Jalta: Selbstermächtigung
Von Frederik Schetter
Das gegenwärtige Judentum in Deutschland ist geprägt von kontroversen Debatten, teils widersprüchlichen Positionen und unterschiedlichen Perspektiven. Mit der Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ existiert seit Anfang des Jahres 2017 eine Plattform, welche die Diversität der jüdischen Gemeinschaft in der Post-Migrationsgesellschaft abbildet, jüdische und nicht-jüdische Perspektiven aufgreift, mehrheitsgesellschaftliche Narrative hinterfragt sowie gesellschaftliche und politische Potentiale aufzeigt.
Diversität in Themen und Form
Kennzeichnend für das Magazin ist neben der inhaltlichen Diversität auch die Vielfalt in der Form der Beiträge. So stehen wissenschaftliche, essayistische und literarische Texte sowie künstlerische Arbeiten wie beispielsweise Bilderserien oder Theaterstücke gleichberechtigt nebeneinander und bieten so unterschiedliche Zugänge zu den einzelnen Themen. Dies trägt auch dem Anspruch der Herausgeber_innen – für die erste Ausgabe des Magazins sind dies Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro und Lea Wohl von Haselberg – Rechnung, die Zeitschrift auch für Leser_innen ohne wissenschaftliches Vorwissen zu konzipieren. Die erste Ausgabe nimmt sich auf 172 Seiten schwerpunktartig dem Themenkomplex der Selbstermächtigung an. Die Beiträge sind in insgesamt fünf zentrale Rubriken unterteilt.
Die erste Rubrik setzt sich mit dem Titel der Zeitschrift auseinander und thematisiert die unterschiedlichen Auslegungen von „Jalta“. So stellt Charlotte Fronrobert in ihrem Beitrag die Talmudfigur Jalta vor und arbeitet in ihrer Analyse der talmudischen Rezeptionsgeschichte eine einseitige, „zum großen Teil selbstbewusst exklusiv männlich[e]“ (S.21) Polyphonie heraus. Eine andere Auslegung des Begriffs „Jalta“ liefert Anna Schapiro, die mit von ihren Großeltern geerbten Bildern einen visuellen Eindruck des Ortes Jalta auf der Krim vermittelt. Neben der Konferenz von Jalta und ihrer Bedeutung für die Nachkriegsordnung und die Entwicklung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sei der Ort auch Symbol für zahlreiche Jüdinnen und Juden, „die seit dem Ende der Sowjetunion nach Deutschland eingewandert sind und die jüdisches Leben heute maßgeblich mitgestalten“ (S.5). Drei Beiträge von Debora Antmann, Elisa Klapheck und Hannah Peaceman komplettieren die erste Rubrik und setzen sich vorrangig mit Emanzipationsbewegungen jüdischer Frauen seit den 1980er Jahren auseinander.
Theorie, Reflexion und praktische Umsetzung von Selbstermächtigung
Die zweite und größte Rubrik widmet sich dem Themenschwerpunkt des Magazins. Insgesamt zehn Beiträge geben hier auf unterschiedlichen Ebenen Einblicke in theoretische Grundlagen, Praxiserfahrungen und gesellschaftliche Prozesse zum Thema Selbstermächtigung. Die definitorische Grundlage legt dabei Marina Chernivsky in ihrem Beitrag über „Empowerment und Selbstermächtigung“. Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklungen sieht sie Empowerment nicht als „Konzept zur individuellen Selbstverwirklichung“ (S.54), sondern als „eigens initiierte, konkrete politische Forderung gesellschaftlicher Gruppen, die über einen langen Zeitraum Unterdrückung und Benachteiligung erfahren haben“ (ebd.). Kritische Punkte wie beispielsweise die Annahme, Empowerment verstärke Hierarchisierungen bestimmter Kategorien – beispielsweise die Herkunft – und fördere so unter Umständen Rassismus, reflektiert Chernivsky, kommt jedoch zu dem Schluss, dass die Potentiale von Selbstermächtigung überwiegen. Als zentrales Element dafür sieht sie, „sich eigener Verstrickungen in vorherrschenden Normmaßstäben und Machtverhältnissen bewusst zu werden“ (S.56). So biete der Empowerment-Ansatz für jüdische Menschen mit unterschiedlichen sozialen und kulturellen Hintergründen die Möglichkeit, Prozesse der Identitätsstärkung und Selbstorganisation selbst zu initiieren und zu steuern.
Ein Gespräch von Anna Schapiro mit Sarah Nemtsov ist ein Beispiel, wie der Ansatz zur Selbstermächtigung im konkreten Fall funktionieren kann. 2015 und 2016 fand in ehemaligen deutschen und polnischen Synagogen mit dem von Nemtsov initiierten und geleiteten Projekt Mekomot eine Konzertreihe statt. Die Verbindung von zeitgenössischen Kompositionen mit historischen Orten zeigt zum einen auf, „dass etwas da war, das nicht mehr da ist“ (S.90). Gleichzeitig sieht Nemtsov dieses Spannungsverhältnis als künstlerischen Ausdruck der jüdischen Gegenwart und als Zeichen, dass es für diese „auch eine Zukunft und […] ein Nach-vorne-schauen“ (S.91) gebe. So sei das Projekt ein Statement für eine gegenwärtige, lebendige und vielfältige jüdische Kultur. Weitere Beiträge der zweiten Rubrik behandeln den Themenkomplex der Selbstermächtigung im Kontext von Migrationsprozessen, beleuchten Solidarisierungsmöglichkeiten und Verknüpfungen zwischen beispielsweise jüdischen und schwarzen Menschen und gehen genauer auf generationelle Perspektiven ein.
Zuschreibungen, Ungenanntes und Kontroversen
Die zwei Beiträge von Rafeket Zalashik und Micha Brumlik bilden die dritte Rubrik, die sich unter dem Namen „Juden* und…“ mit Themen auseinandersetzt, mit denen Jüdinnen und Juden bewusst oder unbewusst wiederholt in Zusammenhang gebracht werden. Zalashik analysiert in seinem englischsprachigen Beitrag die sich wandelnde Bedeutung von Hunden – speziell dem Deutschen Schäferhund – für Jüdinnen und Juden in Israel. Hebt er für die 1960er und 1970er Jahre die Bedeutung des Hundes als heldenhafte, militärisch geprägte Figur hervor, symbolisiere er mittlerweile eher eine Schlichtung des israelisch-arabischen Konfliktes. Der Beitrag von Brumlik diskutiert das Verhältnis von Jüdinnen und Juden zum Rechtspopulismus und kritisiert am Beispiel von zwei jüdischen AfD-Mitgliedern, dass auch in der jüdischen Gemeinschaft rechtspopulistische und rassistische Stereotype zunehmen würden.
„Vergessen, Übersehen, Verdrängt“ ist der Titel der vierten Rubrik. Hier beleuchten vier Beiträge Themen, die in der medialen Berichterstattung kaum oder nicht vorkommen. So stellt beispielsweise Beate Meyer mit Fritz Benscher einen jüdischen Fernsehshowmaster der Nachkriegszeit vor. „Im Gespräch mit anderen queeren, jüdischen Gruppen Strategien gegen Diskriminierung und Unterdrückung zu entwickeln“(S.139), ist das Ziel der Berliner Rainbow Chavurah, die einen Empowerment-Raum für queere jüdische Menschen bietet und von Miriam Burzlaff und Jonathan Rafael Balling vorgestellt wird. Die weiteren Beiträge von Michal Schwartze und Heide Lilith Klatt widmen sich dem jüdischen Jahr 2016 und einer Stolpersteinverlegung in einer ostdeutschen Kleinstadt.
Die fünfte Rubrik ist für alle Leser_innen, die an kontroversen Debatten und streitbaren Positionen interessiert sind, sehr zu empfehlen. Unter dem Titel „Streitbares“ finden sich hier drei Beiträge, die klare Positionen einnehmen oder widersprüchliche Perspektiven reflektieren. So liefert Selma Dumitru einen kompakten und kritischen Einblick in die aktuelle Debatte um Heideggers Antisemitismus. Die autobiographischen Publikationen dreier jüdischer Autoren stellt Dani Kranz vor. Unter besonderer Berücksichtigung einer genderspezifischen Perspektive arbeitet sie Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Selbstdarstellungen heraus und schließt ihren Beitrag mit dem Aufruf an jüdische Frauen, ihren Beitrag zu jüdischen Selbstbildern zu leisten. Die Potentiale von gesellschaftspolitischer Arbeit beleuchtet Ulrike Offenberg am Beispiel der Bewegung „Women on the Wall“ in Israel. Dabei geht sie besonders auf Widerstände, Anfeindungen und Bedrohungen ein, denen die Aktivist_innen der Bewegung ausgesetzt sind.
Den Abschluss des Magazins bilden sechs Statements der Herausgeber_innen, in denen sie ihre Motivation, Ziele und Erwartungen für die Zeitschrift darlegen.
Zusammenfassung
Die Zeitschrift „Jalta – Positionen zur jüdischen Gegenwart“ bietet den unterschiedlichen Stimmen und Perspektiven des gegenwärtigen Judentums ein Forum zu intellektuellen Diskussionen und künstlerischen Auseinandersetzungen. Das breite Spektrum an Beiträgen und die meist klar formulierten Standpunkte sind dazu geeignet, sowohl Leser_innen ohne wissenschaftliche Vorbildung zu gewinnen als auch inhaltlich kontroverse Debatten anzustoßen. Vor allem jenen, die abseits der teils starren erinnerungskulturellen Fokussierung auf den Holocaust einen Einblick in die Vielfalt der aktuellen jüdischen Kultur und jüdische Identitäten bekommen wollen, ist die Zeitschrift sehr zu empfehlen.
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- 2 Okt 2017 - 07:37