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„Wir befürchteten, dass uns das hätte passieren können, was sie mit den Juden gemacht haben”

Der »Austausch« jüdischer Zwangsarbeiter_innen mit polnischen Zwangsausgesiedelten - am Beispiel des Batterieherstellers Pertrix

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Isabel Panek ist wissenschaftliche Volontärin im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit. Die Sonderausstellung „Batterien für die Wehrmacht. Zwangsarbeit bei Pertrix 1939-1945“ – die noch bis zum 20. November 2016 im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit zu sehen ist – hat sie mit kuratiert.  

Am Beispiel des Batterieherstellers Pertrix in Berlin-Niederschöneweide geht Isabel Panek dem Schicksal von jüdischen und polnischen Zwangsarbeiter_innen nach. Während erstere 1943 in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden, wurden sie durch durch polnische Zwangsarbeitende aus der Region Zamość „ersetzt“, die durch Zwangsaussiedlungen im Rahmen des »Generalplans Ost« nach Berlin verschleppt wurden.

Von Isabel Panek 

In der Batteriefabrik Pertrix in Berlin-Niederschöneweide waren im Verlauf des Zweiten Weltkriegs alle Zwangsarbeiter_innen-Gruppen beschäftigt: Berliner Jüdinnen und Juden, ost- und westeuropäische zivile Zwangsarbeitende, Kriegsgefangene und italienische Militärinternierte sowie ab Herbst 1944 auch Konzentrationslager-Häftlinge. Insgesamt mussten etwa 2.000 Menschen aus mindestens 16 Nationen bei Pertrix arbeiten, wovon mittlerweile 1.704 namentlich bekannt sind. Pertrix war eine Tochterfirma der zur Quandt-Gruppe gehörenden Accumulatorenfabrik AG und stellte Trockenbatterien, Zünderbatterien und Taschenlampen für die Wehrmacht her.

Bei Pertrix, wie auch bei anderen Rüstungsbetrieben, erfolgte ein »Austausch« der Berliner Jüdinnen und Juden mit Zwangsausgesiedelten aus der Region Zamość, der in den Täterdokumenten belegt und überliefert ist. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden anhand von Selbstzeugnissen (Tagebucheinträgen, Erinnerungsberichten, Interviews) ehemaliger Pertrix-Zwangsarbeiter_innen thematisiert werden. Dabei ermöglicht die Fokussierung auf die Lebensgeschichten der von Zwangsaussiedlung, Verschleppung und Vernichtung Betroffenen einen Perspektivwechsel, der die individuellen Auswirkungen der brutalen NS-Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik in den Blick nimmt.

Jüdische Zwangsarbeitende bei Pertrix

Seit dem 20. Dezember 1938 galt für jüdische Erwerbslose die Verordnung zum »geschlossenen Arbeitseinsatz«. Die ersten jüdischen Zwangsarbeitenden bei Pertrix sind ab 1939 belegt. Mit Kriegsbeginn kam es zur Ausweitung und Verschärfung des Arbeitszwangs. Ab Sommer 1941 wurden alle 14- bis 60-jährigen Männer und alle Frauen zwischen 16 und 50 Jahren zur Zwangsarbeit herangezogen. In einigen Regionen wurden diese Altersgrenzen sogar überschritten. Auch bei Pertrix arbeiteten über 60-Jährige, z.B. Walter Gomma, der seit der Enteignung seines Geschäfts bei Pertrix eingesetzt war und bereits im November 1942 nach Auschwitz deportiert wurde. Insgesamt waren mindestens 290 Jüdinnen und Juden in der Batterieproduktion beschäftigt. Die Berliner Jüdin Hildegard Simon war ab 1941 bei Pertrix zwangsbeschäftigt und berichtete 1997, dass sie bereits vor der Einführung der allgemeinen Kennzeichnungspflicht einen aus Aluminium gefertigten Davidstern zu tragen hatte: „[Diesen] mussten wir vorne auf der Brust tragen und hinten am Rücken, damit sie gewusst haben, schon von Weitem, dass wir nur Juden in dieser Abteilung waren.“ Andere Überlebende berichteten, dass „die gesamte Belegschaft sehr stark antisemitisch eingestellt [war]“ und es immer wieder zu Misshandlungen kam.

Aussagen von ehemaligen jüdischen Zwangsverpflichteten sind eine große Ausnahme, denn ab November 1942 erfolgte nach und nach ihre Deportation und Ermordung. Hildegard Simon konnte aber aufgrund der Vorwarnung eines Meisters der Deportation entgehen und überlebte versteckt in Berlin den Zweiten Weltkrieg. Ähnlich erging es der 17-jährigen Rita Link, die ebenfalls Ende November 1942 untertauchte. Die Deportationen endeten mit der sogenannten »Fabrik-Aktion« Ende Februar 1943. Aber noch bevor die jüdischen Zwangsarbeitenden deportiert wurden, mussten sie ihre »Nachfolger_innen« selbst in die Arbeitsabläufe einweisen.

Vertreibung, Verschleppung und Vernichtung  –  das »Projekt Zamość« 

Die »Nachfolger_innen« kamen aus dem Kreis Zamość – im Generalgouvernement. Im Zuge des »Generalplans Ost«, der eine bevölkerungspolitische Neuordnung der eroberten (ost-) europäischen Gebiete auf rassistischer Grundlage vorsah, steht die Vertreibung von etwa 100.000 Menschen aus dem Kreis Zamość. Im Herbst 1942 beschloss Heinrich Himmler, die polnische Bevölkerung dieser Region gewaltsam zu vertreiben und das Gebiet mit »Volksdeutschen« bzw. »Deutschstämmigen« zu besiedeln. Diese Aktion, die Ende November 1942 begann und im August 1943 abgebrochen wurde, basierte auf der vorausgegangenen Ermordung der jüdischen Bevölkerung der Region Zamość. Die in den Täterdokumenten verharmlosend »Aussiedlung« genannten Aktionen erfolgten nicht Hof- sondern Dorfweise; mindestens 100.000 Menschen wurden aus etwa 300 Dörfern vertrieben, wovon ungefähr die Hälfte erfasst und der Rest geflohen war. Ein Großteil der Zwangsausgesiedelten wurde in ein Durchgangslager in Zamość gebracht. Die Vertreibung organisierte die »Umwanderer-Zentralstelle« des Reichssicherheitshauptamtes unter Beteiligung der SS, der Ordnungspolizei sowie lokalen Wehrmachtseinheiten. Die Betroffenen hatten nur wenige Minuten, um ihre Sachen zu packen, erinnert sich Czesława Daniłowicz, die damals 17 Jahre alt war und mit ihrer Familie im Dorf Niedzieliska lebte: „[…] sie kamen am frühen Morgen und wir mussten ruck-zuck raus. […] Die Schwester nahm die Federbetten mit und packte die Kinder ein, sonst wären sie auf dem Weg nach Zamość erfroren, so frostig war es.“ Die Verschleppung erfolgte mit Pferdeschlitten und LKWs. Die Zwangsausgesiedelten durften nur Handgepäck und 20 Złoty pro Person mitnehmen. Czesława Daniłowicz berichtet, dass es beim Abtransport ins Durchgangslager Zamość immer wieder zu Fluchten kam. Ihr Bruder z.B. flüchtete in den Wald und schlug sich ins Nachbardorf durch, wo er den Krieg überlebte. Wer sich der Zwangsaussiedlung widersetzte oder bei der Flucht in Gefangenschaft kam, wurde von den Besatzern erschossen oder erschlagen. „Im Lager [Durchgangslager Zamość] gab es eine Selektion, Menschen wurden in Gruppen geteilt: die einen wurden ins Lager Auschwitz abtransportiert, die anderen, […] gingen zur Zwangsarbeit nach Deutschland”, schildert Janina Łyś, die im Januar 1943 gemeinsam mit ihren Eltern zur Zwangsarbeit nach Berlin verschleppt wurde. Die Besatzer orientierten sich bei diesen Einteilungen in sogenannte »Wertungsgruppen« an rassistischen Kriterien: einige polnische Kinder wurden »germanisiert«, d.h. gewaltsam aus ihren Familien gerissen und anschließend von Deutschen adoptiert. Andere – vor allem Kinder und Alte – wurden in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert oder in sogenannte »Rentendörfer« ausgesiedelt. Dort blieben sie sich selbst überlassen und verarmten. Die Arbeitsfähigen verschleppte man zum Zwecke der Ausbeutung zum Zwangsarbeitseinsatz. Die Lebensbedingungen im Durchgangslager Zamość waren katastrophal. Emilia Barteczko schildert in einem Interview 2005, dass die Baracken nicht beheizt waren und es sehr viel Ungeziefer gab. Die zur Zwangsarbeit Eingeteilten wurden in einigen Baracken konzentriert, schrieb Maria Rusinska kurz vor ihrer Verschleppung Ende Janaur 1943 in ihr Tagebuch. Der Zeitpunkt ihrer Verschleppung zum Zwangsarbeitseinsatz war ihr in diesem Moment noch nicht bekannt: „Ob Wolken oder die Sonne am Himmel, der Blick wandert stumpf entlang der Pritschen, niemand weiß, wie lange die Haft noch dauern wird, wie lange wir hinter dem Draht bleiben werden. Die Tage flossen grau, eintönig und düster.“ 

»Mit den gleichen Zügen«  –  der Austausch

Dieser »Bevölkerungsaustausch« – die Vernichtung der einen und die Ausbeutung der anderen –  erfolgte zum Teil mit den gleichen Reichsbahnzügen. Am 25. Januar 1943 fuhr ein Zug mit etwa 1.000 Zwangsausgesiedelten von Zamość nach Berlin. Anschließend wurden 1.000 Jüdinnen und Juden mit dem gleichen Zug in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert.   

Auf der Fahrt ins Ungewisse war es eisig kalt und die Menschen versuchten zu fliehen, erinnert sich Czesława Daniłowicz, die als einzige ihrer Familie zum Zwangsarbeitseinsatz nach Berlin kam: „Als sich der Zug in Bewegung setzte – die Fensterscheiben waren mit Frost beschlagen, sodass man durch sie nichts sah – fingen die Leute an auszubrechen. Junge, gesunde Burschen türmten. Wenn die Wachmänner das sahen, begannen sie auf diese Männer zu schießen […]”.  Vermutlich befanden sich im gleichen Transport die Geschwister Barteczko; die Schwestern Emilia und Stanisława kamen zu Pertrix und ihr Bruder Hieronim in eine Spinnstofffabrik in Berlin-Zehlendorf. Emilia Bartzeko war die Älteste und fühlte sich für ihre Geschwister verantwortlich, erinnert sie sich 62 Jahre später. Deshalb dachte sie auch gar nicht daran zu fliehen: „Ich hauchte [im Zug] das Fenster an, um nochmal Polen zu sehen. Aber der Frost war stärker, es gelang mir nicht.” Das Gefühl für die Eltern oder Geschwister verantwortlich zu sein und deshalb eine Flucht überhaupt nicht in Erwägung zu ziehen, ist ein zentrales Motiv in einigen Erinnerungsberichten.

Das Anlernen der polnischen Zwangsverschleppten durch die jüdischen Zwangsarbeitenden dauerte ca. drei Wochen und fand getrennt von den deutschen Beschäftigten statt. Ein Großteil arbeitete in der Abteilung »Füllerei« und war damit beschäftigt, Elektrolytpaste in die Batteriehülsen zu pumpen. Von den Arbeitsabläufen sind keine Fotografien überliefert. Umso wertvoller sind die Erinnerungen von Janina Łyś, die eine präzise Beschreibung der Produktionsabläufe und insbesondere der schlechten Arbeitsbedingungen liefert. Schutzkleidung wie z.B. Gummihandschuhe bekamen die Zwangsarbeitenden beider Gruppen nicht, obwohl die „[…] ganze Fabrikhalle durch diese Elektrolyse verseucht war, man sah goldene Teilchen, die in der Luft wirbelten.“ beschreibt Janina Łyś eindrücklich. Bis heute leidet sie an gesundheitlichen Spätfolgen. Während ihres Zwangsarbeitseinsatzes bei Pertrix spielte sie mehrmals mit dem Gedanken sich in der Spree zu ertränken. Nach der Einweisung der polnischen Zwangsrekrutierten erfolgte Ende Februar 1943 die Verhaftung der Berliner Jüdinnen und Juden direkt am Arbeitsplatz: „das war ganz schrecklich. […] Wie sie weinten, mein Gott. Und wir weinten mit ihnen. Es war wirklich zum weinen.” berichtet Czesława Daniłowicz 71 Jahre später. Mit dem unsicheren Gefühl, eines Tages das gleiche Schicksal erleiden zu müssen, lebten die jungen polnischen Frauen bis zum Kriegsende, schreibt Janina Łyś. Und Czesława Daniłowicz resümiert: „Anderseits, wer würde dann arbeiten? Es gab keine mehr, die hätten arbeiten können. Nachdem wir zur Arbeit gekommen sind, konnten sie die da vernichten, aber nach uns ist doch keiner mehr gekommen.” 

Quellen:

Interview Ewelina Wanke, Uta Fröhlich mit Czesława Daniłowicz, Kożuchów, 12.07.2014, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, Berlin.

Interview Jarosław Pałka mit Emila Barteczko, 29.12.2005, Freie Universität Berlin „Zwangsarbeit 1939-1945. Erinnerungen und Geschichte”.

Erinnerungsbericht von Janina Łyś, 9.07.2014, Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit.

Tagebuchauszug von Maria Rusinska, 1942/1943, Barbara Łuczkiewicz, Lipowa.

Interview Anita Pinkus mit Hildegard Simon,São Paulo, 17.11.1997, USC Shoah Foundation Institute for Visual History and Education, University of Southern California.

Zeugenaussage von Rita Link, 11. August 1950, Berlin, BStU Berlin.

Zeugenaussage von Arthur Salomon, 27.01.1947, Berlin, BStU Berlin.

Heinemann, Isabel: Rasse, Siedlung, deutsches Blut. Das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS und die rassenpolitische Neuordnung Europas, Göttingen, 2003.

 

 

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