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Kotwica. Der polnische Untergrundstaat im Zweiten Weltkrieg

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Arthur Osinski ist Kulturhistoriker und Gedenkstättenpädagoge.

Von Arthur Osinski

Die II. Polnische Republik war der einzige von Nazideutschland besiegte Staat, der niemals eine Kapitulation unterzeichnete und jegliche Kollaboration mit dem Besatzer ausschloss. Stattdessen floh die polnische Regierung nach der Niederlage zuerst nach Frankreich und später nach England, von wo der Kampf gegen die deutsche und zu Anfang die sowjetische Besatzung fortgesetzt werden sollte. Nach dem „Sikorski-Maiski-Abkommen“ galt die Fokussierung der deutschen Besatzung. Zu den primären Aufgaben der Exilregierung gehörten die Schaffung einer Exilarmee und der Aufbau eines Untergrundstaates im besetzten Polen. Bis heute steht die „Kotwica“ als Symbolzeichen für das im Untergrund kämpfende Polen.  

Staat im Staate, die Schaffung ziviler Untergrundstrukturen im besetzten Polen

In der menschenverachtenden Naziideologie sollten die Polen, zu „Heloten“ herabgestuft und ihr Staat einverleibt werden. Um dieses Ziel zu vollziehen begannen die deutschen Besatzer gleich nach der Niederlage Polens mit der „Intelligenzaktion“ und der „AB-Aktion“ die Führungs- und Intelligenzschicht zu ermorden und in die KZ-Lager zu deportieren. Der polnischen Bevölkerung sollte mittlere und höhere Bildung verwehrt werden. Alle Hochschulen wurden geschlossen, der Besatzungsterror richtete sich auch gegen polnische Kultureinrichtungen und gegen die Selbstverwaltung allgemein ­­– der polnische Staat sollte aufhören zu existieren. Hinzu kam der alltägliche mörderische Terror gegen die polnischen Bürger jüdischer Abstammung. Die Polen machten sich keine großen Illusionen, dass, nach ihren jüdischen Nachbarn, sie die nächsten waren, die zumindest zum Großteil vernichtet werden sollten, um für die „Herrenrasse“ Lebensraum im Osten zu schaffen.

Als Reaktion darauf entstanden sehr schnell Widerstandszellen, die sich dem deutschen Besatzungsterror entgegenstellten. Bis Ende 1942 erwuchs der polnische Untergrundstaat zu einer Bewegung mit mehr als 200.000 Mitgliedern, die zum Ende des Krieges auf ca. 350.000 heranwuchs. Die Heimatarmee war dabei die größte Widerstandsbewegung. Parallel zu den Nazibesatzungsstrukturen erschufen die Polen einen geheimen Staat im Staate, mit einem Parlament, eigener Verwaltung, Gerichtsbarkeit, Untergrundarmee, eigenen Hochschulen, Theatern und anderen Staatsstrukturen, die von den Nazis zerstört worden waren. Jedes Mitglied besaß ein Pseudonym, um die Aufdeckung anderer in seiner geheimen Widerstandszelle zu erschweren. Um zu verdeutlichen, wie viel Humanität sich die Polen unter der Terrorbesatzung der Deutschen trotzdem bewahrt haben, könnte man als Beispiel anführen, dass die Liquidierung von besonders brutalen Besatzern und Kollaborateuren jeweils mit einem Gerichtsverfahren im Untergrund gegen diese einherging. Die Beschuldigten bekamen in der Abwesenheit sogar einen Verteidiger und erst wenn der Täter zum Tode verurteilt wurde, durfte die Todesstrafe von einem Spezialkommando vollzogen werden.

Auch der verzweifelte Kampf gegen die Ermordung der polnischen Jüdinnen und Juden wurde vom Untergrundstaat organisiert. Besonders hervorgetan hat sich hierbei die „Żegota“, eine Warschauer Untergrundzelle um Irena Sendler, die allein ca. 2.500 jüdische Kinder vor dem Holocaust bewahrte. Allerdings waren die Möglichkeiten des polnischen Untergrundstaates hierbei sehr limitiert. Die Rettung eines jeden Juden band große Ressourcen und Risiken, da bei solch einer Rettungsaktion immer mehr als zehn Untergrundkämpfer involviert waren. Zusätzlich riskierten bei jeder Rettungsaktion polnische Zivilist_innen mit dem anschließenden Verstecken der Jüdinnen und Juden jedes Mal genauso ihr Leben. Ein größeres Engagement wäre für den polnischen Widerstand existenzbedrohend gewesen, da für die Rettung von noch mehr Jüdinnen und Juden einfach die Kapazitäten fehlten. Trotzdem konnten die Untergrundkämpfer_innen und polnische Zivilist_innen zigtausende Jüdinnen und Juden retten, wobei viele von ihnen ihr Leben verloren. Polen war das einzige Land im besetzten Europa, in dem die Nazis die Todesstrafe für die Unterstützung der jüdischen Mitbürger_innen verhängt hatten. Dennoch retteten die Pol_innen die meisten Juden vor dem Tod, wovon die Anzahl der gepflanzten Bäume in Yad Vashem bis heute zeugt. 

Wie die Polen mit der Shoa alleine gelassen wurden, zeugt die Passivität der Alliierten, welche die Polen mehrmals erfolglos zu überzeugen versuchten, die Vernichtungsanlagen der Nazis im besetzten Polen zu zerstören. Dies hätte sicherlich hunderttausenden Menschen das Leben retten können. Auch der riskante Versuch von Jan Karski, einem Emissär des polnischen Untergrunds, Churchill und Roosvelt persönlich mit Fotos und Dokumenten zu überzeugen etwas gegen den Holocaust zu unternehmen, wurde ignoriert. Sogar der Selbstmord des Vertreters der polnischen Jüdinnen und Juden in London nach der Niederlage des Aufstandes im Warschauer Ghetto, änderte nichts an der Haltung der Alliierten gegenüber dem Völkermord an den Jüdinnen und Juden. 

Militärischer Arm des polnischen Untergrundstaates

Der militärische Arm des polnischen Untergrundstaates und der polnische Geheimdienst hatten einen nicht zu unterschätzenden Anteil am Sieg der Alliierten. Ohne die Informationen des polnischen Nachrichtendienstes wäre sein englisches Pendant nicht in der Lage gewesen, so schnell den Enigma Geheimcode zu entziffern. Darüber hinaus operierte der polnische Nachrichtendienst in fast allen besetzten und neutralen Ländern mit ca. 30 großen Spionagenetzen. Ganze 44% aller Informationen des britischen Geheimdienstes „ZOE“ und „SIS“ stammten von dem polnischen Spionagenetz. Ein gutes Beispiel für die Arbeit des polnischen Geheimdienstes waren die Aktivitäten auf dem Gebiet des Vichy Regimes, dessen Effizienz sogar den Geheimdienst der „Forces françaises libres“ (Freie Französische Streitkräfte) in Frankreich überragte. Den polnischen Spionagezellen in Frankreich gehörten mehrere hundert angeworbene Französ_innen und Pol_innen an. Diese informierten den englischen Verbündeten über die bevorstehende Landung der Deutschen in Afrika und instruierten sie über die Bewegungen der deutschen U-Boote und Kriegsschiffe an der französischen Küste. Ein noch größeres Spionagenetz operierte in der Sowjetunion, das den Alliierten wichtige Informationen über die Sowjets lieferte. Die polnischen Untergrundkämpfer nahmen im Ausland auch an spektakulären Sabotageaktionen teil. Als gutes Beispiel kann man hierfür Jerzy Iwanow-Szajnowicz anführen, dessen Einheit mehrere Hundert deutscher und italienischer Flugzeuge in Griechenland sabotierte und mehrere Schiffe und U-Boote sprengte, er zählt bis heute zu den besten Saboteuren und Spionen des Zweiten Weltkrieges. Auch Krystyna Skarbek, galt als eine der besten weiblichen Spioninnen des britischen "SOE".

Aus Rache für den alltäglichen Terror der deutschen Besatzer trugen polnische Widerstandszellen sogar den Terror in das Herz des Naziregimes. Die Sabotagegruppe der „Armia Krajowa“, „Zagra-Lin“ um Bernard Drzyzga, verübte einen Terroranschlag am Bahnhof in der Friedrichstraße, bei dem 14 Wehrmachtssoldaten starben und 60 weitere verletzt wurden. Panik machte sich in Berlin breit, da schon zuvor an dem selben Ort in der S-Bahnstation am 24.02.1943 eine Bombe des „Zagra-Lin“ explodierte, die 36 Menschen tötete und weitere 78 verwundete. Dieselbe Gruppe verübte auch Attentate in Breslau und Riga und versuchte erfolglos Adolf Hitler bei Bromberg durch ein Attentat zu töten.

Die meisten Schäden führte der polnische Untergrund jedoch auf dem besetzten polnischen Gebiet durch. Mit tausenden Attentaten und zehntausenden Sabotageaktionen wurden dem Feind sehr große Verluste zugefügt und dessen Ostfront dadurch signifikant geschwächt.  Infolgedessen wurden im Land sehr große Wehrmachtseinheiten gebunden. Die größte Operation war sicherlich 1944 die „Aktion Burza“ bei der in Warschau ein Aufstand gegen die deutschen Besatzer durchgeführt wurde und dieser ganze zwei Monate dauerte. Dessen Folgen waren fürchterlich, schon in den ersten Tagen des Aufstandes rächten sich die Deutschen furchtbar und massakrierten ganze Viertel Warschaus. Innerhalb weniger Tage ermordeten deutsche Einheiten bis zu 70 000 Zivilisten. Bis heute zählt der Warschauer Aufstand zu den entsetzlichsten Momenten der polnischen Geschichte.

Das ganze Engagement des polnischen Untergrundstaates half den Pol_innen nicht. Ihr Staat verschwand durch die abermalige Passivität ihrer westlichen Verbündeten für mehrere Jahrzehnte hinter dem Eisernen Vorhang. Die deutsche Besatzung war der sowjetischen gewichen. Obwohl die Sowjets offiziell als Alliierte der Polen galten, wandten sie sich nach der "Befreiung" gegen die offiziellen polnischen Vertreter_innen und installierten in dem Land eine sowjetfreundliche, sozialistische Regierung. Zigtausende polnische Widerstandkämpfer_innen wurden verhaftet, ermordet oder in die Sowjetunion verschleppt. Die Pol_innen sahen dem Ganzen jedoch nicht tatenlos zu, manche polnische Untergrundeinheiten nahmen den bewaffneten Kampf gegen die Sowjets auf. Für Polen bedeutete das Jahr 1945 nicht das Ende des Zweiten Weltkrieges: eine der letzten polnischen Einheiten der sogenannten "Verstoßenen Soldaten"wurde erst 1963 aufgerieben.

 

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Ich stimme Ihnen zu,

der Beitrag zeigt nur eine Seite der Medaille. Doch darum ging es dem Autor auch, nicht um eine Gesamtgeschichte des polnischen Handelns unter deutscher Besatzung. Das ist in der bei uns üblichen Kürze ohnehin nur schwer möglich. Ausserdem finde ich es notwendig sich auch mit dem heroischen polnischen Narrativ auseinanderzusetzen. Ich denke das trägt zu einem kritischen Verständnis der aktuellen Situation bei.