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Erfahrungen und Ergebnisse der ersten selbst initiierten Bildungsstudie über Sinti und Roma

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Chana Dischereit ist Wissenschaftliche Assistentin der Geschäftsstelle des Verbandes Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg.

Von Chana Dischereit

Im Rahmen der EU-Förderstrategien zur Integration von Roma wurden die Mitgliederstaaten aufgefordert, nationale Strategien mit Entwicklungszielen zur Verbesserung der Lebensumstände der Roma bis Ende 2011 vorzulegen. Im Bericht der Bundesregierung hieß es, dass die genaue Lage der deutschen und zugewanderten Sinti und Roma nicht ermittelt werden könne aufgrund von fehlenden Daten. „Des Weiteren würden sich die deutschen Sinti und Roma gut integriert fühlen und bräuchten keine zusätzlichen Maßnahmen. Den ausländischen zugewanderten Roma wiederum stünden die für alle Einwanderer eingerichteten Unterstützungsangebote offen. Auch sie bräuchten deshalb keine besondere Unterstützung“ (Bundesministerium des Inneren 2011: 29). Als Anlage legte die Bundesregierung Projektbeschreibungen vor, die aber zumeist nicht mehr dem aktuellen Stand entsprachen. Diese Aussage tätigte die Bundesregierung, obwohl das Ministerkomitee des Europarates bereits seit 2002 kritisierte, dass Deutschland keinerlei aussagekräftige Daten zur Lebenssituation von deutschen Sinti und Roma vorlegen würde.

Der Ergänzungsbericht bzw. Schattenbericht von Vertreter_innen der Roma-Zivilgesellschaft und anderer Interessensträger und Expert_innen an die Europäische Kommission Anfang 2012 kommt zu dem Ergebnis, dass „[d]ie kurzfristig eingeholten Meinungen von [...] Landesverbänden, Bildungsprojekten, Experten und Aktivisten […] ganz eindeutig der Meinung der Bundesregierung [widersprechen], die deutschen Sinti und Roma seien gut integriert. Sie widersprechen ebenfalls der Auffassung, dass eingewanderte Roma und Sinti problemlos an Angeboten teilnehmen, die für alle offen stehen“ (RAA et. al. 2012: 4).

Im Zuge der Diskussion um Strategien zur Integration wurde 2011 von Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg und Geschäftsführer von RomnoKher Mannheim, die „Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma“ herausgegeben. Dies ist die erste Studie, die von der Minderheit selbst initiiert und durchgeführt wurde. Die Expertise der Minderheit auf diesem Gebiet ist unverzichtbar um eine Studie durchführen zu können.

Bildungssituation nach dem Völkermord und „sekundärer Traumatisierung“

Sinti und Roma wurden erst Mitte der 1980er Jahre als Opfer des Völkermords und 1997 als nationale Minderheit durch das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates in Deutschland anerkannt. Die Anerkennungen führten allerdings nicht zur Einleitung besonderer Fördermaßnahmen, obwohl 1980 eine Studie vom Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit veröffentlicht wurde, die eine desolate Bildungssituation der Minderheit offenlegte. In der NS-Zeit waren Sinti und Roma auch betroffen von Schulverboten, Arbeitsverboten etc.

In der Bildungsstudie von Daniel Strauß stehen daher die aktuelle Situation, aber auch die Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und Diskriminierungserfahrungen im Fokus. „Es war das erklärte Ziel der Initiatoren dieses Projekts, die Kluft zwischen den Wissenschaften einerseits und den Angehörigen der Minderheit der Sinti und Roma andererseits zu überbrücken. Dass dies gelang, dass sich Sinti und Roma trotz ihres durch den Nationalsozialismus entstandenen beziehungsweise gewachsenen Misstrauens in die ‚deutschen so genannten Wissenschaft(en)‘ an einer wissenschaftlichen Befragung zu ihrer Bildungssituation aktiv als Initiatoren, Befragende und Befragte zusammen mit Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen beteiligten, macht deutlich, dass hier Neuland betreten wurde“ (Strauß 2011 b: 49).

Sinti und Roma aus verschiedenen Generationen und Regionen, mehrheitlich aus Westdeutschland, wurden mittels eines Fragebogens und Interviews befragt. Das Projekt dauerte von 2007 bis 2011 und schließt 275 Befragte ein (261 Befragungen konnten in die Auswertung miteinbezogen werden). Etwas mehr als die Hälfte der Befragten waren Frauen. Eine zentrale Fragestellung der Studie war der Zugang zum Bildungswesen, insbesondere zum schulischen Bereich. Lebens-, generations- und familiengeschichtliche Entwicklungen wurden in Bezug zum Stellenwert zu gelungener und gescheiterter schulischer Bildung erfragt. Hierbei wurden auch Diskriminierungserfahrungen, die Beziehung zur Mehrheitsgesellschaft und intergenerationelle Tradierung traumatischer Erlebnisse aus der NS-Zeit miteinbezogen. Aufgrund der Verfolgungserfahrungen und den historischen Erfahrungen mit wissenschaftlicher Forschung war die Durchführung der Befragung nur möglich, wenn eine ausreichende Vertrauensbasis geschaffen werden konnte.

Einige zentrale Ergebnisse der Studie (vgl. Strauß 2011 a: 100 ff.):

  • 18,8 % haben eine berufliche Ausbildung absolviert (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: 83,4 %)
  • 10,7 % besuchten eine Förderschule (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: 4,9 %)
  • 13 % besuchten keine Schule (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: unter einem Prozent)
  • 44 % haben keinen Schulabschluss (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: 7,5 % der 15 bis17-Jährigen haben keinen Hauptschulabschluss). Die überwiegende Mehrheit der Befragten bedauert, die Schul- oder Berufsausbildung abgebrochen zu haben.
  • 11,5 % besuchten die Realschule (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: über 30 %)
  • 2,3 % besuchten das Gymnasium (Vergleich Mehrheitsbevölkerung: 24,4 %, 20 bis 25-Jährige über 40 %)
  • die dritte Generation erfährt eine zunehmende Bildungsunterstützung durch die Familie
  • 81,2 % haben persönliche Diskriminierungserfahrungen

In der Studie wird dargelegt, dass die traumatisierenden Erlebnisse von Diskriminierung und Verfolgung im NS-Regime an die folgenden Generationen weitergegeben werden. Außerdem zeigte die Befragung, dass Schule bis heute kein diskriminierungssensibler/-kritischer Raum ist. Der offene Antiziganismus an Schulen bleibt zumeist ohne Konsequenzen. Der Schul- und Ausbildungsabbruch wird häufig mit Diskriminierungserfahrungen begründetet.

Die familiäre und kollektive Traumatisierung ist bis heute von großer Relevanz für die Bildungssituation. Durch die Traumaforschung zum Genozid an Jüdinnen und Juden ist bekannt, dass posttraumatische Symptome auch in der zweiten Generation festgestellt werden, da diese oft das Leid ihrer Eltern teilen. Hier steckt die Traumaforschung zum Genozid an Sinti und Roma noch in den Anfängen. Jane Schuch: „Dazu zähle ich die Tatsache, dass die deutschen Sinti und Roma aus den Konzentrationslagern in das Land zurückkehren mussten, das lange keine deutliche Abkehr von nationalsozialistischer Täterschaft vornahm – zumindest ist dies für die Bundesrepublik Deutschland so zu behaupten. Insbesondere gab es keine Abkehr von und Verurteilung der Täter und Täterinnen, die sich am Genozid an den europäischen Sinti und Roma schuldig gemacht haben. „Die Traumaforschung weiß, dass gerade für die Überwindung eines Traumas nicht unbedingt die Schwere und das Ausmaß der erlebten Gewalterfahrung ausschlaggebend sein muss, auch nicht unbedingt die Art und Weise der therapeutischen Intervention, sondern vor allem die Lebensbedingungen danach“ (Schuch 2015). Bis in die 1980er Jahre hinein weigerte sich die Bundesrepublik Deutschland, den Genozid an Sinti und Roma anzuerkennen und verweigerte somit auch jegliche Entschädigung. Opfer und Täter_innen trafen in Institutionen wieder aufeinander. Dies führte zu einer sogenannten sekundären Traumatisierung oder „Zweiten Verfolgung“. Die Studie machte auch deutlich, dass sich mehr als die Hälfte der Befragten des Projekts vor Diskriminierung bei Behördenbesuchen fürchten.

Das Ergebnis der Bildungsstudie ergibt im Gesamtbild einen unzureichenden Zugang zum Bildungssystem und zeigt Gründe für das Scheitern von Bildungsprozessen auf. Die Studie weist auf intergenerationelle Traumatisierung, gegenwärtige Diskriminierung und fehlende Teilhabechancen hin. Diese Studie zeigte auch, dass nicht nur bei der Identifizierung von bildungsrelevanten Faktoren im Lebensalltag es der Beteiligung der Minderheit bedarf. Daniel Strauß: „Auch die Überwindung der festgestellten ‚Bildungsmisere‘ kann nur im Zusammenspiel von Mehrheit und Minderheit, vorrangig natürlich im Rahmen staatlich organisierter Bildungsprozesse, gedacht und realisiert werden“ (Strauß 2011 b: 51).

Fazit

Als Fazit enthält die Studie Handlungsempfehlungen, auf die ich an dieser Stelle nur verweise. 5 Jahre nach der Erhebung fanden 2016 Nachinterviews mit den Befragten im Alter von 14 bis 25 Jahren statt, um zu überprüfen, inwiefern Bildungsförderungsmaßnahmen zur Verbesserung der Bildungssituation seit 2011 beigetragen haben. 80% der Befragten gaben an, dass sich die Bildungssituation leicht bis sehr verbessert habe.

Literatur

Bundesarbeitsgemeinschaft RAA et.al.: Ergänzungsbericht von Vertreter/innen der Roma-Zivilgesellschaft und anderer Interessensträger und Expert/innen zum Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission zum EU-Rahmen für Nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020, o.O. 2012.

Bundesministerium des Inneren: Bericht der Bundesrepublik Deutschland an die Europäische Kommission: EU-Rahmen für nationale Strategien zur Integration der Roma bis 2020 – Integrierte Maßnahmenpakete zur Integration und Teilhabe der Sinti und Roma in Deutschland –, Bonn 2011.

Schuch, Jane: Antiziganismus als Bildungsbarriere, 2015: https://heimatkunde.boell.de/2015/02/24/antiziganismus-als-bildungsbarriere (03.04.2107).

Strauß, Daniel a: Studie zur aktuellen Bildungssituation deutscher Sinti und Roma: Dokumentation und Forschungsbericht, Marburg 2011.

Strauß, Daniel b: Zur Bildungssituation von deutschen Sinti und Roma; In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Band 22-23, Bonn 2011.

 

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