlebenden einer Sinti-Familie berichtete, dass in seiner Familie über den Genozid lange nicht gesprochen wurde. Seine Eltern hätten es erst geschafft, mit ihren Enkelkindern darüber zu reden. Durch die aktive Mitarbeit in der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma sei auch deren Widerstand gegen den Nationalsozialismus in seiner Sinti-Gemeinde thematisiert worden.

Anwesende Roma aus Rumänien berichteten, dass sie erlebt hätte, dass ihre Lehrer das Gespräch über den Genozid an den Roma während der nationalsozialistischen Okkupation in Rumänien an der Schule vermieden hätten.

Ein weiterer Angehöriger der Minderheit der Sinti kritisierte, dass Veranstaltungen über den Genozid sowie über Rassismus und Diskriminierung in der Gegenwart häufig ohne Angehörige der Minderheit stattfinden.

Zur Frage, ob Sinti und Roma auch heutzutage Widerstand leisten müssen und wie sich dieser ausdrückt, bestand ein weitgehender Konsens unter den Teilnehmenden. Sinti und Roma erlebten tagtäglich Rassismus und Diskriminierung: Roma-Asylbewerber_innen werden in die Staaten des ehemaligen Jugoslawien und damit in die Perspektivlosigkeit abgeschoben; die Freizügigkeitsrechte rumänischer und bulgarischer Roma werden trotz ihres Status als EU-Bürger_innen eingeschränkt; antiziganistische Diskurse sind in Medien und Politik präsent. Sinti- und Roma-Aktivist_innen vertraten die Meinung, dass die Selbst-Organisation in der Community ein wirksames und legitimes Mittel sei, um dem Antiziganismus in der heutigen Gesellschaft entgegenzutreten.

Der Erfahrungsaustausch mit Aktiven aus der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit zeigte deutlich, dass das Thema „Widerstand der Sinti und Roma gegen den Nationalsozialismus“ einerseits mittlerweile zwar auf wachsendes Interesse stößt, andererseits aber kaum in Schulbüchern oder anderen Bildungsmaterialien behandelt wird. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma und die Gedenkstätte Deutscher Widerstand planen daher in Zusammenarbeit mit Amaro Foro e.V. und der Sozialfabrik e.V. eine pädagogische Handreichung zum Thema zu entwickeln.

Termin: 16. Mai 2017
Veranstaltungsort: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin 

 

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