Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Christa Schikorra im Auftrag der AG Gedenkstättenpädagogik (Hrsg.): Gedenkstätten Pädagogik. Kontext, Theorie und Praxis der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen, Metropol Verlag, Berlin 2015, 363 Seiten, 22,00 € 

Von Gerit-Jan Stecker

Vor 20 Jahren erschienen die ersten Bände, die versucht haben, das Feld der Bildungsarbeit in deutschen Gedenkstätten einzugrenzen. Wie schwierig sich diese Selbstverständigung bis heute gestaltet, zeigt der vorliegende Band, herausgegeben Elke Gryglewski, Verena Haug, Gottfried Kößler, Thomas Lutz und Christa Schikorra im Auftrag der AG Gedenkstättenpädagogik. Sein Titel spannt einen Bogen zwischen „Gedenkstätten“ und „Pädagogik“. Von einer feststehenden Gedenkstättenpädagogik zu sprechen erlauben sich die Herausgeber/innen nicht. Dafür sind die Bedingungen für die tägliche Bildungspraxis noch immer zu divers, seien es Finanzierung oder Besucherzahlen, seien es Erwartungen, die etwa politische Akteure an die Gedenkstättenarbeit knüpfen oder die eigenen pädagogischen Zielsetzungen. Zugleich unterliegen vor allem die Institutionalisierung und die erinnerungspolitische Rolle von Gedenkstätten weit reichenden Wandlungen, und das in vergleichsweise kurzer Zeit. Weitere kommen auf sie zu.

Vom Rahmen der Gedenkstättenpädagogik zur Praxis

Um seinen Anspruch zu verfolgen, sowohl kritische Einführung und Überblick als auch Handreichung zu sein, ordnet der Band „Gedenkstätten Pädagogik“ diese komplexe Ausgangslage anhand von 23 Beiträgen, durchweg von nachweislichen Fachleuten verfasst. Dem voran stellt – anstatt eines Vorwortes – ein moderiertes Gespräch zwischen den Herausgebenden klar, dass es sich dabei notwendig um einen Selbstverständigungsprozess über Gedenkstätten und Pädagogik handelt.

Eingeteilt sind die Beiträge in drei Kapitel: Das erste zeichnet „Rahmen und Perspektiven“ anhand einiger Eckpunkte. Als Ausgangspunkt dieser Rahmung dient die Wandlung der NS-Gedenkstätten von stark marginalisierten erinnerungspolitischen Initiativen, die mühsam gegen breite gesellschaftliche und politische Widerstände erkämpft werden mussten, hin zu einer staatlichen Gedenkstättenkonzeption, in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen und Anerkennung ihrer Opfer eine klar die Bundesrepublik legitimierende Funktion haben. Weiter wird das Verhältnis zur Hauptzielgruppe Schulklassen beschrieben, das in Ergänzung zur schulischen Bildung besteht und in den Bundesländern zum Teil kein Vorwissen zum Nationalsozialismus voraussetzen kann. Es geht um Unterschiede und Schnittmengen zu Museen als ähnlich arbeitende Institutionen; die Rolle von internationalen Perspektiven auf der einen und der Bundeszentrale für politische Bildung auf der anderen Seite; schließlich geht es um die grundsätzliche Frage, welche Qualitätsmerkmale für gedenkstättenpädagogisches Handeln sich überhaupt sinnvoll standardisieren lassen.

Die anderen beiden Kapitel schreiten vom Allgemeinen weiter zum Besonderen. Das zweite reflektiert Kernelemente der pädagogischen Arbeit in Gedenkstätten als „Stärken und Herausforderungen“: Was bedeutet „Gedenken als pädagogische Aufgabe“? Es hieße – in Anlehnung an Walter Benjamins Begriff des Eingedenkens – primär die Ursachen, die zur Katastrophe geführt haben zu betrachten. Sie darf die zu erinnernde Geschichte als „nicht als negative Projektionsfläche einer vorgängig schon positiv gedeuteten Gegenwart“ benutzen, beispielsweise eine deutsche Erfolgsgeschichte von anfänglichen Schwierigkeiten in der Aufarbeitung hin zum gegenwärtigen Erinnerungsweltmeister und -exporteur. Dass historische Wissensvermittlung und politische Bildung unterschiedliche Ziele haben, die in Gedenkstätten vereinbart werden müssen, erläutert ein weiterer Beitrag. Die Spannung liegt dabei im Verhältnis von Kompetenzbildung, v. a. in historisch informierter Urteilskraft und der Herausbildung von Haltungen und Verhaltensweisen.

Jugendliche, Lehrkräfte und der Pädagog/innen müssen ihrer Erwartungen und Ansprüche an den Besuch einer Gedenkstätte jedenfalls prinzipiell aushandeln. Unhintergehbar ist für alle Jugendgruppen, dass ihre Bezugnahme auf die NS-Thematik äußerst heterogen ist, sei es durch die eigene Familiengeschichte oder durch die Einrichtung von Gesamtschulen. Gleichzeitig wird Gedenkstättenarbeit auch in Zukunft meist vor allem regionale Bedeutung haben.Im dritten Kapitel folgen „Zugänge und Methodik“ aus der Praxis. Die zentrale Rolle der „Zeugenschaft für die Bildungsarbeit“ entspringt aus ihrer persönlichen Erfahrung, die zugleich für die gesamte Geschichte spricht. Wenn direkte Gespräche mit den Zeitzeugen in absehbarer Zeit nicht mehr möglich sind, seien zehn Prämissen bei medialen bzw. digitalen Aufzeichnungen der Zeugnisse zu beachten. Der Einsatz digitaler Medien eröffnet praktische Möglichkeiten auch in Bezug auf die historischen Orte des Gedenkens. Daneben können kunst- bzw. museumspädagogische Methoden Jugendlichen helfen, individuelle Positionen zur Geschichte des Ortes zu entwickeln. Persönliche Bezüge zwischen Geschichte und Gegenwart entstehen zudem über die Thematisierung von Berufs- und Familiengeschichten der Besucher/innen. Spannend illustriert schließlich der letzte Beitrag die hohe fachliche Kompetenz, die von Gedenkstättenpädagog/innen gefordert ist, der auf den Umgang mit NS-Vergleichen eingeht. Die Herausforderung hier besteht vor allem darin, die Motivation solcher Vergleiche herauszuarbeiten - etwa der Versuch, einen Bezug zum jugendlichen Vorwissen herzustellen, „Geschichtsbedürfnisse“ der Jugendlichen zu kennen (vgl. auch Wolfgang Meseths Beitrag) - und nicht pauschal als Holocaustrelativierung oder ähnliches zu verurteilen. Es kann aber auch bedeuten, sich gegenüber antisemitischen Äußerungen klar positionieren zu müssen. 

Fazit

Dieser Band liefert einen weitreichenden Überblick zum Stand der Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen an deutschen Gedenkstätten. Es wird klar, dass diese weder ein am messbaren Output orientiertes class-room management leisten kann – und soll. Noch kann sie die „Wirkungshoffnung“ (Verena Haug in diesem Band) erfüllen, dass die Vermittlung von historischen Fakten am authentischen Ort bestimmte Haltungen und Werturteile besonders in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte und Rechtsextremismus generiert. Gedenkstättenpädagogik schafft vielmehr offene Lehr-Lernsituationen, in denen Form und Inhalt von Gedenken an NS-Verbrechen sowie die Konstruktion historischer Erzählungen überhaupt zum Thema werden kann. So kann die Bedeutung von Geschichte in der Gegenwart zugänglich werden. Im besten Fall wird dabei der Blick für das Inhumane geschärft, die Fragilität einer halbwegs zivilisierten Gesellschaft deutlich und individuelle Handlungsmöglichkeiten in geschichtlichen Situationen reflektiert.

Sicherlich ließe sich der ein oder andere Aspekt vertiefen, etwa wäre eine Außenperspektive von internationalen Kolleg/innen spannend gewesen. Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen findet nicht nur in Deutschland statt. In diesem Zusammenhang wäre vielleicht kleiner Abschnitt für ein breiteres Publikum hilfreich, der auf die Frage eingeht, warum sich Gedenkstättenpädagogik in Deutschland auch in Zukunft vor allem als Bildungsarbeit zu NS-Verbrechen gefasst wird.

Das ändert jedoch nichts daran, dass dieser Band die eigenen Ansprüche mehr als erfüllt: Er bietet tatsächlich eine umfassende und gut strukturierte Einführung in Aufgaben, Herausforderungen und Tendenzen der Bildungsarbeit an Gedenkstätten und zahlreiche methodisch-didaktische Anregungen – vor allem aber bindet „Gedenkstätten Pädagogik“ diese Beiträge an wissenschaftliche Auseinandersetzungen auf hohem selbstkritischen Reflexionsniveau. Und ragt gerade deswegen heraus.

 

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