Empfehlung Lebensbericht

Rezension: „Und weinen darf ich auch nicht ...“. Das Leben von Josef Muscha Müller

Ruth Allgäuer wurde 1991 in Lustenau (Österreich) geboren. Sie studiert Kulturwirtschaft an der Universität Passau und ist derzeit für ein Auslandssemester in Kanada. 

Von Ruth Allgäuer

Josef Muscha Müller wurde 1932 in Bitterfeld geboren. Aus unbekannten Gründen gaben ihn seine Eltern, Angehörige der ethnischen Gruppe der Sinti, in einem Waisenhaus ab. Die ersten 14 Monate seines Lebens verbrachte er dort, bis ihn ein sozialdemokratisches Arbeiterehepaar aus Halle/Saale in Pflege nahm.
Zunächst verbrachte Josef eine behütete Kindheit mit den Pflegeeltern Otto und Wilhelmine-Minna Hinz und drei älteren Geschwistern. Er war gut in die Familie und die Gesellschaft integriert, hatte viele Freunde und wurde trotz seiner etwas dunkleren Hautfarbe vorurteilsfrei behandelt. Da Josef nichts von seiner Herkunft wusste, stellte er sein etwas anderes Aussehen auch nicht in Frage.

Konfrontation mit der Diskriminierung

Seine Geschichte erzählt Josef Muscha Müller aus der naiven Perspektive eines Kindes. Zum einen entspricht dies seiner damaligen Situation als Kind, zum anderen eröffnet es den Lesern und Leserinnen eine Rezeption, bei der ein wesentliches Moment der fortschreitenden Diskriminierung in den Blick gerät, nämlich die Unmöglichkeit die sukzessive erfolgenden Attacken gegen die eigene Person kognitiv und emotional zu begreifen, geschweige denn als Kind zu deuten. Wie etwa soll ein Achtjähriger verstehen, dass seine Freunde auf einmal nicht mehr mit ihm spielen wollten, dass er in der Schule nicht nur von seinen Klassenkameraden gehänselt und immer wieder geschlagen wird, sondern auch die Lehrer ihn schikanieren? Was bedeuten Schimpfworte wie „Mulatte“, „Bastard“ oder „Zigeunerschwein“, mit denen er fortan belegt wird?

Im Buch wird Josef als ein Junge beschrieben, der permanent Fragen stellt, die allerdings nie beantwortet werden. Seine Eltern, die im antifaschistischen Widerstand aktiv waren, erklärten ihm bewusst nicht was vor sich ging, denn sie wollten ihren Sohn in bester Absicht beschützen. Da er ja noch ein Kind war, befürchteten sie jedoch auch, dass er unbewusst Informationen verraten und damit die ganze Widerstandsbewegung in Gefahr bringen würde. Als einzige Antwort erhielt Josef auf seine Fragen, dass er alles verstehen würde, wenn er älter sei. Durch seine Unwissenheit wurde die Situation jedoch noch viel schwieriger für ihn.

Mit vielen Begebenheiten schildert Josef Muscha Müller, wie ihn die Situation immer weiter in die Isolation trieb. Deutlich wird, wie das propagierte Ideal eines sogenannten „arischen“ Kindes immer weiter um sich griff und wie ein Junge, der diesem Ideal allein wegen seiner dunkleren Hautfarbe nicht entsprach, von immer mehr Mitmenschen als minderwertig betrachtet und zum Außenseiter gemacht wird. Um zu verhindern, dass er misshandelt wird, verboten ihm seine Pflegeltern, unbeaufsichtigt das Haus zu verlassen. Mitglieder der Widerstandsgruppe, in der seine Eltern aktiv waren, begleiteten ihn auf dem Schulweg, um ihn vor Angriffen zu schützten.
Doch auch in der Schule gab es keinen Ort mehr, an dem er sich aufgehoben und sicher fühlen konnte. Seine Lehrer misshandelten ihn beinahe täglich. Als er eines Tages mit schweren Verletzungen, die von Rohrstockschlägen herrührten, nach Hause kam, schafften es seine Pflegeeltern, ihn in eine andere Klasse versetzen zu lassen. Der neue Lehrer, Herr Rüllemann, kümmerte sich fortan in der Schule um Josef und beschützte ihn so weit er konnte.

Im Jahr 1940, der kleine Muscha war acht Jahre alt und überall in Deutschland waren mittlerweile „Dienststellen für Zigeunerfragen“ eingerichtet, die Sinti und Roma vermessen, Karteien anlegen und sogenannte „Rassegutachten“ erstellten, wurde er mit seiner Mutter auf dieses „Rassenamt“ bestellt. Das Pflegekind sollte untersucht werden. Von denen im Amt Zuständigen waren einige Sozialisten, so dass zunächst nichts weiter geschah, außer, dass das Kind nun offiziell als „Zigeunermischling“ registriert und gebrandmarkt war.

Gerade im Falle von deutschen Sinti zeigen sich an seinem Beispiel auf bedrückende Weise die Vermischung von individuellen wie staatlich sanktionierten Ausgrenzungs- und Gewaltmechanismen gegenüber anders Aussehenden oder/und Personen, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht erwünscht sind. So traten antisemitische und rassistische Vorurteile bereits schon früh über verbale Hassattacken auf, beispielsweise als Josef Müller im Jungvolk der HJ unverzüglich hinausgeworfen wurde mit „Raus mit dem Judenschwein ... verrecke, Du Zigeunersau“ (Müller, 2004, S. 9). Sie entfalteten ein gefährliches Gewaltpotential, wenn plötzlich ein von Erwachsenen indoktrinierter Spielkamerad ihn mit dem Messer attackiert, weil Zigeuner angeblich, wenn sie groß wären, zu Verbrechern würden und außerdem die Haut stinken würde.

Zwangssterilisation

Im November 1944, Josef war inzwischen 12 Jahre alt, erschien die Gestapo in der Schule um Josef abzuholen. Trotz der Proteste von Josef und seinem Lehrer zerrten sie den Jungen vor den Augen aller aus dem Klassenzimmer und brachten ihn in ein Krankenhaus. Hintergrund dieser Aktion war Himmlers Anordnung, dass Sinti und Roma im Zuge der „Reinigung der deutschen Rasse“ zwangssterilisiert werden sollten. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das bereits am 1. Januar 1934 in Kraft getreten war, wurde im Laufe der Jahre auf immer weitere Bevölkerungsgruppen ausgeweitet, und bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren mindestens 400.000 Menschen (die Dunkelziffer lag sicherlich noch höher) zwangssterilisiert, darunter auch eine große Anzahl Kinder aus der ethnischen Minderheit der Roma und Sinti.

Offiziell gaben die Ärzte und Krankenpflegerinnen an, dass Josefs Blinddarm entfernt werden würde. Da Josef aber keine Schmerzen hatte, glaubte er diese Geschichte nicht. Im Krankenhaus wurde er zunächst für mehrere Tage in ein kleines Zimmer gesperrt. Seinen Pflegeeltern war es nicht erlaubt ihn zu besuchen, was dem Jungen große Sorgen bereitete, denn er wusste nicht einmal, ob sie über seinen Aufenthaltsort informiert waren. Eine Woche nach Josefs Einlieferung im Krankenhaus führte ein Arzt, Dr. Rothmaler, der eine Zwangssterilisation an ihm durch.

Es blieb nicht bei der Sterilisation. Doch die Pläne, Josef nach seiner Genesung in ein Konzentrationslager zu deportieren, konnten seine Eltern und andere Mitglieder der Widerstandsbewegung mit Hilfe zweier Krankenpflegerinnen vereiteln. Er wurde in einer kleinen Gartenlaube im Wald versteckt, in der er die restliche Zeit bis zum Kriegsende verbringen musste. Ab diesem Zeitpunkt wurde Josef immer von einem seiner sogenannten „Onkel“ betreut. Diese Personen waren Freunde seines Vaters und Mitglieder des Widerstandes, ohne deren Unterstützung Josef den Krieg nicht überstanden hätte.

Trotz der erfolgreichen Flucht war auch die Zeit im Versteck keinesfalls einfach für den Jungen, der die Laube unter keinen Umständen verlassen durfte, um nicht gesehen und verraten zu werden. Auch blieb er über die Hintergründe seiner Zwangsoperation und über die politischen Hintergründe seiner „Gefangenschaft“ im Unklaren.

Leben nach dem Zweiten Weltkrieg

Im zweiten Teil des Buches beschreibt Josef Müller sein Leben nach 1945. Der Leser erhält so einerseits einen Einblick in die Folgen der traumatischen Ereignisse aus Josefs Kindheit, andererseits wird ihm aber auch vor Augen geführt, wie diese Erfahrungen tiefe physische und seelische Narben hinterließen und sein ganzes weiteres Leben beeinflussten.

So klärten ihn seine Pflegeltern erst einige Jahre nach Kriegsende über seine Herkunft auf. Und erst kurz vor seiner Verlobung erfuhr er schließlich, dass er niemals Kinder bekommen konnte. Zwar fand die Hochzeit trotzdem statt, jedoch hielt die Ehe nicht lange, da Josef auf Grund seiner Vergangenheit psychische Probleme hatte und seine Frau einen zusehends stärkeren Kinderwunsch verspürte. Lange Zeit hatte Josef kein Glück mit Beziehungen, da sterilisierte Männer als „abnormal“ betrachtet wurden. Die Tatsache, dass Josef weder Frau noch Kinder hatte, wurde von vielen zudem als Indiz dafür gewertet, dass er homosexuell sei, weswegen er zusätzlich diskriminiert wurde.

Kampf um Anerkennung

Josefs Leben ist eine Abfolge von unterschiedlichen Kämpfen. Zunächst rang er um sein Überleben im NS-Regime, nach Kriegsende musste er dann lernen, seine Vergangenheit zu akzeptieren, mit ihr zu leben und gegen seine Depressionen anzukämpfen. Alltäglicher Rassismus wegen seiner Hautfarbe begegnete ihm nicht nur in der DDR, sondern später auch in der BRD. Zudem kämpfte er mehrfach vergeblich um die offizielle Anerkennung als Opfer der NS-Verbrechen. Es dauerte viele Jahre, bis Josefs Status offiziell anerkannt wurde und er eine kleine finanzielle Entschädigung erhielt.

Seine Vergangenheit ließ Josef nie los. Zufällig kreuzten sich seine Wege mit Menschen aus seiner Kindheit, wie beispielsweise mit Dr. Rothmaler, dem Arzt, der die Sterilisation durchgeführt hatte und der nach dem Krieg ungehindert Chefarzt in einer Klinik in Flensburg/Mürwick werden konnte.

Viele Jahre nach dem Krieg kehrte Josef in seine Geburtsstadt Bitterfeld zurück, wo er seine Geburtsurkunde in einem Kirchenarchiv fand. Neben den Namen seiner Eltern erfuhr er dort, dass er einen Zwillingsbruder hatte. Bis zum heutigen Tage hat er diesen nicht gefunden.

Fazit

In der Auseinandersetzung Josef Müllers Lebensgeschichte wird auf drastische Weise deutlich, wie sehr sich die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges auf das weitere Leben insbesondere von Kindern auswirkten. Spricht man über den Nationalsozialismus und seine Opfer, so enden die Erzählungen häufig mit dem Kriegsende, was den Eindruck hinterlässt, dass nach dem Krieg alle Probleme gelöst waren und alle in ihr normales Leben zurückkehrten. Seine Kindheitserinnerungen und die erzwungene Operation veränderten sein ganzes Leben. Die Tatsache, dass er Kinder zwar mochte, aber selbst keine bekommen konnte, zerstörte nicht nur viele seiner Beziehungen, sondern verursachte auch schwere psychische Probleme, an denen er heute noch leidet. In einem Interview, welches 2010 von der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas aufgenommen wurde, erzählt er die Geschichte des Sinto-Jungen Muscha, der er ja selbst ist, erstaunlicherweise in der dritten Person, so als würde er über eine andere Person sprechen – es entsteht der Eindruck, dass die traumatischen Erfahrungen bis ins hohe Alter nicht integriert werden können.

Als Kind hatte Josef sich geschworen, dass er später einmal mit Kindern arbeiten werde, um sie vor unfairen Behandlungen, wie er sie erlebt hatte, zu bewahren. Mit viel Beharrlichkeit erreichte er sein Ziel und arbeitete für den Rest seines Lebens in der Kinderbetreuung. Nach seiner Pensionierung besucht er als Zeitzeuge des Zweiten Weltkrieges Schulen, um mit den Kindern über seine Vergangenheit zu sprechen und damit ihr Bewusstsein für das Schicksal der oft vergessenen Opfergruppe der Sinti und Roma zu schärfen. 

Literatur

Josef Muscha Müller: Und weinen darf ich auch nicht – Eine Kindheit in Deutschland, Berlin 2002, 227 S., 14,50 Euro

 

 

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