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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Nadja Grintzewitsch
Es sind Zahlen, die sich kaum einer vorstellen kann: Von 714.000 Häftlingen, die im Januar 1945 in deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren, erlebte eine Viertelmillion das Kriegsende nicht mehr. Grund dafür waren nicht allein die katastrophale Versorgungslage und verheerende Krankheiten, sondern auch die einsetzenden Evakuierungsmärsche von Häftlingen aus verschiedenen Lagern.
Diese Evakuierungen wurden über weite Distanzen mit Zügen, Booten, Fahrzeugen oder zu Fuß durchgeführt und endeten für viele sowieso schon geschwächte Häftlinge tödlich. Jeder, der dem vorgegebenen Tempo nicht folgen konnte, wurde am Wegesrand erschossen und liegen gelassen. Bis zum Schluss wollte die SS die Kontrolle über die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter behalten. Nachdem die Konzentrations- und Vernichtungslager in den besetzten Gebieten geräumt worden waren, verschoben die verantwortlichen KZ-Kommandanten die ankommenden Häftlinge innerhalb des Deutschen Reiches scheinbar planlos von Lager zu Lager.
Völliges Desinteresse
Anfang des Jahres 1945 interessierte sich keiner der führenden Nationalsozialisten mehr für die Hunderttausende von Konzentrationslagerhäftlingen. Der Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei, Heinrich Himmler, verfolgte in jenen Tagen seine eigene Politik, verhandelte mit den Alliierten und sogar jüdischen Verbänden. Oswald Pohl, der Chef des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes, war vorrangig mit der Vernichtung von belastendem Aktenmaterial beschäftigt. So führten sich einander widersprechende Befehle, zusammenbrechende Kommunikationswege und unklare Zuständigkeiten zu etwas, das Autor Daniel Blatman als »administrativen Wirrwarr« bezeichnet. Ihm widmet er in seinem Buch „Die Todesmärsche 1944/45“ ein eigenes Kapitel. Saß ein Häftlingstransport in Folge einer Bombardierung an einem Bahnhof oder auf freier Strecke fest, auch das macht Blatman deutlich, so hing das Schicksal der Evakuierten von lokalen Entscheidungsträgern ab.
Das Massaker von Gardelegen
Volkssturmmänner im Rentenalter, 16-jährige Hitlerjungen und die örtliche Feuerwehr: Sie alle halfen mit, in der altmärkischen Kleinstadt Gardelegen eines der größten Massaker der letzten Kriegstage durchzuführen und zu vertuschen. Geplant wurde der Mord an über 1.000 KZ-Häftlingen von dem fanatischen NSDAP-Kreisleiter Gerhard Thiele: Dieser ließ in Eigenregie die sich nach einem Luftangriff in Gardelegen wiederfindenden Häftlinge in eine nahe gelegene Scheune sperren. Diese wurde in den späten Abendstunden des 12. April 1945 mit Panzerfäusten in Brand gesetzt und jeder Häftling, der den Flammen entkam, mit Maschinenpistolen brutal ermordet. Die Waffen stellte ein nahegelegener Luftwaffenstützpunkt zur Verfügung. Anschließend versuchten Volkssturmmänner und Feuerwehr, die verkohlten Leichen in Massengräbern verschwinden zu lassen. Das alles spielte sich wenige Stunden vor dem Eintreffen der US-amerikanischen Truppen ab. Und keiner der Beteiligten widersprach den Anordnungen des Kreisleiters.
Etwa zur selben Zeit gelang es Häftlingen in Celle in das nahe gelegene Neustädter Holz zu flüchten. Ihr Transport war von amerikanischen Flugzeugen bombardiert worden, die Wachmannschaften geflüchtet. An der anschließenden Suche nach den Häftlingen beteiligten sich nicht nur Angehörige der Wehrmacht, sondern auch die örtliche Polizei und einfache Zivilisten mit Schusswaffen. Mindestens 170 Menschen wurden Opfer dieser Treibjagd. Unter dem Euphemismus „Celler Hasenjagd“, der das fehlende Unrechtsbewusstsein der Täter genauestens beschreibt, erlangte dieses Massaker später traurige Berühmtheit.
Auch in Jävenitz, unweit von Gardelegen, bedienten sich die Täter eines Vokabulars, das eher an eine harmlose Safari als an Massenmord erinnert: „Wir gehen auf Jagd, um die Zebras abzuschießen“, erklärte ein Jugendlicher kurz vor seinem „Einsatz“. Dabei bezog er sich auf die blau-weiß gestreifte Kleidung der Häftlinge. In Jävenitz ermordeten Einwohner in Zusammenarbeit mit der Wehrmacht mindestens 35 Häftlinge, nicht wenige Täter gehörten der Hitlerjugend an.
Detaillierte Forschungsarbeit
Dass sich solche und weitere Massaker an KZ-Häftlingen in den letzten Kriegstagen abspielten, ist nicht neu. Zwar widmete sich die Forschung den Todesmärschen erst relativ spät, doch entstanden nach und nach zahlreiche Regionalstudien zu dieser Thematik. Daniel Blatman ist indes der erste Historiker, der dem letzten Kapitel des nationalsozialistischen Massenmordes eine umfassende Monographie gewidmet hat. Mehr als zehn Jahre hat er an dem Buch geschrieben, über 20 Archive in sechs europäischen Staaten sowie den USA und Israel aufgesucht.
Blatman erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, auch wenn er minutiös regionale Forschungsergebnisse zusammen getragen hat. Was diese Studie so wertvoll macht, ist sein detaillierter Blick auf zeitliche Abfolgen, Befehlsketten und kausale Zusammenhänge im ersten Teil des Buches. Verdienstvoll ist Blatmans Werk auch deswegen, weil er im zweiten Teil die Herkunft und die Motive der Täter genauestens analysiert. Vom Volkssturmmann, der angesichts der bedrohlichen Gestalten seine Familie, sein Heim und seinen Besitz zu verteidigen glaubte, bis hin zum KZ-Häftling, der seine Überlebenschancen steigen sah, indem er unter Waffengewalt seine Kameraden zum Hinrichtungsort begleitete, nimmt Blatman jeden unter die Lupe. Erschreckend ist sein Fazit, dass eben kein dezidierter Vernichtungsbefehl „von oben“ existierte, sondern die deutsche Bevölkerung von einem „Virus entfesselter Gewalt“ befallen war. Wie eine ansteckende Krankheit breitete sich laut Blatman die Gewaltbereitschaft der deutschen Zivilistinnen und Zivilisten aus – bei genauerer Betrachtung ein problematisches Bild. Denn die Mitwirkung der Bevölkerung an den Morden bliebe so auf äußere Faktoren beschränkt, die inneren Motive außer Acht lassend. Zudem erschiene diese Gewaltbereitschaft mit den richtigen Behandlungsmethoden als ebenso rasch wieder heilbar.
Fehlerhafte Übersetzung
Trotz Blatmans sorgfältiger Recherche hat das Buch – allen Bemühungen der Lektorin zum Trotz – durch die Übersetzung einigen Schaden genommen. So wurden Fachausdrücke falsch verwendet oder verdreht, das Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) zu einem Verwaltungs- und Wirtschaftshauptamt (VuWHA). Gleich mehrfach wurden „Höhere SS- und Polizeiführer“ zu „Höheren SS-und Polizeioffizieren“ deklariert. Und bei einem zentralen Himmler-Befehl wie dem vom 14. April 1945 („Kein Häftling darf lebend zurück gelassen werden“) hätte man sich gewünscht, dass der Übersetzer seinen Text mit dem deutschen Original vergleicht: Hier stimmt Vieles nicht überein.
Verschwommenes Fazit
Blatmans Grundthese lautet, die Todesmärsche seien Teil des geplanten Völkermordes gewesen, „der 1941 begann und erst mit Kriegsende aufhörte“. Die Evakuierungen, so der Autor, wurden in den letzten Kriegswochen aufgrund fehlender anderer Mordmethoden „zur einzig noch möglichen Massenvernichtungstechnik“. Dabei richtete sich der Mordwille nicht mehr gesondert gegen die Gruppe der jüdischen Häftlinge, sondern gegen das imaginierte dämonische Kollektiv von marschierenden Menschen, die zum einen als nicht lebenswert empfunden und zum anderen zunehmend als Bedrohung für die Bevölkerung wahrgenommen wurden.
Diese These erweist sich schon deshalb als nicht haltbar, da sich ein Genozid gegen eine klar definierte religiöse oder ethnische Minderheit richtet. Stellenweise widerspricht sich der Autor in seinem Fazit sogar selbst. Stellt er einerseits klar, dass eine „mörderische Ideologie“ die treibende Kraft hinter den Endphaseverbrechen gewesen sei, so spricht er wenig später von einem „nihilistischen, lokal begrenzten Akt“. Blatman betont mehrmals, dass sich der Mord an den Häftlingen nicht allein durch die chaotischen Verhältnisse der letzten Kriegstage erklären ließe. Doch gegen seine Darstellung eines fortgesetzten Genozids spricht nicht nur, dass sich die Erschießungen während der Todesmärsche unterschiedslos gegen alle Häftlingsgruppen richteten. Auch die Täter waren andere, und die Morde, wie Blatman an anderer Stelle schreibt, „auf eine Reihe von Einzelentscheidungen“ zurückzuführen. Schließlich identifiziert er die Handlungsweise der Täter sogar als „Folge eines Abwägens von Nutzen, Effektivität, Zeitpunkt und lokalen Gegebenheiten“, in der die Ideologie vollständig ausgeklammert bleibt. Angst, Rachegedanken und Frustration angesichts der sich abzeichnenden Niederlage waren weitere Faktoren, die das Verhalten der Verbrecher bestimmten. Somit besteht die Wahrheit, wie so oft, aus einem Konglomerat mehrerer Erklärungsansätze.
Ein Buch, das nachdenklich stimmt
Auch wenn das Fazit nicht überzeugt, so fügt Blatmans verdienstvolles Werk doch die Einzelgeschehnisse während der Todesmärsche zu einem grauenhaften Gesamtbild zusammen. Auch deswegen ist das Buch nicht unbedingt als Abendlektüre zu empfehlen. Beinahe auf jeder zweiten Seite ist eine Mordaktion detailliert beschrieben. Nach der Lektüre bleibt der Leser nachdenklich zurück. Eine traurige Erkenntnis lautet, dass die Beteiligung von deutschen Zivilisten an Endphaseverbrechen häufiger auftrat, als gedacht – und dass die Erforschung dieser Thematik erst am Anfang steht
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- 16 Mär 2017 - 14:02