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Warum Bildungsprojekte gegen Antiziganismus dringend notwendig sind

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Alexandra Sobotta ist Politikwissenschaftlerin und schließt derzeit ein Masterstudium der Pädagogik ab. In ihrer Masterarbeit beschäftigt sie sich mit dem Themenbereich Antiziganismus und entwickelt ein antiziganismuskritisches Bildungsprojekt.

Von Alexandra Sobotta 

„Die Bekämpfung von Antiziganismus ist eines der drängenden Probleme für den Erhalt und die Zukunft unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft“ (Rose 2016: 11). 

Handlungsnotwendigkeit

Antiziganismus ist ein in Europa und so auch in Deutschland weit und stark verbreitetes sowie allgegenwärtiges Phänomen (vgl. Bartels et.al. 2013: 8): „Viele der tradierten ‚Wahrheiten' des Antiziganismus sind so fest mit den kulturellen Kodierungen der europäischen Gesellschaft verwachsen, dass jeder Versuch der Aufklärung als Angriff […] gewertet wird“ (Kawczynski 2013: 7). So werden Menschen seit mehreren Jahrhunderten als „Zigeuner“ stigmatisiert und sind vor diesem Hintergrund Betroffene von Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Dies trifft meist Sinti und Roma aber auch andere durch die Mehrheitsgesellschaft Stigmatisierte. Antiziganismus gilt so noch immer als gesamtgesellschaftlich tabuisiertes und marginalisiertes Problemfeld (vgl. Scholz 2013: 38), welches hinsichtlich Funktion und Konstruktion weitestgehend unhinterfragt und selbstverständlich ist. So kommt es neben sprachlichen Ausgrenzungen und Stigmatisierungen, regelmäßig zu antiziganistisch motivierten Straf- und Gewalttaten (vgl. Strauß 2014: 8), die allerdings nur selten Auslöser von Protesten sind - für Betroffene aber kein abstraktes Phänomen, sondern Alltag darstellen (vgl. End 2011: 15). Antiziganismus ist also durchaus kein vereinzelt anzutreffendes Phänomen. Er ist vielmehr in ein rassistisches und breit vorhandenes vermeintliches „Negativwissen“ und damit einhergehende Einstellungen zu und über Sinti und Roma und als „Zigeuner“-Stigmatisierte eingebettet (vgl. Manthe 2014: 5). Schaut man auf die Ergebnisse der Mitte-Studie der Universität Leipzig wird dies auch besonders deutlich. Aussagen, wie beispielsweise „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten.“ (Heitmeyer 2012: 50) erhielten 2014 ca. 55,4% und 2016 sogar 57,8% (vgl. Decker & Kiess & Brähler 2016: 26) Zustimmung.

...aber

Und trotzdem, das heißt trotz der gesellschaftlichen Brisanz und trotz des Bildungsauftrages von Schule und außerschulischer Bildung, haben ebendiese „die Bekämpfung des Antiziganismus noch nicht im gebührenden Maße als pädagogische Herausforderung erkannt und in eine adäquate pädagogische Praxis umgesetzt“ (Saathoff 2016: 7). Vielmehr zeigen sich trotz der Notwendigkeit des Abbaus antiziganistischer Vorurteile bzw. dahingehender rassistischer Denk- und Handlungsweisen (vgl. Bogedan 2016: 9) Leerstellen in pädagogischen Kontexten.

So konstatieren Atasever und andere etwa in Bezug auf schulische Curricula Desiderate in der Auseinandersetzung mit traditionellen antiziganistischen Auffassungen, der ideengeschichtlichen und politischen Bedeutung von Antiziganismus sowie die „bis heute andauernde Reproduktion und Aktualisierung antiziganistischer Denkmuster“ (Atasever et.al. 2014, 10). 

(Un-)Kenntnisse und Anschlusspunkte im schulischen Bereich

Obwohl sich Antiziganismus wie ein roter Faden durch die europäische Geschichte verfolgen lässt und „Deutschland, moralisch und politisch betrachtet […] besondere Anstrengung“ (Saathoff 2013: 6) aufgrund der Singularität der deutschen Vernichtungspraxis während der NS-Zeit zukommt, wurde „Antiziganismus jedoch nie grundsätzlich in Frage gestellt“ (Kawczynski 2013: 8).

Mit Blick auf Kenntnisse und Vorwissen von z.B. Jugendlichen bedeutet dies, dass von unterschiedlichen Erfahrungs- und Wissensbeständen zum Thema Antiziganismus ausgegangen werden muss. So können antiziganistische Umgangs- und Handlungsweisen als legitim und unproblematisch eingeschätzt werden – ebenso können explizite Kenntnisse oder immense Wissensdefizite sowie fragmentarische Vorstellungen und Bilder vorherrschen. Schüler_innen ab Klasse 10 verfügen beispielsweise zwar bereits über ein breites Wissen bezüglich europäischer Geschichte, dennoch bleibt die Auseinandersetzung mit Antiziganismus als konstitutiver Bestandteil jener Geschichte randständig - und das trotz vorliegender Anschlusspunkte in Lehrplänen!

So sieht der Lehrplan Geschichte für Gymnasium in Sachsen beispielsweise als: „Zentrale Aufgabe […] die Förderung und Entwicklung eines reflektierten und selbstreflexiven Geschichtsbewusstseins [vor.] Dies ist eine wesentliche Voraussetzung für die Fähigkeit und Bereitschaft des Einzelnen zur mündigen Teilnahme […] und engagierte[r] Mitgestaltung der Gesellschaft und ihrer Wandlungsprozesse“ (Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2011: 14). Dabei geht es um die Weiterentwicklung demokratischer Werte und um eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und ihrer Darstellung. Auch mit Blick auf die Stigmatisierung von Antiziganismus-Betroffenen als gesellschaftliche Sündenböcke sowie auf die Konstruktion von Wir- und Fremdgruppen finden sich leicht Anknüpfungspunkte: „Feindbilder [haben] Folgen für das gesellschaftliche und politische Handeln, [demnach ist deren] Überprüfung […] notwendig“ (ebd.: 27). Da Schüler_innen oftmals für sich selbst das Recht auf Gleichheit, Individualität und Respekt beanspruchen, gilt es sie einerseits darin zu bestärken, andererseits darauf aufmerksam zu machen und zu sensibilisieren, dass jene Rechte seit Jahrhunderten Menschen verwehrt werden. Dies verweist so auf ein Ermutigen zu politischem Engagement und zur Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit. Ähnliche Herangehensweisen finden sich im Ethikunterricht im Zuge des Themenfelds „Identität und Rolle“ im Rahmenlehrplan Berlin, welches diverse Lebensvorstellungen und Normen in das Zentrum der Auseinandersetzung rückt (vgl. Atasever et.al. 2014: 36). So muss es darum gehen, sich der Thematik aus dem Blickwinkel einer zunehmend heterogenen Gesellschaft zu widmen und der Frage nach Herstellung von Chancengleichheit und Teilhabegerechtigkeit nachzugehen (vgl. Fritzsche & Liebscher 2010: 14). 

Unverbindlichkeiten

Allen Anschlusspunkten zum Trotz bleibt die inhaltlich offene und unverbindliche Formulierung in den Curricula, sodass die Thematisierung von Antiziganismus meist freiwillig und von einzelnen Lehrpersonen abhängig ist. Konkrete Änderungen und Anpassung an dieses Problem ergaben sich erst im Laufe der letzten Jahre ­– so z.B. in Baden-Württemberg und Rheinlandpfalz. Hier wurde die Thematisierung des Porajmos, also des NS-Völkermordes an Sinti und Roma, dezidiert in den Lehrplan Geschichte aufgenommen (vgl. Barz 2016). Demgegenüber sind z.B. in Sachsen sowohl der Porajmos als auch Antiziganismus kein fester Bestandteil des Lehrplans Geschichte, weder für Gymnasium noch für Oberschule (vgl. Sächsisches Staatsministerium für Kultus 2009&2011). Die Entwicklungen in Baden-Württemberg und Rheinlandpfalz sowie die dargelegten Anschlusspunkte müssen demnach als Ausgangspunkt für die Implementierung in Lehrpläne und Bildungszusammenhänge verstanden werden – besonders aufgrund o.g. Kontinuität von Antiziganismus in der europäischen Geschichte, der deutschen Vergangenheit und Gegenwart und dem Erziehungs- und Bildungsauftrag von Schule. Problematisch ist allerdings, dass auch Lehrkräfte oftmals: „vor einer Wissenslücke [stehen], wenn es darum geht [Antziganismus] zum Thema zu machen“ (Manthe 2014: 5). Diesem Umstand schreibt Bytyci, Gründer des Amaro Drom e.V. auch deshalb eine (Mit-)Schuld an der Kontinuität antiziganistischer Stereotype und Klischees zu (vgl. Bytyci 2014: 9) – vor allem, wenn pädagogische Zusammenhänge bei einer Art der „Kulturvermittlung“ bzgl. einer „Kultur der Sinti und Roma“ ansetzen und so selbst in kulturalisierende essentialistische Ansätze geraten (vgl. End o.J.: 1). 

Kein Frühjahrsputz!

Der Bildungsbedarf zum Thema Antiziganismus ist also in mehrfacher Hinsicht begründet: Zunächst muss die gesamtgesellschaftliche Brisanz der Thematik benannt werden. Dies korrespondiert mit historisch-politischen Rahmenbedingungen, der fehlenden Übernahme von Verantwortung und in der Kontinuität von Antiziganismus. Hinzu kommen die allgemein gehaltenen Bildungsinhalte in schulischen Curricula, die Antiziganismus als eigenständige Problemstellung bisher nicht benennen, durchaus aber Anschlusspunkte aufzeigen (vgl. Winckel 2002: 106), sowie fehlende Kenntnisse und Wissenslücken auf Seiten von Lehrkräften. Um dennoch o.g. gesellschaftlichen Entwicklungen zu begegnen und sich für die Bekämpfung von Antiziganismus und eine gleichberechtigte Teilhabe jetzt einzusetzen, können Bildungsprojekte außerschulischer Bildungsanbietenden in Zusammenarbeit mit Schulen Abhilfe schaffen. Solche Projekte und Zusammenarbeiten können es ermöglichen, Antiziganismus zu thematisieren, zu problematisieren, in Schulen hineinzuwirken und die Dringlichkeit der Implementierung in Curricula offen zu legen. Dennoch dürfen derartige Projekte nicht als Frühjahrsputz verstanden werden, denn:

„Antidiskriminierung […] ist kein Frühjahrsputz, den man einmalig, zusätzlich und außer Plan machen und dann abhaken kann“ (Fritzsche & Liebscher 2010: 129).

Literatur- und Quellenverzeichnis 

Atasever, Kerem & End, Markus & Pientka, Patricia & Schmidt, Elisa & Wylezol, Roland & Alte Feuerwache (Hrsg.) (2014). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus – Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Münster.

Bartels, Alexandra & Borcke, Tobias von & Friedrich, Anna & End, Markus (Hrgs.) (2013). Antiziganistische Zustände 1. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster. 

Barz, Hajdi (2016). Vortrag: Gadjé-Rassismus vorbeugen. Zentrale Kritierien gegen Gadjé-Rassismus in der Bildungsarbeit, „Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir?“ zur Tagung: „Wann, wenn nicht jetzt?“ Nachholende Gerechtigkeit für Sinti und Roma im Bildungsbereich. Berlin: Fachtagung am 3.11.2016. 

Bogedan, Claudia (2016). Grusswort. In: Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) (2016). Gemeinsam für eine bessere Bildung – Empfehlungen zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland. Berlin.

Bytyci, Hamze (2014). Vorwort. In: Atasever, Kerem & End, Markus & Pientka, Patricia & Schmidt, Elisa & Wylezol, Roland & Alte Feuerwache (Hrsg.) (2014). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus – Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Münster. 

Decker, Oliver & Kiess, Johannes & Brähler, Elmar (2016). Die enthemmte Mitte – Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger „Mitte“-Studien 2016. Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung. 

End, Markus (2011). Bilder und Sinnstrukturen des Antiziganismus. In: Bundeszentrale für politische Bildung (2011). Sinti und Roma; Zeitschrift: Aus Politik und Zeitgeschichte (ApuZ) 22-23/2011. 

End, Markus (o.J.). Workshop 1: Vorstellung des „Methodenhandbuches zum Thema Antiziganismus in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit“. 

Friedrich, Anna (2013). „Ich bin Rotationseuropäer...“ Strategien gegen Antiziganismus aus der Perspektive einer Selbstorganisation. In: Bartes, Alexandra & Borcke, Tobias von & End, Markus & Friedrich, Anna (Hrsg.) (2013). Antiziganistische Zustände 2 Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. Münster. 

Heitmeyer (2012). In: Decker, Oliver & Kiess, Johannes & Brähler, Elmar (2014). Die stabilisierte Mitte – Rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung. 

Kawczynski, Rudko (2013). Vorwort. In: Atasever, Kerem & End, Markus & Pientka, Patricia & Schmidt, Elisa & Wylezol, Roland & Alte Feuerwache (Hrsg.) (2014). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus – Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Münster. 

Manthe, Barbara (2014). Antiziganismus als Herausforderung für die rassismuskritische Bildungsarbeit. In: Detzner, Milena & Drücker, Ansgar & Manthe, Barbara (Hrgs.) (2014). Antiziganismus – Rassistische Stereotype und Diskriminierung von Sinti und Roma. Grundlagen für eine Bildungsarbeit gegen Antiziganismus. Düsseldorf. 

Pates, Rebecca & Schmidt, Daniel & Karawanskij, Susanne (Hrsg.). Fritzsche, Heike & Liebscher, Doris (Autorinnen) (2010). Antidiskriminierungspädagogik. Konzepte und Methoden für die Bildungsarbeit mit Jugendlichen. Wiesbaden. 

Rose, Romani (2016). Grußwort. In: Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) (2016). Gemeinsam für eine bessere Bildung – Empfehlungen zur gleichberechtigten Bildungsteilhabe von Sinti und Roma in Deutschland. Berlin. 

Saathoff, Günter (2014). Vorwort. In: Atasever, Kerem & End, Markus & Pientka, Patricia & Schmidt, Elisa & Wylezol, Roland & Alte Feuerwache (Hrsg.) (2014). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus – Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit; Münster: UNRAST Verlag. 

Sächsisches Staatsministerium für Kultus und Sport (2009). Lehrplan Geschichte Mittelschule. Radebeul. 

Sächsisches Staatsministerium für Kultus und Sport (2011). Lehrplan Geschichte Gymnasium; Dresden: Sachsen-macht-Schule.de 

Scholz, Roswitha (2013). Antiziganismus und Ausnahmezustand. Der „Zigeuner“ in der Arbeitsgesellschaft. In: End, Markus & Herold, Katrin & Robel, Yvonne (Hrgs.) (2013). Antiziganistische Zustände 1. Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments. Münster. 

Strauß, Daniel (2014). Vorwort; In: Atasever, Kerem & End, Markus & Pientka, Patricia & Schmidt, Elisa & Wylezol, Roland & Alte Feuerwache (Hrsg.) (2014). Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus – Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Münster. 

Winckel, Änneke (2002). Antiziganismus. Rassismus gegen Sinti und Roma im vereinigten Deutschland. Münster. 

 

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