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Erinnern und Gedenken 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Thomas Lutz ist Gedenkstättenreferent der Stiftung Topographie des Terrors. Das www.gedenkstaettenforum.de wird als Plattform für Informationen über Gedenkstätten von ihm redaktionell betreut.

Von Thomas Lutz

Die kaum zu zählenden Feierlichkeiten zum Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalsozialismus zwischen 27. Januar und 9. Mai sind beendet. Was bleibt als Erkenntnis und Perspektive?

Die Begriffe Erinnern und Gedenken werden im Hinblick auf die Opfer des Zweiten Weltkriegs inflationär genutzt und unterschiedlich interpretiert. Anhand ihrer inhaltlichen Erläuterung soll auch die Entwicklung der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte bis heute dargelegt werden.

Erinnerung wird heute auch gesellschaftlich interpretiert. Der Begriff der Erinnerung umfasst heute eine gesellschaftliche Form des im ,Gedächtnis bewahrten Eindrucks’, ein ‚Andenken’, das mit ‚Ermahnung’ einhergeht .

Die zahlreichen Gedenkveranstaltungen an den historischen Orten des NS-Terrors anlässlich der Befreiung machen deutlich, dass es hier mittlerweile eine Entwicklung über einen Zeitraum von etwa 30 Jahren gibt. In den letzten Jahrzehnten wurden „[…] eine Fülle von Formen und Verfahren der Erinnerung hervorgebracht, ausprobiert und in einer eigenen Kultur der ‚Vergangenheitsbewältigung’ oder besser: Erinnerungskultur organisiert, ritualisiert und verdichtet … .“ (Peter Reichel)

Besonders die Reden der hochrangigen Politiker während der Jahresfeierlichkeiten zeigen die gemeinschaftsstiftende Funktion dieser Rituale auf, die immer einen Bezug zur Gegenwart haben. Aktuell wird die Erinnerung an die historischen Ereignisse genutzt, um einen Bruch mit der Vergangenheit zu konstatieren, dem Leugnen und Vergessen deutlich zu widersprechen, in Bezügen zur Gegenwart Zivilcourage einzufordern, sich gegen Diskriminierung von Minderheiten zur richten sowie die Einhaltung der Menschenrechte einzufordern.

Rückblickend lässt sich festhalten, dass die Erinnerung an die NS-Opfer nach dem Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten 1990 wegen des außenpolitisch notwendigen Nachweises der Abkehr von einer revanchistischen Politik und der innenpolitisch notwendigen Sinnstiftung nach dem Systemwechsel in der DDR von Seiten des Bundesregierung stark gefördert wurde. Günter Morsch weist darauf hin, dass die Kohl’sche Regierung ihren Impetus der Erinnerungspolitik verlieh und nicht auf der historischen Bedeutung der Geschichte. In den 90er Jahren war es Usus, bei der Neugründung der Gedenkstätten der zivilgesellschaftlichen Beteiligung und der wissenschaftlichen Expertise weitreichende Mitsprachmöglichkeiten zu gewähren trotz der mit der Finanzierung durch die öffentliche Hand unabdingbaren Dominanz der Vertretungen der Geldgeber in den Gremien. Seit Ende der Neunzigerjahre hat sich dieser inhaltliche Wandel auch in der Struktur der Erinnerungsinstitutionen widergespiegelt. Allmählich wurden in die Gremien der Gedenkstättenstiftungen überwiegend Ministerialbeamte und weit von den Sachfragen entfernte Vertreter verschiedener Körperschaften des öffentlichen Rechts berufen. Am offensichtlichsten ist dies im Kuratorium des Denkmals für die Ermordung der Europäischen Juden , in dem der Politikeranteil 80% beträgt.

Gegenwärtig besteht eine ambivalente Situation, indem auf der einen Seite die staatstragende Erinnerungskultur sich immer weiter weg von den historischen Begebenheiten bewegt hin zu  aktuellen Begründungszusammenhängen. Diese Interpretationen werden eindeutig und einseitig ausgelegt.

Gerade unter pädagogischen Gesichtspunkten sind diese rituellen Umgangsformen zumindest langweilig, wenn nicht gar abschreckend.

Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, inwieweit dennoch diese Form der Erinnerung an die NS-Verbrechen aktuelles Denken und Handeln beeinflusst. Angesichts der hochaktuellen und brisanten Frage des Umgangs mit Flüchtlingen und Einwanderern scheint die in der Zivilgesellschaft – in einem Maß wie noch nie in der Geschichte Deutschlands vorhandene – Willkommenskultur und die eindeutigen Stellungnahmen der Politik für das Recht auf Asyl sowie die Verurteilung von Diskriminierung und Gewalt gegenüber dieser Menschengruppe ein Hinweis auf die  Transferleistungen dieser in Deutschland besonderen Form der Erinnerungskultur zu sein.

Der Begriff des Gedenkens stand zunächst für das Nichtvergessen von (selbst) erfahrenem und erlittenem Unrecht. Im Wörterbuch der Akademie der Wissenschaften der DDR ist Gedenken 1967 erstmals erinnerungspolitisch gefasst worden, indem auf die Formulierung „Gedenken an die Opfer des Faschismus“ und auf die Wortbildung „Gedenkstätte“ als einer „Stelle, an der sich früher ein Vernichtungslager befand“ hingewiesen wurde.

In den 1970er-Jahren hat sich in Westdeutschland die historisch neue und sehr besondere Form des „negativen Gedenkens“ entwickelt. Es wird an die Mitglieder der Gruppen gedacht, die bisher vergessen waren und die eigene Verantwortung an der Tat wird selbstkritisch reflektiert. Verknüpft mit dem Gedenken ist die gesellschaftliche Anerkennung der Gruppen der Opfer, die entweder am Rande der eigenen Gesellschaft gestanden haben oder Ausländer waren. Auch dieser historische Lernprozess hatte und hat Implikationen für heutige Randgruppen.

Welchen Opfergruppen mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird, hat sich im Laufe der sieben Jahrzehnten seit der Befreiung gewandelt. In der DDR wurden die – vor allem regimetreuen – Antifaschist/innen in den Mittelpunkt gestellt – sowohl hinsichtlich der gesellschaftlichen Hofierung als auch der materiellen Versorgung. In der westdeutschen „Mitläuferfabrik“ haben in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten die deutschen Gefallenen, Ausgebombten, Kriegsgefangenen sowie Flüchtlinge und Vertriebene im Unterschied zu den Gruppen der NS-Opfer eine größere Unterstützung erfahren. Erst seit den siebziger Jahren hat sich dies verändert. Und selbst wenn in der Zwischenzeit, wenn auch sehr spät, die unterschiedlichen Gruppen anerkannt worden sind, gibt es immer noch ungelöste Aufgaben. Der Judenmord ist in den letzten zwei Jahrzehnten in der deutschen Wahrnehmung immer präsenter und weltweit universalisiert worden. Immer noch offen ist jedoch die Entschädigung von Kriegsgefangenen und Militärinternierten. Zudem hat sich in Deutschland in den letzten Jahren wieder die Tendenz eines auf sich selbst gerichteten Gedenkens herausgeschält. Die Nachweise hierfür reichen von Jörg Friedrichs Buch „Der Brand“ bis hin zum „Zentrum gegen Vertreibung.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte – fokussiert auf den Holocaust - in den letzten zwei Jahrzehnten stark internationalisiert hat. Zwar war es schon immer so, dass Forderungen von Seiten der Häftlingsorganisationen aus dem Ausland die Aufarbeitung an den historischen Orten in bedeutender Weise begünstigt hatten. In den letzten 15 Jahren sind die NS-Verbrechen darüber hinaus zu einem Identitätsangebot an Europa geworden. Friedensprojekte, die Verdammung von Krieg, demokratisches Handeln und ein Selbstverständnis als Gralshüter von Kultur und Zivilisation wurden daraus abgeleitet. Vor allem für die mittelosteuropäischen Beitrittsländer war dieses Bekenntnis während ihres Kandidatenstatus von Bedeutung. Nachdem sie EU-Mitglieder geworden sind, hat ihr Engagement stark nachgelassen. Hinzu kommt, dass mit den berechtigten Forderungen nach Anerkennung der Opfer des Stalinismus ein Geschichtsbild verbunden wird, das die Einzigartigkeit des Holocaust negiert. Im 2002 in Budapest eröffneten Haus des Terrors ist dies exemplarisch anzusehen. Leider hat die anwachsende nationalistische Geschichtsschreibung in diesen Ländern auch zum Ergebnis, dass sie sich selbst als Opfer beider Diktaturen darstellen und nicht darüber nachdenken, was für Konsequenzen aus der eigenen Kollaboration und Verantwortung für die Menschheitsverbrechen im Zweiten Weltkrieg zu ziehen wären.

Als Fazit lässt sich festhalten, dass es gut ist, die unterschiedlichen nationalen Narrative zu kennen und sich im Dialog miteinander über die Besonderheiten auszutauschen. Eine einheitliche europäische Erinnerungskultur erscheint so wenig möglich wie sie sinnvoll wäre.

70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird häufig ein Aufbruch zu neuen Themen und Narrativen gefordert. In der Tat ergeben sich mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand Herausforderungen.

Der Einfluss familiärer Prägungen gerade auf das individuelle Bild über die NS-Zeit ist prinzipiell bekannt. Es gibt keine validen Untersuchungen, welchen Veränderungen diese familiäre Tradierung auf das Geschichtsbild der jungen Generation unterliegen – wo mittlerweile die Urgroßväter in der NS-Zeit agiert haben.

Die „68er-Generation“, die das kulturpolitische Fundament für die einschneidende Aufarbeitung der NS-Zeit gelegt hat, tritt vom Arbeitsleben ab.

Nach wie vor sind Spiel- und Dokumentarfilme sowie Berichte aus der NS-Zeit sehr häufig in den Medien, die auch die Verbrechen thematisieren, zu finden. Weltweit nimmt das Interesse am Holocaust immer noch kontinuierlich zu.

Dennoch nimmt das konkrete historische Wissen über die Geschichte ab. Sehr generalisierend kann festgehalten werden, dass in neuesten Schullehrplänen der Judenmord häufig ohne Kontext in den Mittelpunkt der Geschehnisse gestellt wird. Die Taten scheinen jedoch ohne Täter stattgefunden zu haben. Angesichts der Kompetenzorientierung und der Verkürzung des Geschichtsunterrichts im zwölfjährigen Gymnasialsystem gibt es nicht mehr die Notwendigkeit, sich mit der NS-Geschichte zu befassen. Auch an den Universitäten sind die Lehrangebote zu diesem historischen Zeitraum stark zurückgegangen. Angehende Lehrer können heute die einschlägigen Fächer abschließen, ohne einmal die NS-Zeit behandelt zu haben.

Ausgehend von den theoretischen Überlegungen von Maurice Halbwachs können historische Ereignisse in Gesellschaften über die dritte Generation hinweg nur dann kommunikativ lebendig bleiben, wenn sie von professionellen Einrichtungen getragen werden. Gedenkstätten sind ein Teil dieser Institutionenlandschaft. Die Gedenkstätten an Orten früherer selbstständiger KZ konnten sich im Rahmen des Bundesgedenkstättenkonzeptes erheblich ausweiten, erneuern und professionalisieren. Wenn auch das Konzept des Bundes an seine innovativen Grenzen gestoßen ist, sind die nachholenden Entwicklungen in verschiedenen Bundesländern – von Baden-Württemberg bis Schleswig-Holstein – für die Weiterentwicklung zumindest der Einrichtungen, die sich in den letzten drei Jahrzehnten mit festem Personal etablieren konnten, sehr positiv. Gerade diese Dezentralität ist für die Wahrnehmung der Geschichte in der deutschen Gesellschaft von wesentlicher Bedeutung. Zudem haben die Gedenkstätten sich gerade in der Bildungsarbeit enorm weiterentwickelt – was ein Blick auf aktuelle Publikationen und Seminarprogramme offenbart.

Sie sind in der Lage die Erinnerung an die NS-Zeit aufrecht zu erhalten. Wichtig ist dabei, dass sie nicht moralische Vorgaben machen, sondern das historische Verstehen fördern, wie es Martin Broszat schon in den 1980er-Jahren gefordert hat. Gedenken ist dann kein symbolisches Ritual, sondern ein auf Dauer ausgerichteter historischer Lernprozess mit starken Implikationen aus und für die Gegenwart.

Die NS-Zeit bleibt für das Verständnis der Entwicklung des heutigen Deutschlands zentral. „Der 8. Mai 1945 ist Teil meiner Identität, die geprägt ist von Bildung und Demokratie.“ Dieses am 4. Mai 2015 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nachzulesende Zitat eines jungen Kurden, der 1996 mit seinen Eltern nach Deutschland gekommen ist, macht deutlich, dass es einen vielfältigen Bezug zu der deutschen Zeitgeschichte gibt. Zunehmend wichtiger werden für den Lernprozess didaktisch-methodische Überlegungen der Beschreibung des historischen Gegenstands in Bezug auf die Gegenwart der interessierten Besucherinnen und Besucher. 

 

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