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Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen

Von Frederik Schetter

Seit ihrem Antritt im Oktober 2015 setzte die nationalkonservative Regierung Polens mehrere umstrittene Mediengesetze und Gerichtsreformen durch. Es mehren sich im europäischen und internationalen Ausland die Stimmen, die vor einer Umwandlung Polens in einen autoritären Staat warnen. Die Regierungspartei PiS (Recht und Gerechtigkeit) setzt – beispielsweise bei Debatten um Geflüchtete oder über den Umgang mit Russland – zunehmend auf nationalistische Töne. Geschichtliche Narrative dienen ihr dabei als Legitimationsressource. Den aktuellen politischen Prozessen und speziell der Frage, was diese für die polnische Geschichtspolitik bedeuten, widmet sich eine auf dem zeithistorischen Fachportal Zeitgeschichte Online veröffentlichte Sammlung von insgesamt sechs Beiträgen. In diesen analysieren Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaftler_innen unterschiedliche Aspekte historischer Narrative, stellen sie jeweils in den Kontext der aktuellen politischen Situation und wagen einen Blick in die Zukunft.

Nationalistische Geschichtspolitik ohne Grautöne 

Kathrin Stoll, Sabine Stach und Magdalena Saryusz-Wolska setzen sich in ihrem einführenden Beitrag mit dem Versuch der aktuellen polnischen Regierung auseinander, eine nationalistische Sicht der Vergangenheit zum dominierenden Narrativ zu machen. Beispiele wie die Einflussnahme auf historische Ausstellungen, aber auch der Umgang mit dem ehemaligen Staatspräsidenten Lech Wałęsa oder dem Historiker und Soziologen Jan Tomasz Gross zeigen sowohl die Intention, „sämtliche als ‚feindlich‘ etikettierte Interpretationen zu marginalisieren oder zu überdecken“, als auch die vielfältigen Mittel, derer sich die Regierung dabei bedient. Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) sehen die Autorinnen dabei zukünftig in einer zentralen Rolle für die von der polnischen Regierung praktizierten Geschichtspolitik.

Karol Franczak und Magdalena Nowicka arbeiten auf dieser Basis drei Phänomene heraus, welche die aktuelle Geschichtspolitik prägen. Erstens die Schaffung eines positiv konnotierten, jeglicher Grautöne beraubten Geschichtsbildes, in dem Polen als „Nation der Gerechten“ präsentiert wird. Zweitens die Diskreditierung von bisherigen Autoritäten wie beispielsweise Lech Wałęsa. Drittens die zunehmende sprachliche Polarisierung, die „wissenschaftliche Analysen beinahe obsolet erscheinen“ lasse, da Kritik an der Regierung und ihren Kommunikationsformen als „Verrat an der Nation“ definiert werde und Selbstkritik praktisch nicht existent sei. Diese letzte Beobachtung, so arbeiten Franczak und Nowicka schlüssig heraus, gelte jedoch ebenfalls für die Opposition, die darüber hinaus auch keine „positive Alternative zur rechtskonservativen Gegen-Geschichte“ besitze.

Polarisierung, Professionalisierung und Radikalisierung

Maria Kobielska widmet sich dem Narrativ der „Verstoßenen Soldaten“. Das Gedenken an die polnischen Partisanenverbände, die im Rahmen des Zweiten Weltkriegs gegen Nationalsozialisten und Rote Armee kämpften, bilde die Basis des aktuellen „Erinnerungsbooms“. Aspekte wie schwere, teils antisemitisch begründete Verbrechen, welche die Partisan_innen begingen, verschweige vor allem das nationalkonservative Spektrum. Anstatt die Komplexität und Ambivalenz der Thematik herauszuarbeiten, werde diese so auf eine einfache, einen heroischen und antikommunistischen Narrativ bedienende Formel gebracht. Kobielska hebt hervor, dass sich dies –  obwohl sich eine dahingehende Tendenz schon seit den 1990er Jahren zeige – in der letzten Zeit „von einem Nischen- zu einem Mainstream-Phänomen“ wandele und durch die aktuelle Regierung zunehmend professionalisiert werde.

Der Frage, wie sich die aktuelle Geschichtspolitik bildlich niederschlägt, gehen Magdalena Saryusz-Wolska und Piotr Forecki in ihren Beiträgen nach. Erstere analysiert den visuellen Diskurs in der rechtskonservativen Presse. Sie kommt zu dem Schluss, dass diese in zunehmend radikaler Art und Weise mit Feindbildern – besonders häufig sind dies Deutschland, Europa oder Russland – agiere und unliebsame Journalist_innen oder Politiker_innen entweder als Nationalsozialist_innen oder als Kommunist_innen abstempele. Forecki nimmt sich der polnischen Film- und Serienlandschaft an. Er arbeitet als Reaktion auf eine zunehmende Enttabuisierung der polnischen Geschichte durch beispielsweise die Enthüllung der Verbrechen von Jedwabne eine Geschichtspolitik heraus, welche „die polnischen Leiden und Verdienste des Zweiten Weltkriegs in den Vordergrund“ stelle. Dabei betont er, dass ein solches Narrativ zwar aktuell von der polnischen Regierung genutzt werde, aber bereits Jahre vorher begründet und reproduziert wurde.

Den letzten und besonders lesenswerten Beitrag bildet ein Interview mit dem polnischen Soziologen und Philosophen Andrzej Leder. Dieser ordnet die aktuelle politische Situation und die Geschichtspolitik der polnischen Regierung in einen historischen Zusammenhang ein. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass sich aus der Betrachtung der Situation in Polen Rückschlüsse auf die politische Prozesse Europas ziehen lassen. So könne man hier, wie „in einem Labor […] sehen, was passiert, wenn der Populismus die gesellschaftliche Hegemonie“ erlange.

Zusammenfassung

Die Beitragssammlung „Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen“ ist ein kompakter und aktueller Einstieg in die Geschichtspolitik Polens. Allen sechs Beiträgen gelingt es dabei auf schlüssige Weise, Geschichtsnarrative zu dekonstruieren und die Auswirkungen der aktuellen politischen Situation Polens herauszuarbeiten. Sie kritisieren in deutlichen Worten eine Geschichtspolitik, die von vereinfachenden Schwarz-Weiß-Mustern geprägt ist – und  liefern so ein klares Plädoyer für eine differenzierte, multiperspektivisch angelegte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Weitere Informationen zum Geschichtsportal Zeitgeschichte Online erhalten Sie auf http://www.zeitgeschichte-online.de/profil. Die Beiträge zum Themenschwerpunkt „Verordnete Geschichte? Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen“ sind unter http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/verordnete-geschichte zu finden.

 

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