An Massaker erinnern. Das Massaker von Gardelegen in Bildungsarbeit und Erinnerungskultur
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Thomas Irmer
Im Februar 2017 kündigte der Finanzausschuss des Landtages von Sachsen-Anhalt an, Mittel für den Bau eines neuen Besucher- und Dokumentationszentrums in der Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune zur Verfügung zu stellen. Mit der Verabschiedung des Haushalts bewilligte das Landesparlament Anfang März 2017 dieses Vorhaben. Eine Entscheidung, die an den einstimmigen Landtagsbeschluss von 2012 anknüpft, ein solches Zentrum am historischen Ort in Gardelegen zu errichten. Somit wird nun eine weitergehende Rekonstruktion, Analyse und Interpretation des Massakers von Gardelegen ermöglicht, dessen Geschichte am historischen Ort bisher nur ansatzweise erzählt werden konnte.
Das neue Besucher- und Dokumentationszentrum wird am Rand des Gedenkstätten-Geländes errichtet - in Sichtweite sowohl zum früheren Tatort wie zur im Stil eines amerikanischen Soldatenfriedhofs angelegten Begräbnisstätte für mehr als 1.000 KZ-Häftlinge.
Das neue Zentrum ist nicht nur für die Erinnerungskultur und Bildungsarbeit in der Region der Altmark von großer Ausstrahlungskraft: In Gardelegen kann nun ein exemplarischer Lernort gezielt zur Geschichte der Todesmärsche entstehen, der sich mit Fragestellungen und Erklärungsversuchen befasst, die sich für die sogenannten Endphasen-Verbrechen überall in Deutschland stellen.
Der Aufbau des neuen Dokumentationszentrums und die Konzeption der Dauerausstellung fallen in eine Zeit, in der KZ-Gedenkstätten sowie die NS- und die regionalgeschichtliche Forschung die Todesmärsche und andere Kriegsendphasen-Verbrechen jenseits der Lager wieder stärker in den Blick genommen haben. Hinzu kommt, dass auch die durch Massenerschießungen gekennzeichneten Anfänge des nationalsozialistischen Massenmords vermehrt in der Erinnerungskultur in Deutschland und Europa thematisiert werden.
Das Massaker von Gardelegen
Gardelegen steht für das letzte Kapitel der Lager - die Todesmärsche der KZ-Häftlinge.
Sie begannen 1944/45, als die SS die Lager angesichts der näher rückenden alliierten Truppen zunächst verkleinerte und dann komplett räumte. Die KZ-Häftlinge wurden nicht freigelassen, sondern auf auszehrende Fußmärsche getrieben oder in Eisenbahnwaggons abtransportiert. Jüngere Schätzungen gehen davon aus, dass bei den Todesmärschen mehr als eine Viertelmillionen Menschen ums Leben kamen.
In diesem Zeitraum befanden sich zahlreiche Marschkolonnen und Transporte mit ausgemergelten KZ-Häftlingen überall im Reichsgebiet, so auch in der nördlich von Magdeburg gelegenen Altmark. Anfang April trafen zwei Zugtransporte mit Häftlingen aus Außenlagern der KZ Neuengamme und Mittelbau-Dora in der Altmark ein, die zu diesem Zeitpunkt noch von keiner der alliierten Truppen befreit worden war. Aufgrund des Kriegsverlaufs stoppten die Züge in den Bahnhöfen Mieste und Letzlingen. Von den beiden Bahnhöfen wurde ein Großteil der KZ-Häftlinge in Marschkolonnen in Richtung Gardelegen getrieben. Auf dem Weg starben Häftlinge an Entkräftung oder durch Schüsse der SS. Aber auch Einheimische wie Jugendliche der Hitler-Jugend beteiligten sich an der Jagd auf KZ-Häftlinge, die versuchten, sich zu verstecken oder zu fliehen. In den Ortschaften Mieste, Estedt und Jävenitz wurden kleinere Gruppen von KZ-Häftlingen sowie auch polnische Zwangsarbeiter von SS-Männern und Angehörigen der Wehrmacht getötet. Entlang der Strecken der Todesmärsche zwischen Mieste bzw. Letzlingen und Gardelegen wurden später Leichen von über 370 KZ-Häftlingen bestattet.
In Gardelegen wurden die KZ-Häftlinge zunächst in einer Wehrmachtskaserne gesammelt, bevor etwa 1000 von ihnen in eine aus Stein gemauerte, große Feldscheune des Rittergutes Isenschnibbe am Rande der Stadt getrieben wurden. Nachdem die KZ-Häftlinge dort eingesperrt worden waren, wurde die Scheune in Brand gesteckt. Von außen wurde mit Gewehren und Granaten in das Innere gefeuert. Ein Großteil der Eingesperrten erstickte qualvoll, verbrannte bei lebendigem Leibe oder starb durch den Beschuss. Nur wenige Menschen überlebten das Massaker, weil ihnen die Flucht gelang.
Das Massaker von Gardelegen war kein spontanes Verbrechen, sondern wurde von verschiedenen Akteuren logistisch vorbereitet und durchgeführt. Nach Ermittlungen der US-Army waren an der Ermordung der KZ-Häftlinge eine Tätergruppe von 100 bis 120 Personen beteiligt: nicht nur SS-Männer und Soldaten der Wehrmacht, sondern auch Angehörige lokaler NS-Organisationen wie des Reichsarbeitsdienstes oder des Volkssturms. Wenig untersucht sind bisher die Reaktionen der anderen Einwohnerinnen und Einwohner, die zu Hause blieben.
Eine maßgebliche Mitverantwortung für die Organisation des Massakers hatte der NSDAP-Kreisleiter von Gardelegen. Er tauchte später unter und lebte bis zu seinem Lebensende 1994 in Düsseldorf. Er hatte sich eine andere Identität zugelegt, die 1997 durch Ermittlungen des Landeskriminalamts Sachsen-Anhalt aufgedeckt wurde. Wie die meisten anderen Tatbeteiligten wurde er nie zur Verantwortung gezogen.
Das kurz vor Kriegsende noch solch ein Verbrechen unter Beteiligung verschiedenster Akteure jenseits der SS durchgeführt wurde, ist eine zutiefst verstörende wie beunruhigende Wahrheit, die der historische Ort auch vermittelt. Warum ein Massaker? Warum in Gardelegen? War Gardelegen überall? Wer waren die Opfer? Und wer die Täter? Diese und weitere Fragen können jetzt im neuen Besucher- und Dokumentationszentrum am historischen Ort bearbeitet werden.
Gardelegen in der Erinnerungskultur
Kurz nach der Befreiung wurde das Massaker von Gardelegen durch einen Artikel in der damals weitverbreitete amerikanische Illustrierte „LIFE“ weltweit bekannt. Unter der Überschrift „The Holocaust of Gardelegen“ druckte das Magazin Anfang Mai 1945 schockierende Schwarz-Weiß-Fotografien von verkohlten Häftlingsleichen in der Feldscheune ab. Die Aufnahmen hatten Soldaten der US-Army erstellt.
Durch den Bericht in einer ein Massenpublikum erreichenden Illustrierten wurde Gardelegen schon früh Teil einer internationalen Erinnerungskultur. Gardelegen ist aber auch deshalb ein europäischer und internationaler Gedenkort, weil die Opfer des Massakers aus allen Teilen Europas kamen.
Schließlich verdeutlicht Gardelegen auf vielfältige Weise auch Probleme des Erinnerns an den Massenmord: Angefangen von der Unmöglichkeit, einen Großteil der Opfer zu identifizieren und ihnen einen Namen geben zu können bis hin zur Frage, wie Gardelegen und andere Orte des Massenmords in die Erinnerungskultur einbezogen werden.
Am historischen Ort in der Altmark befindet sich heute eine Gedenkstätte, in deren Mittelpunkt die als Militärfriedhof angelegte Grabanlage mit mehr als 1.000, durch weiße Kreuze gekennzeichnete Einzelgräbern steht. In der DDR-Zeit wurde auf dem Gelände außerdem eine Mahn- und Gedenkstätte errichtet, deren Schwerpunkt am Standort der früheren Feldscheune lag. Die DDR-Gedenkstätte ist heute selbst zu einem zeithistorischen Relikt geworden. Sie muss etwa im Hinblick auf die pauschale Vereinnahmung der Opfer als Antifaschisten kommentiert werden. Ein 2013 errichtetes Besucherleitsystem vermittelt Grundinformationen zur Geschichte des Ortes und des Massakers.
Das neue Besucher -und Dokumentationszentrum
Bereits im vergangenen Jahr wurde mit einem Wettbewerb über die Gestaltung des neuen Museumsgebäudes entschieden. Der siegreiche Entwurf sieht einen Riegel vor, der sich behutsam in das Gelände einfügt. Für die darin unterzubringende neue Dauerausstellung sind sechs thematische Schwerpunkte vorgesehen: neben der Auflösung des KZ-Systems und dem Beginn der Räumungstransporte zählen dazu auch die wenig bekannte Geschichte von Gardelegen in der NS-Zeit, die Todesmärsche in der Altmark und natürlich das Massaker selbst.
Literatur
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Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 2011.
Ines Bernt-Koppensteiner, Nirgendwohin: Todesmärsche durch Oberösterreich 1945 : eine Spurensuche in die Zukunft, Steyr: Entsahnter Verlag 2015.
Jean-Luc Blondel, Susanne Urban, Sebastian Schönemann, Sebastian (Hrsg.): Freilegungen: auf den Spuren der Todesmärsche, Göttingen: Wallstein 2012.
Marc Buggeln: Arbeit & Gewalt. Das Außenlagersystem des KZ Neuengamme, Göttingen 2009.
Hans Brenner: Todesmärsche und Todestransporte : Konzentrationslager Groß-Rosen und die Nebenlager, Chemnitz: Gumnior 2015.
Einsicht 13 - Bulletin des Fritz Bauer-Instituts: Mit Beiträgen von Sven Keller, Claudia Bade, Sybille Steinbacher, Daniel Blatman und Edith Raim, Frankfurt/M., 7. Jg., April 2015.
Simone Erpel: ZwischenVernichtung und Befreiung. Das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück in der letzten Kriegsphase, Berlin: Metropol 2005.
Andreas Froese-Karow: Gestaltung und Realisierung der Dauerausstellung „Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen“ in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen, Magdeburg 2016.
Andreas Froese-Karow: Gedenken gestalten. Das neue Besucher- und Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Isenschnibber Feldscheune, in: Gedenkstätten-Rundbrief Nr. 182, hrsg. von der Stiftung Topografie des Terrors, Berlin 2016, S. 35-43.
Detlef Garbe/Carmen Lange (Hrsg.): Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, Bremen: Edition Temmen 2005.
Detlef Garbe/Günther Morsch (Hrsg.): Kriegsendverbrechen zwischen Untergangschaos und Vernichtungsprogramm, (= Konzentrationslager. Studien zur Geschichte des NS-Terrors, Heft 1), Berlin: Metropol 2015.
Daniel J. Goldhagen: Hitler's Willing Executioners.Ordinary Germans and the Holocaust, New York: A. Knopf 1996.
Katrin Greiser: Die Todesmärsche von Buchenwald : Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung/Katrin Greiser. Hrsg. von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Göttingen: Wallstein 2008.
Diana Gring: Das Massaker von Gardelegen. Ansätze zur Spezifizierung von Todesmärschen am Beispiel Gardelegen. in: Garbe, Lange: Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung.
Regine Heubaum. Zwischen Harz und Heide : Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945. Begleitband zur Wanderausstellung, Göttingen: Wallstein, 2015.
Katharina Hertz-Eichenrode: Ein KZ wird geräumt: Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung ; die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945 ; Katalog zur Wanderausstellung, Bremen: Edition Temmen, 2000.
Stefan Hördler: Ordnung und Inferno. Das KZ-System im letzten Kriegsjahr. Göttingen: Wallstein 2015.
Thomas Irmer: 70 Jahre Massaker von Gardelegen, in: Rundbrief „Erinnern! Aufgabe, Chance Herausforderung“ Nr. 1/2005, hrsg. von der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2015, S. 40-47.
Thomas Irmer: Neue Quellen zur Geschichte des Massakers von Gardelegen, in: Gedenkstättenrundbrief Nr. 156, hrsg. von der Stiftung Topografie des Terrors, Berlin 2009, S. 14-19.
Sven Keller: Volksgemeinschaft am Ende : Gesellschaft und Gewalt 1944/45, München: Oldenbourg, 2013.
Ian Kershaw: Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45, München: DVA 2011.
Günter Morsch/Alfred Reckendress: Befreiung Sachsenhausen 1945 (= Schriftenreihe der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten Nr. 7), Berlin: Edition Hentrich 1996.
Delia Müller, Madlen Leschies: Tage der Angst und der Hoffnung. Erinnerung an die Todesmärsche aus dem Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück Ende April 1945 (= Schriftenreihe der Dr. Hildegard Hantsche-Stiftung Bd. 2), Berlin o.J.
Joachim Neander: Vernichtung durch Evakuierung? Die Praxis der Auflösung der Lager - Fakten, Legenden und Mythen, in: Garbe, Lange: Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung.
Edith Raim: Justiz zwischen Diktatur und Demokratie : Wiederaufbau und Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland 1945 - 1949, München: Oldenbourg, 2013-
Joanne Reilly: Belsen. The liberation of a concentration camp, London and New York: Routledge 1998.
Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.): Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944, Ausstellungskatalog, Berlin 2016.
Jacques Sémelin: Säubern und Vernichten. Die politische Dimension von Massakern und Völkermorden, Hamburg: Hamburger Edition 2007.
Bernhard Strebel: Celle April 1945 revisited. Ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2008.
Jens-Christian Wagner: Mörderisches Ende. Todesmärsche, Räumungstransporte und die Auflösung der Konzentrationslager, in: Garbe/Morsch, Konzentrationslager. S. 17-36.
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- 15 Mär 2017 - 09:28