Die Täter-Opfer-Problematik in der Gedenkkultur am Beispiel der Kriegsgräberstätte Costermano
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Rolf Wernstedt
Der Zweite Weltkrieg und die politischen Begleitumstände machten es den Siegern leicht, ihre gefallenen Soldaten als in einem gerechten Krieg Gefallene zu verstehen, denen Anerkennung und Ehre gebührt. Ganz anders stellt es sich für Deutschland dar. Nach übereinstimmender wissenschaftlicher und politischer Erkenntnis und Meinung kann man den Zweiten Weltkrieg als einen Angriffs- und Vernichtungskrieg bezeichnen. Erinnerungspolitisch auf der Seite der Opfer zu stehen, gehört zu den deutschen ethischen und politischen Verantwortungspflichten. Die entwickelten Formen der Gedenkstättenarbeit, der wissenschaftlichen und didaktischen Bemühungen finden fast einhellige Unterstützung aller politischen Kräfte und zivilgesellschaftlichen Organisationen.
Das Besondere dieser Tatsache im Unterschied zu allen anderen Nationen ist die Bereitschaft, die Schuld der damaligen Generationen und politisch Verantwortlichen anzuerkennen, zu benennen und sich verpflichtet zu fühlen, das nicht wieder zuzulassen.
Eindeutige Täter-Opfer Beziehungen am Fall Costermano
Wenn man die Täter identifiziert hat, ist die tatsächliche und erinnerungspraktische Verurteilung keine besondere Schwierigkeit.
Auf der deutschen Kriegsgräberstätte Costermano, die 1967 für die in Norditalien umgekommenen deutschen Soldaten am Garda-See eingerichtet worden ist und auf der heute knapp 22.000 Tote liegen, kann man die damit verbundene Problematik studieren.
Dort liegen mindestens drei der schlimmsten deutschen Verbrecher, die führend an der Vernichtung deutscher geistig Behinderter („Aktion T4“) und der systematischen Ermordung polnischer Juden („Aktion Reinhardt“) beteiligt waren: Christian Wirth, Franz Reichleitner und Gottfried Schwarz. Sie waren nach Norditalien beordert, um die Vernichtung der norditalienischen und kroatischen Juden durchzuführen. Italienische Partisanen hatten sie erschossen.
Ihre Leichname waren nach dem Krieg nach Costermano umgebettet worden, ohne dass die damalige Führung des Volksbundes, der Träger des Friedhofs ist, vom Vorleben wusste oder davon Kenntnis hatte. Ihre Namen, Lebensdaten und Rangtitel waren auf den Grabsteinen angegeben.
Auf dem Friedhof wurde zudem eine besondere Form der Ehrung angebracht. Alle fast 22.000 bekannten Namen wurden in ein bronzenes Ehrenbuch eingraviert und ausgestellt.
Als im Jahre 1987 italienische Wissenschaftler und Journalisten auf die drei Täter aufmerksam wurden und von den deutschen Verantwortlichen im Volksbund und im Generalkonsulat in Mailand verlangten, diese drei Täter in die Ehrung der Toten am Volkstrauertag nicht einzubeziehen, sondern deren Gebeine vom Friedhof entfernen und ihre Namen aus dem bronzenen Gedenkbuch tilgen zu lassen, reagierte der Volksbund traditionell.
Er meinte, dass die Totenruhe zu gelten habe und diese Toten bereits vor ihrem Richter gestanden hätten. Der damalige Mailänder Generalkonsul allerdings weigerte sich, beim Volkstrauertag zu reden, bevor dieses Problem nicht gelöst sei. Anstatt darauf inhaltlich zu reagieren, bekam er vom Auswärtigen Amt disziplinarische Schwierigkeiten, die nur durch die Intervention des damaligen Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages, Heinz Westphal, abgewendet werden konnten.
Die Folge war, dass zum Volkstrauertag in jedem Jahr italienische Zeitungen groß über den „Mörderfriedhof“ schrieben und Demonstranten die von dem Konflikt gar nicht berührten deutschen trauernden Verwandten durch ein Spalier von protestierenden Transparenten gehen ließen. Auch die Entscheidung des Volksbundes in den 90er Jahren, den Titel des Bronzebuches als „Ehrenbuch“ zu entfernen, führte zu keiner Beruhigung.
Es ist zu kritisieren, dass sich der Volksbund nicht ernsthaft mit dieser Situation beschäftigt und auf eine sinnvolle Lösung hingearbeitet hat. Die traditionelle Auffassung im Volksbund hatte sich auf die Anlage, Pflege und Instandhaltung der Friedhöfe und die Betreuung der Angehörigen konzentriert, sich aber der seit Jahrzehnten andauernden Erinnerungsdebatte nicht mit gleicher Intensität gewidmet, auch wenn viel über Versöhnung und Friedensarbeit gesprochen und getan worden ist. Hinderungsgrund für eine solche Auseinandersetzung war die Furcht, dass man auf allen Friedhöfen nach belasteten Namen suchen und die Gebeine entfernen sollte.
Der Wissenschaftliche Beirat beim Volksbund, der im Jahre 2005 gegründet wurde, hat für Costermano einen Vorschlag erarbeitet, dessen Hauptpunkte sind:
- a) Die Gebeine bleiben auf dem Friedhof, weil in unserer Kultur jedem Individuum ein Grab gebührt.
- b) Die Rangbezeichnungen werden von den Grabsteinen gelöscht.
- c) Die bronzenen Buchtafeln werden insgesamt entfernt und in ein Sepulkralmuseum verbracht, weil nicht auszuschließen ist, dass noch andere Namen mit Verbrechen in Verbindung gebracht werden könnten und eine anlassbezogene Entfernung die Neugier nach den entfernten Namen anfachen würde.
- d) Im Eingangsbereich des Friedhofs wird eine kurze historische Erklärungstafel angebracht und auch auf die Verbrechen und die dort liegenden Personen hingewiesen.
Der mit dem Auswärtigen Amt unter Mithilfe des Instituts für Zeitgeschichte und dem Deutschen Historischen Institut in Rom erarbeitete Text hat die Zustimmung der italienischen Seite erhalten. Er lautet in der entsprechenden Passage: „Es ist nicht auszuschließen, dass unter den hier 22.000 begrabenen Soldaten auch solche sind, die an Kriegsverbrechen in Italien beteiligt waren. Gegenwärtig weiß man jedoch, dass einige SS-Funktionäre, die hier begraben sind, aktiv und verantwortlich an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen und in Italien mitgewirkt haben - allen voran Christian Wirth als Inspekteur der Vernichtungslager. Diese Männer waren abkommandiert worden, um die Verfolgung von Juden und Partisanen im Nordosten Italiens und in Istrien in die Wege zu leiten.
Die hier liegenden Toten mahnen uns zu Frieden und Versöhnung. Auch die Schuldigen, die hier begraben sind, mögen ihre letzte Ruhe finden, obwohl sie unaussprechliches Leid über viele Menschen und ihre Familien gebracht haben. Ihre Verbrechen sind uns jedoch zugleich Aufforderung, aus der Geschichte zu lernen und auch unter schwierigen Umständen stets für die Achtung der Menschenrechte und -würde einzutreten.“
Seit dem Volkstrauertag 2006 gibt es in Costermano keine Demonstrationen mehr. Auch die Befürchtung, dass mit der Erwähnung der dort liegenden Verbrecher eine Diskriminierung der anderen dort liegenden unbelasteten Soldaten verbunden sei und diese gleichsam an einen postmortalen Pranger gestellt würden, ist nicht eingetreten.
Vorgehensweise und Lösung des Problems in Costermano haben paradigmatische Bedeutung für alle Friedhöfe. Es gibt Friedhöfe, in denen bekannte Kriegsverbrecher liegen und deren historische Einordnung bisher nicht öffentlich am Friedhof bezeugt wird. Das ist z. B. auf dem Friedhof in La Cambe in der Normandie der Fall, auf dem u. a. der SS-Führer Diekmann mit vielen seiner Männer liegt, die das Massaker von Oradour zu verantworten haben. Französische Veteranenverbände möchten nicht, dass es eine Debatte darüber gibt, dass Franzosen (Elsässer in der Einheit von Diekmann) Franzosen ermordet haben. In Maleme auf Kreta ist der letzte wegen besonderer Grausamkeit zum Tode verurteilte deutsche General Müller begraben. Außerdem liegt dort der für die Deportation griechischer Juden verantwortliche General Bräuer. Dies ist seit fünf Jahren dort zu lesen.
In Polen gibt es Gespräche darüber, wie mit den Grabstätten der Angehörigen der Gruppe „Dirlewanger“, die besonders für die blutigen Massaker an den polnischen Aufständischen 1944 verantwortlich war, umzugehen ist.
Grundsätzliches zur Opfer-Täter-Problematik bei deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges
Der Charakter des Zweiten Weltkrieges mit der deutschen Verantwortung und die gegebene Befehlsstruktur machen eine präzise und gerechte Gedenkhaltung schwierig.
Mehr als 12 Millionen Soldaten standen auf deutscher Seite unter Waffen, dazu kamen noch etwa eine Million Angehörige der Waffen-SS, die größtenteils aus überzeugten Nationalsozialisten aus Deutschland, Holland. Belgien, Norwegen und anderen Nationen bestand, aber auch unfreiwillig eingezogene junge Männer in ihren Einheiten hatte.
Etwa fünf Millionen sind gefallen. Zwei Millionen haben bis 1990 in den westlichen Ländern und Nordafrika ein Grab gefunden. Eine Million sind in sowjetischer Kriegsgefangenschaft unter entsetzlichen Bedingungen gestorben, 800.000 sind seit 1990 in Mittel- und Osteuropa gefunden und größtenteils identifiziert worden, etwa eine Million werden wohl nie mehr gefunden.
Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat jahrzehntelang den Aspekt des individuellen Todes gepflegt, die verständliche Rücksicht auf die Angehörigen vorbildlich betrieben und die „Versöhnung über den Gräbern- Arbeit für den Frieden“ zu seiner Leitlosung gemacht und in Jugendcamps zu realisieren versucht.
Die Frage nach Schuld und Verantwortung von Wehrmachtsführung und einzelnen Soldaten wurde weitgehend ausgeblendet. Die Rücksicht auf die Angehörigen und ihre Bedürfnisse, den Soldatentod in der gleichen traurigen Unschuld zu sehen, wie schon nach dem Ersten Weltkrieg in den Familien eingeübt, mag eine Begründung sein.
Nachdem in der Forschung, im öffentlichen Diskurs und in den Schulen längst über die Schuldfrage Klarheit bestand, sickerte auch beim Volksbund langsam die Frage nach der jeweiligen Verantwortung in den Blick. Dabei war immer die Frage bedeutsam, inwieweit es seriös ist, als Nachgeborener in Kenntnis des Ausgangs der Geschichte nicht billige Nachtreterei zu betreiben.
Unter diesem Gesichtspunkt bleibt es beispielsweise - auch nach damaligem Kriegsvölkerrecht - ein Kriegsverbrechen, etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene an der Ostfront und in Deutschland umkommen und krepieren zu lassen. Die Verantwortung lag bei der Wehrmacht. Desgleichen muss man konstatieren, dass direkt oder indirekt durch gewähren lassen die Wehrmacht an der Ermordung von Juden, Partisanen und an willkürlichen Gräueltaten beteiligt war oder Mitverantwortung trug. Die Wehrmachtsausstellung vor 20 Jahren hat dies trotz einiger Zuordnungsfehler eindringlich vorgeführt. Und schon Peter Bamm hat Anfang der 1950er Jahre in seinem berühmten Stalingrad- Roman „Die unsichtbare Flagge“ darauf hingewiesen.
Wer sich schuldig gemacht hat und welche Umstände zu Kriegsverbrechen führten, muss immer gesondert gefragt oder belegt werden. Es kann keine pauschale Verurteilung geben.
Die meisten Soldaten waren Opfer, viele waren Täter, und die Zahl derer, die sowohl Täter und Opfer zugleich waren, ist nicht bestimmbar. Situationen und seelische Befindlichkeiten von Soldaten nachzuzeichnen bleibt ein Erfordernis, um Verhaltensweisen gerecht einschätzen zu können.
Für die Täter-Opfer-Problematik bleibt es festzuhalten, dass das Gedenken an die toten deutschen Soldaten nicht privatisiert und lediglich auf den individuellen Traueraspekt reduziert werden darf, zumal mit dem zeitlichen Abstand zum Krieg die Unmittelbarkeit der Betroffenheit abnimmt. Vielmehr ist die historische Einordnung bis zur möglichen individuellen Eingrenzung das Erfordernis eines gerechten Erinnerns. Alle Kriegstoten sind nicht nur einen privaten, sondern einen öffentlichen Tod gestorben. Und darüber muss auch öffentlich geredet werden.
Der häufig gehörte Vorwurf, dass sich hier die deutsche Erinnerungspraxis in einzigartiger Selbstbezichtigung darstellt, obwohl es auch Kriegsverbrechen in anderen Armeen gegeben habe, greift zu kurz. Die unzähligen Kriegsverbrechen auf alliierter Seite machen die deutsche Verantwortung für den Krieg und die Vernichtungsabsicht der deutschen Führung nicht kleiner.
Dies zu betonen ist umso wichtiger, als sich aktuell politische Populisten wieder dieses Themas annehmen.
Literatur
- Willy-Peter Reese „Mir selber seltsam fremd“, München 2003.
- Sönke Neitzel/Harald Welzer „Soldaten, Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“, Frankfurt a. M. 2011.
- „Soldaten und andere Opfer?“ Die Täter-Opfer-Problematik in der deutschen Erinnerungskultur und das Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, Loccumer Protokolle 73, Loccum 2005.
- Rolf Wernstedt „Deutsche Erinnerungskulturen seit 1945 und der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V., Volksbund-Forum Band 2, Kassel 2009.
- Hermann Düringer/Sabine Mannitz/Karl Starzacher (Hrsg.):„Möglichkeiten und Grenzen kollektiver Erinnerung: Ambivalenz und Bedeutung des Kriegsopfer- Gedenkens“, Arnoldshainer Texte Band 140, Frankfurt a. M. 2007.
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- 26 Okt 2016 - 08:03