Empfehlung Fachbuch

Erinnern mit Hindernissen: Osteuropäische Gedenktage und Jubiläen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Rudolf Jaworski, Jan Kusber (Hrsg.): Erinnern mit Hindernissen. Osteuropäische Gedenktage und Jubiläen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, LIT Verlag, Berlin 2011. 292 Seiten, 29,90 Euro. 

Von Christian Schmitt

In osteuropäischen Staaten wie Ungarn, Russland oder Polen gehören politisch ausgeschmückte Geschichtsnarrative wie selbstverständlich zum Repertoire der dort Regierenden und dienen dabei leicht durchschaubaren Zwecken der Selbstlegitimierung. Wie dies im konkreten Fall von Polen geschieht, zeigt etwa eine Themenseite auf dem Webportal Zeitgeschichte Online. Der von Rudolf Jaworski und Jan Kusber herausgegebene Sammelband „Erinnern mit Hindernissen. Osteuropäische Gedenktage und Jubiläen im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ widmet sich auch, aber nicht nur der polnischen Erinnerungskultur (ein Aufsatz betrachtet das Gedenken an den Warschauer Aufstand). In insgesamt elf Beiträgen nehmen sich die Autor_innen ausgewählter Ereignisse der regionalen Geschichte an und analysieren die historische Entwicklung der von wechselnden politischen Verhältnissen geprägten Erinnerung an sie bis in die Gegenwart. Nach Jaworskis einleitender und einordnender Betrachtung osteuropäischer Jubiläen und Gedenktage umfasst das Themenspektrum „große Ereignisse“ wie die Oktoberrevolution, aber auch weniger bekannte Stadtjubiläen in Russland oder Revolutionsmythen in Rumänien und Ungarn.

David Feest beleuchtet in einem Aufsatz die – letztliche erfolglosen – Versuche der sowjetischen Regierungen, die Eingliederung des Baltikums in die UDSSR 1940 im Nachhinein als sozialistische Revolution in der Erinnerungskultur der baltischen Bevölkerung zu verankern. Der Autor stellt zunächst die Fälschlichkeit des Revolutionsbegriffs für die Vorgänge von 1940 heraus: Der Beitrittsprozess erfolgte auf massiven militärischen Druck der Sowjetunion, die bereits seit 1939 Truppen in Estland, Litauen und Lettland stationiert hatte. Feest zu Folge machten die sowjetischen Besatzer aus einer Vielzahl von Gründen zunächst auch gar keine Anstalten, ein revolutionäres Bild zu inszenieren; zu offensichtlich war die sorgfältige Vorbereitung aus Moskau. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte die Interpretation der Ereignisse keinem festen Schema und schwankte laut Feest insbesondere in der Frage, ob die Demonstrationszüge im Juni oder der offizielle Beitritt zur UDSSR im Juli 1940 entscheidender Bezugspunkt der Erinnerungskultur sein sollten.

Strategien der offiziellen Erinnerung: „Geerbte Legitimität“ und „geborgte Legitimität“

Erst in den 1960er-Jahren macht der Autor Versuche aus, solche Widersprüchlichkeiten zu beseitigen: Tageszeitungen marginalisierten die „Juniwende“, wohingegen der 21. Juli als Gründungstag aller drei Sowjetrepubliken aufwändig gefeiert wurde. Als Legitimation für die gesellschaftliche Umgestaltung seit 1940 dienten jedoch von Anfang an andere Narrative. Feest verweist hier hauptsächlich auf zwei Strategien: „Geerbte Legitimität“ und „geborgte Legitimität“. Erstere verfolgte das Ziel, vom „eigentlichen sowjetischen Gründungsmythos – der Oktoberrevolution – zu zehren, indem man die Ereignisse von 1940 nur als ihre nachgeordnete Instanz betrachtete“ (S. 189). Die „geborgte Legitimität“ folgte dagegen dem Muster, den Revolutionsmythos mangels eigener Symbolik mit Ereignissen und Ritualen zu verknüpfen, die – im Gegensatz zur Oktoberrevolution – in keinem inhaltlichen Zusammenhang mit ihm standen, selbst jedoch über eine mobilisierende Wirkung verfügten. Unter anderem am Beispiel der estnischen Sängerfeste zeigt Feest, wie das Sowjetregime versuchte, „die emotionale Wirkung […] ursprünglich dezidiert national geprägte[r] Veranstaltung[en] für sich nutzbar zu machen“ (S. 191). Schließlich schlussfolgert Feest, dass nicht zuletzt parteiinterne Deutungskämpfe dafür sorgten, dass man heute von einer „vergessenen Revolution“ sprechen kann, die in der Erinnerungskultur von Lett_innen, Est_innen und Litauer_innen keine nennenswerte Rolle einnimmt.

In einem anderen Beitrag widmet sich Elena Mannová der Erinnerung an den slowakischen Nationalaufstand von 1944 (SNP). Die Bewertung des Aufstands war bereits unmittelbar nach seiner Niederschlagung keinesfalls einheitlich: Sprach das slowakische Kollaborationsregime anschließend von einem kleinen Putsch, „als Werk ‚nichtslowakischer‘ Elemente“ (S. 202), wollten die deutschen Besatzer mit allen Mitteln einen bedeutenden Sieg verkünden. Die Autorin setzt daraufhin unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an, als Bezirks- und Ortsnationalausschüsse von der tschechoslowakischen Selbstverwaltung aufgefordert waren, den ersten Jahrestag „auf würdevolle und prächtige Weise“ (S. 203) zu feiern. Ziel war es, für den Wiederaufbau des Landes im Rahmen der Tschechoslowakei zu werben. Laut Mannová spiegelten schon die darauf folgenden Jahrestage „den Kompetenzverlust der slowakischen Nationalorgane zugunsten der Prager Institutionen wider“ (S. 205).

Kommunistische Selbstlegitimierung vs. Streben nach nationaler Identität

Nach der Machtübernahme „gewann die [Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPČ)] das exklusive Recht, das ‚historische Erbe‘ des SNP zu gestalten“ (S. 208). Die Autorin zeigt an mehreren Beispielen, wie in den Folgejahren die nun gesamttschechoslowakischen Jubiläumsfeiern die Unterstützung des Aufstandes durch die UDSSR sowie die herausragende Rolle der Kommunistischen Partei für sein Zustandekommen betonten – in wechselnden Formen, aber immer mit dem Motiv, der SNP sei ein Meilenstein auf dem slowakischen Weg zum Sozialismus und zum Sieg über den Faschismus gewesen. Mit der vollständigen Zentralisierung der Tschechoslowakei 1960 wurde der Deutungskampf um den SNP ein Bestandteil innerparteilicher Machtkämpfe. Die offizielle – vermeintlich versöhnliche – Botschaft der Feierlichkeiten war Ende der 1960er-Jahre die „Existenz zweier sozialistischer Nationen und ihr […] gemeinsame[s] sozialistische[s] Zusammenleben“ (S. 216). Die Wiedersprüche dieser Argumentation waren angesichts der wachsenden slowakischen Unzufriedenheit mit dem „national-nihilistischen[n] politische[n] Kurs“ (S. 216) allerdings kaum noch zu kaschieren. Bislang verschwiegene Umstände des SNP wurden 1968 erstmals frei in der Presse diskutiert; im selben Jahr wohnten seit langem auch wieder Vertreter_innen des demokratischen Widerstands den Feierlichkeiten bei. Mannová konstatiert die Unmöglichkeit, die weitere Nationalisierung des Andenkens ab den späten 1960er Jahren zu stoppen oder gar umzukehren.

Auf die politische Wende von 1989 folgte eine erinnerungskulturelle Wende, die den SNP offiziell zu einer „demokratischen[n], proeuropäische[n] Tradition“ (S. 219) und zur „Grundlage für die demokratische Rekonstruktion der nationalen Identität“ (ebd.) machte. Und dennoch verlor das Gedenken an den Aufstand in der slowakischen Öffentlichkeit zunehmend an Bedeutung. Mannová sieht einen wichtigen Grund hierfür darin, dass „nach der Entstehung des selbstständigen Staates die Bedeutung eines nationalen Gedächtnisorts, den man gegen die Tschechen verteidigen musste“ (S. 220), entfiel. Abschließend fügt eine vergleichende Betrachtung von offiziellem und inoffiziellem Gedächtnis an den SNP der Abhandlung eine weitere aufschlussreiche Perspektive hinzu und verdeutlicht noch einmal die Gegenläufigkeit von kommunistischer Selbstlegitimierung und dem slowakischen Streben nach nationaler Identität.

Zusammenfassung

Die elf Aufsätze im Sammelband von Jaworski und Kusber werfen anhand naheliegender Beispiele einen aufschlussreichen Blick auf die historische Entwicklung osteuropäischer Erinnerungskulturen und ihre auch heute noch wahrnehmbaren Ausprägungen. Die Beiträge machen Prozesse sichtbar, deren Kenntnis einen Beitrag zum interkulturellen Verständnis zu leisten vermag und die Identität der ehemals kommunistischen Staaten und Gesellschaften ein Stück weit begreifbar macht. Für Leser_innen ohne fundierte Kenntnisse der osteuropäischen Geschichte empfiehlt sich die Zuhilfenahme eines (digitalen) Nachschlagewerkes, setzen die Autor_innen doch ein überdurchschnittliches Maß an Hintergrundwissen voraus.

 

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