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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Der Historiker Dr. Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der WWU Münster.

Von Thomas Großbölting 

Über die Frage, warum es Religion gibt, wird viel nachgedacht. Als kleinster gemeinsamer Nenner schält sich heraus, dass es für viele Menschen attraktiv ist, an eine ›andere Wirklichkeit‹ zu glauben. So entsteht ein Bereich, über den der Mensch selbst nicht verfügt. Eine solche Funktion erfüllt die Religion. Sie erlaubt es, das eigene Leben in einen großen Zusammenhang zu stellen, ihm einen Sinn zu verleihen und die eigene Lebensführung zu gestalten. Religion erklärt die Zufälle des Lebens, schafft Gemeinschaft und kann Orientierung geben. Und vor allem: Religion stiftet die Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist – vielen Menschen spendet das Trost und Zuversicht. 

Die meisten Religionen haben gemeinsam, dass sie sich auf eine zentrale Gründerfigur berufen. In Deutschland und Europa nennen viele diese Gott und beziehen sich auf Jesus Christus als seinen Sohn. In anderen Teilen der Welt sind es Allah, Jahwe, Buddha oder ein Ensemble verschiedener Gottheiten, die im Mittelpunkt stehen. Menschen verehren ihren jeweiligen Gott, organisieren sich dazu in Gemeinschaften. Sie  bauen Gotteshäuser, in denen sie beten, meditieren oder sich anders betätigen.

Zwischen Nächstenliebe und Intoleranz

Religion hat aber nicht nur eine überweltliche, sondern auch eine weltliche Seite. Die gläubigen Männer und Frauen richten ihr Leben nach ihren jeweiligen religiösen Vorstellungen aus und versuchen, im Sinne ihrer Religion in die Welt hineinzuwirken: den Nächsten zu lieben, den Armen zu helfen und Frieden zu stiften. Diese Gebote kennen das Christentum, das Judentum und der Islam, aber auch andere Weltreligionen, gleichermaßen. Aus dieser Motivation heraus veränderten gläubige Frauen und Männer in vielerlei Hinsicht unsere Gesellschaft und tun das bis heute. Sie lindern Armut, pflegen Kranke und Alte, sie erziehen und bilden aus, sie engagieren sich in der Politik. 

Zugleich ist wegen und mit der Religion immer wieder Unrecht verübt worden. So verfolgten Gläubige in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts Ungläubige oder Andersgläubige. In den Kriegen des 20. Jahrhunderts segneten Geistliche der christlichen Konfessionen Waffen – und zwar für die Soldaten beider Seiten. Religion hat zweifelsohne das Potenzial, Unfrieden zu stiften und Gewalt zu legitimieren.

Religion, Macht, Geschichte

Religion ist eine Größe, die in allen Epochen der Geschichte das Leben vieler Menschen und Gesellschaften in hohem Maße geprägt hat und das auch in Zukunft tun wird. Auch wenn alle Weltreligionen in Deutschland zu Hause sind, so war und ist doch das Christentum die größte und prägendste Religionsgemeinschaft. Seit der Reformation im 16. Jahrhundert begegnet uns diese Religion in Gestalt zweier Bekenntnisgemeinschaften, als katholische und evangelische Konfession. Aus dieser Zeit rührt auch ihre besondere Bedeutung mit Blick auf die politischen Verhältnisse: Es waren die religiösen Zusammenhänge – Gemeinden, Bistümer und Landeskirchen –, die die Basis dafür schufen, dass sich staatliche Macht und Verwaltung etablieren konnten. »Cuius regio, eius religio« – Wer die Herrschaft innehatte, bestimmte zugleich die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen. Diese Regelung war dazu gedacht, dass in den einzelnen Territorien alle den gleichen Glauben hatten, damit keine Religionsfehden mehr ausbrechen konnten. Andererseits zwang diese Bestimmung viele Menschen, die nicht von ihrem ursprünglichen Glauben lassen wollten, zur Auswanderung: Sie verließen um ihrer Glaubensfreiheit willen ihre Heimat, um beispielsweise in den Vereinigten Staaten ihren Glauben frei leben zu können.

Mit der Gründung des deutschen Nationalstaats 1871 gewann der Staat eine stärkere Stellung gegenüber den Kirchen, ohne dass sich der enge Bezug aufgelöst hätte: Die Monarchie gründete noch immer auf der Vorstellung vom Gottesgnadentum. Dahinter verbirgt sich die Idee, dass der Kaiser direkt von Gott gewollt sei. Insbesondere die protestantische Kirche stand eng an der Seite der politischen Führung. Schon die Zeitgenoss_innen bezeichneten diesen Zustand als ein »Bündnis von Thron und Altar«. Die deutschen Katholik_innen hingegen gerieten in den 1870er Jahren in eine Außenseiterposition: Im sogenannten Kulturkampf versuchten insbesondere Liberale in Preußen den Einfluss der an Rom gebundenen Christ_innen zurückzudrängen. Erfolgreich waren sie damit nicht, im Gegenteil. Viele Katholik_innen organisierten sich gerade wegen des großen Drucks von außen stark in den eigenen Reihen, sodass eine eigene, nach außen abgeschottete Lebenswelt entstand. Von der Wiege bis zur Bahre konnte man sein Leben in konfessionellen Kreisen verbringen: nach der Taufe auf eine katholische Schule gehen, im katholischen Gesellenverein eine Ausbildung machen, im katholischen Sportverband Fußball spielen, um nach kirchlicher Hochzeit und Taufe der Kinder ebenfalls katholisch beerdigt zu werden. 

Glaube in der Diktatur

Mit den zwei Diktaturen in Deutschland änderten sich die Beziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften drastisch. Das betraf vor allem die jüdische Gemeinschaft in Deutschland und im besetzten Europa. Unter dem Nationalsozialismus wurde der schon vorher weitverbreitete Antisemitismus zur verbrecherischen und vom Staat getragenen Vernichtungspolitik. In Deutschland und Europa wurden die Jüdinnen und Juden verfolgt und über sechs Millionen von ihnen umgebracht. Die Nationalsozialisten verfolgten die jüdischen Männer und Frauen aber weniger als Religionsgemeinschaft, sondern sahen in ihnen eine ›Rasse‹, die man vernichten wollte. 

Auch für die beiden christlichen Kirchen änderte sich vieles: In der deutschen Bevölkerung war der Nationalsozialismus allgemein breit verankert. Viele Deutsche und damit auch viele Christ_innen unterstützten und trugen die Diktatur. Innerhalb der evangelischen Kirche bildeten sich rasch zwei einander gegenüberstehende Flügel: Die Glaubensbewegung ›Deutsche Christen‹ sah den NS-Staat als willkommenen Schritt auf dem Weg zu den eigenen religiösen und nationalen Zielen. Extreme Vertreter gingen sogar soweit, das Alte Testament als jüdische Schrift aus der Bibel entfernen zu wollen. Die ›Bekennende Kirche‹ hingegen stemmte sich gegen den Einfluss der Diktatur und versuchte, ihre Vorstellung von der christlichen Lehre zu verteidigen. In der katholischen Kirche schloss der Vatikan einen Staatsvertrag (Konkordat) mit der Regierung Hitler und sicherte so der Kirche in Deutschland das Überleben. Der Preis dafür war aber, dass sich der politische Katholizismus ganz zurückziehen und sich das ›Zentrum‹ als die wichtigste Partei der Katholik_innen auflösen musste. Damit war auch von dieser Seite der Weg zur Alleinherrschaft Hitlers geebnet. Nur vereinzelt leisteten christliche Männer und Frauen, Protestant_innen wie Katholik_innen, Widerstand gegen die Diktatur und setzten sich etwa für die verfolgten Jüdinnen und Juden ein. Umso höher wurde in der Nachkriegszeit gerade das Zeugnis derjenigen geschätzt, die sich aus ihrem Glauben heraus gegen die Diktatur gestellt hatten.

Von der Kirche im Abseits zum Zentrum der Opposition

1949 wurde Deutschland in zwei Staaten geteilt. Die Rahmenbedingungen für die Religionsgemeinschaften waren in der DDR und in der Bundesrepublik hoch verschieden: Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) stellte sich prinzipiell gegen das religiöse Leben. Galt ihr dieses doch lediglich als ›Opium fürs Volk‹, mit dem die Arbeiterklasse gefügig gehalten werden sollte gegenüber der Macht der Herrschenden und der wirtschaftlichen Ausbeutung. So schränkten die Machthaber_innen und ihr Unterdrückungsapparat das kirchliche Leben zunehmend ein und versuchten aktiv, den Einfluss insbesondere der christlichen Kirchen zurückzudrängen. 

Die beiden Großkonfessionen reagierten darauf unterschiedlich: Nachdem man die Auseinandersetzung um die Jugendweihe, mit der die SED eine Konkurrenz zu kirchlicher Firmung und Konfirmation schuf, verloren hatte, igelten sich die wenigen Katholik_innen als ›kleine Herde‹ ein und zogen sich zunehmend aus der Gesellschaft zurück. Die weitaus größere Gruppe der Protestant_innen ging diesen Weg nicht, sondern versuchte in Abgrenzung wie auch im Arrangement mit dem Staat der DDR ein ›Leben im Sozialismus‹ für ihre Gläubigen zu ermöglichen. In der friedlichen Revolution seit dem Sommer 1989 wuchs so insbesondere der protestantischen Kirche eine wichtige Rolle zu: Sie bot Räume und unterstützte Oppositionelle dabei, sich zu organisieren und zu verständigen. Auch in der Demonstrationsbewegung selbst waren oftmals Gotteshäuser wie die Leipziger Nikolaikirche die Zentren des Protests, der im Zusammenklang mit anderen Faktoren die SED-Diktatur an ihr Ende brachte.

Zwischen Pluralisierung und Bedeutungsverlust

Im Westen Deutschlands entwickelte sich die Situation völlig konträr: Insbesondere die katholische Kirche galt als ›Siegerin in Trümmern‹, die den Nationalsozialismus unbeschadet überstanden habe und 1945 die moralische Grundlage für den Wiederaufbau liefern könne. In ähnlicher Weise wuchs auch die evangelische Kirche in eine ordnungsstiftende Rolle hinein. Beide Kirchen wurden hoch geschätzt. Die Politik räumte ihnen im Grundgesetz ein hohes Maß an Mitwirkung in Staat und Gesellschaft ein. Bis heute erteilen Lehrer_innen an staatlichen Schulen unter der Aufsicht der Kirchen Religionsunterricht, staatliche Finanzämter ziehen die Kirchensteuer ein, Caritas und Diakonie sind die größten und finanzstärksten Unternehmen im Bereich der Kranken- und Altenpflege. Gleichzeitig aber ließ die Religiosität in der Bevölkerung nach: Während in den 1950er Jahren noch über 95 Prozent der Menschen einer der christlichen Kirchen angehörten, ist heute die größte Gruppe diejenige, die sich zu keiner Großreligion bekennt. Zur evangelischen und katholischen Kirche gehört heute nur noch je ein knappes Drittel der Bevölkerung, Tendenz sinkend.

Parallel zum Schrumpfen des religiösen Feldes vervielfältigte sich dieses und andere Religionen bekamen stärkeres Gewicht: Dass es überhaupt noch jüdische Männer und Frauen in Deutschland gibt, war 1945 keineswegs sicher. Nach dem Holocaust blieben nur wenige Jüdinnen und Juden in Deutschland oder kehrten dahin zurück, weil sie sich ihrer Heimat trotz der schrecklichen Geschehnisse noch verbunden fühlten. Für die politische Kultur in Deutschland haben die jüdischen Gemeinden wie auch die jüdische Kultur große Bedeutung. Mit umso mehr Argwohn wird daher auch jede Form von Antisemitismus betrachtet und diskutiert. 

Der Islam ist in Deutschland keine neue Religion, Muslima und Muslime gibt es schon lange. Als größere Gruppe aber sind Menschen islamischen Glaubens erst seit den 1970er Jahren präsent, als die Bundesregierung vor allem türkische Männer und Frauen als Arbeitskräfte anwarb. Man bezeichnete sie als »Gastarbeiter_innen« und ging davon aus, dass sie rasch in ihre Heimat zurückkehren würden. Viele aber blieben und fanden in Deutschland eine neue Heimat: Heute leben zwischen vier und fünf Millionen Muslime in Deutschland. Dass sich ihre Stellung verändert, lässt sich an der Entwicklung ihrer Gotteshäuser zeigen: Traf man sich in den 1970er Jahren oftmals in sogenannten Hinterhofmoscheen zum Gebet, weichen heute diese provisorischen Gebäude mehr und mehr repräsentativen Gebetshäusern. Damit rücken sie stärker ins Zentrum der Gesellschaft, ohne aber den christlichen Gemeinschaften schon gleichgestellt zu sein. 

Religion im Wandel

Die Präsenz von Religion in der Öffentlichkeit hat sich stark verändert. Im Deutschland der 1950er Jahre war das Kreuz als religiöses Symbol weit verbreitet und wie selbstverständlich in öffentlichen Gebäuden, aber auch in den meisten Privathaushalten zu sehen. Auch heute gibt es Kreuze überall. Viele von ihnen sind aber weniger religiöse Symbole, sondern wurden zu Elementen von Mode und Popkultur. In ähnlicher Weise sind auch viele Symbole, Melodien und Praktiken von fernöstlichen Religionen wie dem Buddhismus und dem Hinduismus in die westliche Konsum- und Freizeitwelt integriert worden.

Das religiöse Feld in Deutschland hat sich insbesondere seit Anfang der 1970er Jahre stark verändert. Religion und Glauben haben in ihrer Bedeutung für die Lebenswelt der Menschen oftmals abgenommen, im Bereich der Politik hingegen werden Fragen des religiösen Zusammenlebens heute intensiver diskutiert als noch vor 30 Jahren. In jüngster Zeit haben beispielsweise der Skandal um den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in kirchlicher Obhut oder die Debatte um den Umgang mit dem Geld die christlichen Kirchen stark bewegt. Die islamischen Gemeinschaften in Deutschland sehen sich immer wieder mit der Frage konfrontiert, inwieweit ihre Religion Gewalt toleriert oder gar befördert.

Die Ausdrucksformen des Religiösen sind vielfältiger, hintergründiger und leiser geworden, ohne aber ihre Kraft zur Gestaltung der Gesellschaft zu verlieren. Der Glaube an eine »andere Wirklichkeit« prägt die Gegenwart nach wie vor – und bleibt damit auch für die Forschung ein ebenso spannendes wie herausforderndes Thema! 

 

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