Von Anne Lepper

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und verstärkt in den letzten Jahren hat es sowohl auf politischer und zivilgesellschaftlicher als auch auf wissenschaftlicher Ebene zahlreiche Bemühungen gegeben, die sowjetischen Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten und die Opfer zu rehabilitieren. Das Gulag-System als wichtigstes Repressionsorgan der sowjetischen Führung steht dabei beispielhaft für die Unterdrückung, Verfolgung und Inhaftierung der eigenen Bevölkerung, insbesondere bis zum Tod Josef Stalins im Jahr 1953. Wenngleich das Ausmaß und die Vorgehensweise innerhalb des Lagersystems heute hinlänglich bekannt sind, so fanden die Orte, die mit den Ereignissen untrennbar verknüpft sind, bisher keinen Eingang in das kollektive Gedächtnis, weder in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion selbst, noch außerhalb. Solowezki, Belomorkanal, Kolyma, Workuta – die Namen der ehemaligen Orte des Gulag-Systems scheinen bis heute nahezu unbekannt zu sein.

Ein Bildband über die Orte des Schreckens

Der Fotograf und Journalist Tomasz Kizny (http://culture.pl/en/artist/tomasz-kizny), 1958 in Wrocław geboren, arbeitete 17 Jahre an einem Bildband, der die Orte des Gulags in das kollektive Gedächtnis zurückholen soll. Auf Reisen durch Polen und in Gesprächen mit ehemaligen Häftlingen fand er heraus, dass einige von ihnen noch zeitgenössische Fotografien aus den Lagern besaßen. In jahrelanger Recherchearbeit und während mehrerer Reisen an die ehemaligen Lagerorte gelang es ihm, ein bemerkenswertes Bild von dem System zu zeichnen, dass der Literaturnobelpreisträger und ehemalige Häftling Alexander Solschenizyn so treffend als „Archipel“, als das ganze Land umspannende Inselgruppe, bezeichnete. Der 2004 in der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienene Bildband zeigt dabei nicht nur die beeindruckenden, meist bis dahin unveröffentlichten historischen Bilder aus den Lagern, sondern kontrastiert diese mit Fotografien, die der Autor von den Orten gemacht hat, wie sie heute sind. Porträts von ehemaligen Häftlingen und Menschen, die heute an diesen Orten leben, erwecken die Geschichte und die Ereignisse zusätzlich zum Leben, und zeigen, was in den vergangenen Jahrzehnten geschehen ist – und was versäumt wurde. Eine Landkarte, auf der die Standorte der ehemaligen Lagerkomplexe verzeichnet sind, eine Liste der ehemaligen Verwaltungseinheiten des Gulag-Systems und ein Glossar, in dem wichtige Begriffe erläutert werden, geben den Leser_innen Orientierungshilfe und einen Eindruck von der Dimension des sowjetischen Lagersystems.

Jedes Kapitel des Bandes befasst sich mit einem historischen Ort. Innerhalb der Kapitel nimmt der Autor zunächst eine historische Einordnung vor, in der er von der Zeit des Lagers selbst, aber auch von der Vor- und der Nachgeschichte des Ortes erzählt. Darauf folgen historische Fotos des Lagers und seiner Häftlinge, die jeweils mit Zitaten und Erzählungen der Opfer verbunden und dadurch kontextualisiert werden. Auf die historischen Fotos folgt dann eine sogenannte historische Notiz, eine Chronologie, in der einzelne Stationen in der Geschichte des jeweiligen Ortes wiedergegeben werden sowie einige verschriftlichte Zitate aus historischen Dokumenten. Darauf folgen schließlich die aktuellen Bilder, die Kizny während seinen Reisen an die historischen Orte selbst aufgenommen hat. Durch die Verbindung aus historiografischen Informationen, zeitgenössischen und aktuellen Bildern, historischen Dokumenten und Berichten ehemaliger Häftlinge entsteht in dem Bildband ein ausgesprochen lebendiges und vielfältiges Bild vom Leben im Gulag. Besonders spannend ist dabei das übergeordnete Kapitel zu „Theater im Gulag“, das zeigt, dass die Gefangenen sich trotz zermürbender Arbeit, Kälte, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit bemühten, den Lageraufenthalt so erträglich wie möglich zu gestalten. Der Schriftsteller Maxim Gorki, der eines der Lager 1929 im Auftrag der sowjetischen Führung inspizierte und später einen Artikel verfasste, in dem er die in den Lagern praktizierte Politik der „Umerziehung durch Arbeit“ verteidigte, schrieb über eine Theateraufführung, die er während seines Aufenthaltes besuchte: „Die Veranstaltung war sehr interessant und abwechslungsreich. […] Eine Akrobatengruppe – fünf Männer und eine Frau – brachten eine beeindruckende Aufführung auf die Bühne, mit Nummern, die man nicht einmal in den guten Zirkussen sieht. Im Foyer spielte in den Pausen – im übrigen ausgezeichnet – ein großes Orchester Rossini, Verdi und Beethoven.“ (leider keine Seitenzahl vorhanden) Dass Gorki bei seinem Besuch jedoch wenig von der tatsächlichen Realität der Schauspieler_innen, Musiker_innen und Tänzer_innen erfuhr, zeigen die Erinnerung einer Ballerina auf der nächsten Seite des Bandes: „Man gab uns gefrorene Kartoffeln zu essen. Ich glaubte, ich würde den Verstand verlieren. […] Es fehlte an Professionellen […]. Es gab kein Orchester, nur zwei Pianistinnen, Maria Gordon und Sofia Herbst, eine Konzertpianistin und ehemalige Schülerin am Moskauer Konservatorium. Sie hat sich dann im Lager erhängt.“

Implementierung in den Unterricht

Der großformatige Bildband von Tomasz Kizny eignet sich hervorragend, um sich mit Jugendlichen dem Thema Gulag zu nähern. Durch die Bilder und die Erfahrungsberichte der Zeitzeugen – sowohl der Opfer als auch der Täter – entsteht ein eindrückliches Bild davon, was es hieß, im Gulag zu leben und Zwangsarbeit zu verrichten. Die Bilder aus den 1990-er Jahren liefern eine gute Möglichkeit, um aktuelle Bezüge herzustellen und sich mit dem Thema der Aufarbeitung auseinanderzusetzen. Einziger Wermutstropfen ist der Umfang und das Gewicht des großformatigen und gebundenen Albums, das sich dadurch nicht gerade für den täglichen Gebrauch eignet. Dennoch ist die Anschaffung eines Schulexemplars für den Präsenzbestand durchaus zu empfehlen. Alternativ können einige der Bilder Kiznys auch auf der Website www.thegulag.org, die von der Victims of Communism Memorial Foundation betrieben wird, angesehen werden.

Literatur

Kizny, Tomasz: Gulag. Solowezki, Belomorkanal, Waigatsch-Expedition, Theater im Gulag, Kolyma, Workuta, Todesstrecke. Mit einem Vorwort von Norman Davies, Jorge Semprun und Sergej Kowaljow. Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH., Hamburg 2004. 296 Seiten, 444 Abbildungen, 13 Karten, 49 Euro.

Das Buch kann auf der Website des Hamburger Instituts für Sozialforschung bestellt werden.

 

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