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Die Verschwörer des 20. Juli 1944. Tendenzen der Darstellung in aktuellen Schulgeschichtsbüchern

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Etienne Schinkel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Didaktik der Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen.

Von Etienne Schinkel

Der 20. Juli als das wohl bekannteste Ereignis des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime nimmt einen zentralen Platz in Forschung (biografische Arbeiten, Sammelbände, Detailstudien) und Öffentlichkeit (Gedenktag, -tafeln, -stätten, Spiel- und Dokumentarfilme, lokale Denkmalsetzungen, Straßen- und Kasernennamen) ein. Es überrascht daher nicht, dass das misslungene Sprengstoffattentat auf Hitler auch im Schulbuch, dem Leitmedium für historisches Lehren und Lernen im Geschichtsunterricht, seit langem fest verankert ist (Lange 2004, Pingel 2007). Welche Geschichte(n) erzählen aktuelle Lehrwerke über den beabsichtigen Sturz des „Führers“ und seiner diktatorischen Herrschaft? Überwiegt scheinbare Faktizität, indem die Geschehnisse lediglich chronologisch dargestellt werden? Oder erfahren die jugendlichen Leser_innen auch etwas über die Beweggründe und das Gesellschaftsverständnis der Akteure des militärischen Widerstandes? 

Beck, Tresckow, Stauffenberg

Zu den entschlossensten Gegnern Hitlers, die auch in Geschichtsschulbüchern namentlich am häufigsten erwähnt werden, gehörten ohne Zweifel Ludwig Beck, Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Um lupenreine oder geborene Widerstandskämpfer handelte es sich bei ihnen freilich nicht. Im Gegenteil, eine gewisse Affinität zum Nationalsozialismus ist nicht zu übersehen. Hierzu einige Schlaglichter: 

Beck, zum Staatsoberhaupt eines erfolgreichen Umsturzes auserkoren, trat am 18. August 1938 als Generalstabschef des Heeres aus Protest gegen Hitlers verantwortungslose Kriegstreiberei zurück und entwickelte sich zu einem der führenden Köpfe der Militäropposition. Die „Machtergreifung“ hatte Beck dagegen noch als „ersten politischen Lichtblick seit 1918“ begrüßt. Sein Versuch, Hitler in der „Sudetenkrise“ unter dem Vorwand rüstungstechnischer Gründe zu mäßigen, sollte ferner nicht dahingehend missverstanden werden, als habe er nicht grundsätzlich mit den NS-Hegemonialplänen übereingestimmt. Noch im Mai 1938 hatte Beck zu Protokoll gegeben, „daß die Tschechei […] für Deutschland unerträglich ist und ein Weg, sie als Gefahrenherd zu beseitigen, notfalls auch durch eine kriegerische Lösung gefunden werden muß“ (Klausa 2002: 258). 

Tresckow kam eine führende Stellung unter den oppositionellen Offizieren im Bereich der Heeresgruppe Mitte zu. Für ihn war der geplante Anschlag auf Hitler eine symbolische Tat. Auf Stauffenbergs Anfrage, ob der Umsturz nach der am 6. Juni 1944 geglückten Invasion der Westalliierten in der Normandie überhaupt noch Sinn habe, antwortete der Generalmajor nachdrücklich: „Das Attentat auf Hitler muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem der Staatsstreich versucht werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“ (Heinemann 2004: 888). Seine Überzeugung, Hitler müsse getötet werden, entsprang somit zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aus militärpolitischen Gründen, sondern hatte eindeutig ethisch-moralische Motive. Dennoch ist gerade bei Tresckow von „einem verzögerten Einsetzen der Moral“ (Hürter 2004: 549) auszugehen. Wie die meisten der nationalkonservativen Verschwörer war auch er prinzipiell von der Richtigkeit des antibolschewistischen Krieges überzeugt. Im „Unternehmen Barbarossa“ wurden die Massenerschießungen von jüdischen Männern durch die Einsatzgruppe B gleichgültig zur Kenntnis genommen. Protest gegen die willkürlichen Exekutionen rührte sich erst, als die SS- und Polizeikräfte unterschiedslos alle sowjetischen Juden einschließlich Frauen und Kinder umzubringen begannen. Des Weiteren wurde der „Kommissarbefehl“, der die sofortige Tötung von Politfunktionären der Roten Armee vorschrieb, wie selbstverständlich ausgeführt. Schließlich unterstützte Tresckow brutale Antipartisaneneinsätze, die auf dem Rücken unbewaffneter Zivilisten ausgetragen wurden (Gerlach 2000, Römer 2005). 

Oberst Stauffenberg entschloss sich unter Einsatz von Leib und Leben zum Tyrannenmord. Er wollte über die Leiden der unterjochten Zivilbevölkerung und die Massenmorde an Juden nicht länger hinwegsehen. Gleichwohl war er kein Widerständler der ersten Stunde und hatte jahrelang mit Hingabe der Hitler-Regierung gedient. Auch war er nicht frei von rassistischem Gedankengut. So schrieb er seiner Frau Mitte September 1939 aus Polen einen Brief, in dem es u.a. heißt: „Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich sicher nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu gebrauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“ (Hoffmann 2007: 200). 

Schulbuchnarative

Wird die Ambivalenz der Einstellungen bei den Verschwörern des 20. Juli 1944 in Schulgeschichtsbüchern adäquat herausgestellt? Die Analyse ergibt, dass die für die Sekundarstufe I geschriebenen Lehrwerke fast immer darauf verzichten, die Verstrickungen, Versäumnisse oder Unzulänglichkeiten der militärischen Widerstandsgruppe zu beschreiben. 

Die folgende Darstellung ist typisch:

„Mitglieder des Kreisauer Kreises nahmen über Ludwig Beck Kontakt mit Offizieren der Wehrmacht auf. Der ehemalige Generalstabschef hatte 1938 seine Stellung aufgegeben, nachdem er zuvor vergeblich Teile der Generalität zum Widerstand gegen die Kriegspläne Hitlers aufgefordert hatte. Danach war Beck zum Mittelpunkt der militärisch-bürgerlichen Opposition geworden. Erst die Wende des Krieges brachte weitere Offiziere dazu, einen Anschlag auf Hitler zu riskieren. Zu den Verschwörern […] gehörten Henning von Tresckow und Claus Schenk Graf von Stauffenberg. […] Ermutigt von Tresckow entschloss sich Stauffenberg im Sommer 1944, das Attentat auszuführen und einen Staatsstreich einzuleiten. Am 20. Juli brachte Stauffenberg zur Lagebesprechung mit dem ‚Führer‘ in seiner Aktentasche eine Bombe mit und stellte sie in Hitlers Nähe auf. Danach verließ er den Raum. Wenige Minuten später erfolgte die Explosion. Elf Männer wurden schwer verletzt, vier erlagen ihren Verletzungen. Im sicheren Glauben, Hitler sei tot, flog Stauffenberg nach Berlin, um die Übernahme der Regierung durch Beck zu sichern, der Staatspräsident werden sollte. Aber Hitler war nur leicht verletzt, und der Staatsstreich scheiterte. Stauffenberg und drei Offiziere wurden noch am Abend des 20. Juli standrechtlich erschossen. Beck wurde aufgefordert, Selbstmord zu begehen. Als dies misslang, erschoss ein Feldwebel den bereits schwer verletzten Mann.“ (Das waren Zeiten 2015: 181). 

Eine der wenigen Ausnahmen, die von diesem Muster abweicht, stellt die Aufbereitung in „Zeit für Geschichte“ dar. Die Schulbuchautor_innen beziehen immerhin die Überlegungen der Oppositionellen für ein Deutschland nach dem Nationalsozialismus in ihren Text ein. Sie schreiben: „Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und durch den Krieg im Osten wuchs die Zahl der Oppositionellen im Militär. Zunächst wurden sie von General Henning von Tresckow in Zusammenarbeit mit Oberst Ludwig Beck organisiert. Die Verschwörergruppe [...] war in ihrer Zielsetzung konservativ. Die Gruppe plante einen Staatsstreich, dem ein Bombenattentat auf Hitler vorausgehen sollte. Doch nicht alle Entwicklungen, die sich unter der Hitler-Diktatur vollzogen hatten, wollten sie danach zurücknehmen – z.B. die Annexion Österreichs. Fraglich ist, ob die Verschwörer ein demokratisches Gesellschaftssystem unterstützt hätten – unzweifelhaft ist dagegen, dass die vom militärischen Widerstand getragenen politischen Vorstellungen nicht mit denen der Alliierten übereingestimmt hätten, da diese seit 1941 die bedingungslose Kapitulation Deutschlands forderten.“ (Zeit für Geschichte 2016: 140). 

Im Gegensatz zu Mittelstufenbüchern sind für die gymnasiale Oberstufe konzipierte Lehrwerke naturgemäß weniger stark von Zwang zur Komplexitätsreduktion betroffen und können daher historische Problemstellungen differenzierter erörtern. Die Durchsicht diverser Oberstufenbände zeigt, dass die Kapitel zum Widerstand insgesamt ausführlicher ausfallen und – etwa im Hinblick auf Begriffsklärungen – stärker theoretisch ausgerichtet sind. Allerdings hat dies kaum einmal eine Auswirkung auf die eigentliche Erzählung. Auch in den Büchern für die Sekundarstufe II werden die Aktivisten der militärischen Widerstandsgruppe kaum einmal in ihrer Widersprüchlichkeit dargestellt. Das Maximum dessen, was geboten wird, verdeutlicht der folgende Schulbuchauszug: 

„Aus dem Militär erwuchs die Gruppierung der Attentäter vom 20. Juli 1944 um Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Henning von Tresckow. Tresckow war nach dem Ende des ersten Weltkrieges an der Niederschlagung des sozialistischen Spartakusaufstandes beteiligt, lehnte den Versailler Vertrag ab und betrachtete Hitlers Aufstieg anfangs mit Wohlwollen. Erst nach 1933 entwickelte er sich zum Regimegegner. Auch in der Person Stauffenbergs zeigt sich die Vielschichtigkeit der Charaktere der Widerstand Leistenden. Der 1907 geborene Stauffenberg […] begrüßte zunächst Hitlers Berufung ins Reichskanzleramt und seine Politik. Es fand seine Zustimmung, dass die Wehrmacht ausgebaut und dadurch der Versailler Vertrag verletzt wurde, doch diese Einstellung war schon vor Kriegsausbruch einer kritischen Haltung gewichen. Ab 1942 gehörte er zum aktiven Widerstand und unterstützte die militärische Widerstandsgruppe im Generalstab trotz einer schweren Kriegsverletzung. Die Gruppe verurteilte die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, stieß sich darüber hinaus aber auch an den strategischen Fehlentscheidungen ihres Oberbefehlshabers Hitler. Ihn wollten sie beseitigen, um mit den Kriegsgegnern verhandeln zu können.“ (Geschichte und Geschehen 2015:199–200). 

Fazit und Ausblick

Joachim Rohlfes bezeichnete vor 25 Jahren den Widerstand im „Dritten Reich“ als Stiefkind der Geschichtsdidaktik. Davon kann längst keine Rede mehr sein. Das Thema ist unbestrittener und etablierter Gegenstand des Geschichtsunterrichts, wie er sich in Schulbüchern niederschlägt. Es ist aber ein auffallender Mangel, dass bei der Behandlung des militärischen Widerstandes kritische Untertöne zumeist unterbleiben. Fast scheint es, als sei der Oppositionskreis um Beck, Tresckow und Stauffenberg von einer übermächtigen Aura des Respekts und der Ehrfurcht umgeben, die Lehrwerksautor_innen daran hindert, abwägende Urteile zu treffen. Das ist bedauerlich. Der Geschichtsunterricht sollte ein Korrektiv zu dem über die Medien oder an Gedenktagen vermittelten Bild sein, das häufig zu einer undifferenzierten Heroisierung der Verschwörer neigt. Vielleicht noch entscheidender: Ist es nicht gerade der Lernprozess der Männer des 20. Juli, der besondere Hochachtung verdient und deshalb den Schüler_innen vermittelt werden muss? Die Einsicht, sich von der eigenen Einstellung zu distanzieren, die Besinnung auf ethische Werte und der Mut, daraus die Konsequenzen zu ziehen, zeugen von menschlicher Größe. Nicht zuletzt darin unterscheiden sie sich von der Masse der Deutschen, die bis zum Untergang mitgemacht und geschwiegen hat. 

Literatur

Dieter Brückner/Harald Focke (Hrsg.): Das waren Zeiten. Neue Ausgabe Niedersachen. Sekundarstufe I. Bd. 4: Deutschland, Europa und die Welt von 1871 bis zur Gegenwart. Bamberg: C.C. Buchner 3. Aufl. 2015. 

Christian Chmelensky u.a.: Zeit für Geschichte. Geschichtliches Unterrichtswerk für Gymnasien. Niedersachsen. Bd. 9/10. Braunschweig: Schroedel 2016. 

Peter Johannes Droste u.a.: Geschichte und Geschehen. Qualifikationsphase Oberstufe Nordrhein-Westfalen. Stuttgart: Klett 2015. 

Christian Gerlach: Hitlergegner bei der Heeresgruppe Mitte und die „verbrecherischen Befehle“. In: Gerd R. Ueberschär (Hrsg.): NS-Verbrechen und der militärische Widerstand gegen Hitler. Darmstadt 2000, S. 62–76. 

Winfried Heinemann: Der militärische Widerstand und der Krieg. In: Jörg Echternkamp (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 9.1. München 2004, S. 743–892. 

Peter Hoffmann: Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Die Biographie. München 2008. 

Johannes Hürter: Auf dem Weg zur Militäropposition. Tresckow, Gersdorff, der Vernichtungskrieg und der Judenmord. Neue Dokumente über das Verhältnis der Heeresgruppe Mitte zur Einsatzgruppe B im Jahr 1941. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 52 (2004), S. 527–562. 

Ekkehard Klausa: Zu wenig und zu spät? Der Kampf des anderen Deutschland. In: Bernd Sösemann (Hrsg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Einführung und Überblick. Stuttgart 2002, S. 258–281. 

Dirk Lange: Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus im historisch-politischen Schulbuch. Erinnerungskultur im Wandel. In: Klaus Finke/ders. (Hrsg.): Widerstand gegen Diktaturen in Deutschland. Historisch-politische Bildung in der Erinnerungskultur. Oldenburg 2004, S. 95–112. 

Falk Pingel: „Nicht alle Deutschen machten mit“. Der Widerstand in deutschen Schulgeschichtsbüchern. In: Studienkreis Deutscher Widerstand 1933–1945 (Hrsg.): Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Perspektiven der Vermittlung. Frankfurt am Main 2007, S. 43–64. 

Joachim Rohlfes: Der deutsche Widerstand gegen den Nationalsozialismus in geschichtsdidaktischer Perspektive. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 43 (1992), S. 427–438. 

Felix Römer: Das Heeresgruppenkommando Mitte und der Vernichtungskrieg im Sommer 1941. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 451–460.

 

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