"Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg"
Von David Zolldan
Mit dem Anspruch die Geschichte der Dritten Welt im Zweiten Weltkrieg soweit wie möglich aus der Perspektive der Kolonialisierten zu beschreiben, kuratierte das Rheinische Journalistenbüro zusammen mit recherche international e.V. eine Ausstellung mit dem Titel »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«. Vor allem deren Wiedergabe der Verknüpfungen des Zweiten Weltkrieges sowie des Nationalsozialismus mit arabischen Haltungen war kontrovers und durch Vertreter wie Götz Aly oder den ehemaligen Berliner Integrationsbeauftragten Günter Piening prominent diskutiert worden: Wurde ihr von der einen Seite die Reproduktion rassistischer Haltungen und gar die Verharmlosung durch Abwehr des Fokus auf Deutschland vorgeworfen, unterstützten andere die Haltung einer zwischen der Herausarbeitung der Solidarität eines Teils der arabischen Bevölkerung mit den NS-Verfolgten und Kollaboration auf der anderen Seite oszillierenden Vermittlung. Dazu stellte sich die Frage, wie die Verknüpfungen aufgezeigt werden können, aber gleichzeitig die Besonderheit der deutschen Kriegspolitik gegenüber den kolonialpolitischen Überlegungen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg vermittelbar bleibt. Diese Kontroverse kann auch die vom Pädagogischen Zentrum des Fritz-Bauer Instituts zusammen mit dem Jüdischen Museum Frankfurt/Main herausgegebenen Pädagogischen Materialien Nr. 2 zum Ausstellungsprojekt in der Konzeption nicht unberührt gelassen haben.
Aufbau
Gottfried Kößler, der als pädagogischer Leiter des Fritz-Bauer-Instituts die didaktische Einführung zur zweiten Ausgabe der Materialienreihe gibt, konstatiert, dass »die globale Perspektive auf Geschichte maßgeblich sei.« (S. 3) Den drei thematischen Hauptkapiteln vorangestellt ist jeweils ein einleitender Text zum historischen Hintergrund. Die Materialien selbst, die »keinesfalls« in Konkurrenz zur Ausstellung verstanden werden sollen, beinhalten Karten, Tagebuchauszüge sowie andere zeugnisgebende Lebensberichte und Dokumentauszüge. Die Einleitungen der drei Blöcke bauen nicht direkt inhaltlich aufeinander auf, sodass zum Verständnis keine Informationen aus den anderen Kapiteln notwendig sind. Die Blöcke sind daher für die simultane Bearbeitung von verschiedenen Kleingruppen beispielsweise im Unterrichtsverband geeignet. Aufgrund meist unbekannten Stoffes vor allem in Bezug auf die westpazifischen Kriegsereignisse, sowie der Komplexität einzelner Quellen, erscheint eine internetgestützte Bearbeitung zur Begriffsklärung hilfreich. Die eingangs angerissene Kontroverse aufgreifend, kann die Auswahl der Materialien gerade in Bezug auf den Nahen Osten (Kapitel 1) als Versuch der vielschichtigen Darstellung und Vermeidung der zuschreibenden Darstellung als Opfer oder Täter gelten. Nahezu betont werden Täter-, Kollaborateurs-, Opfer, als auch Helfer/innen-Zeugnisse nebeneinander gestellt. Dazu zählen ein Notizen des Treffens des Muftis von Jerusalem, Al-Husseini mit Hitler, Überlegungen des US-Außenministeriums zur Kooperation mit dem saudischen Scheich Ibn Saud zum Schutz der Jüdinnen und Juden in Palästina sowie rückblickende Betrachtungen des britischen Nahostexperten John Marlowe aus dem Jahr 1946.
»Sie ließen uns das Lager aufgraben und die Erde von einer Stelle zur anderen bringen. Allen war klar, dass wir bei den geringen Mengen, die wir zu essen hatten und der zermürbenden Arbeit einem langsamen Tod entgegengingen. Es war eine tägliche Folter, genauso wie in den europäischen Arbeitslagern.« (S. 29) So erinnerte sich der 1942 18-jährige Orek an die Bedingungen im KZ Giado – das größte einer Reihe von KZs in Libyen mit italienischem und arabischem Wachpersonal. Zwischen Februar 1942 bis zur Auflösung im Januar 1943 wurden mehrere Tausend libysche Jüdinnen und Juden nach Giado deportiert. Diese Quelle ist Teil des zweiten Kapitels zum Mittelmeerraum und Maghreb, in dem auch Algerien und Tunesien thematisiert werden. Der zwar illusorischen, aber dennoch zu Teilen antikolonialistischen Bestrebungen geschuldeten Kollaboration mit den Nazis wird hier beispielhaft die arabische Solidarität mit verfolgten Jüdinnen und Juden in Algerien gegenübergestellt. So verlasen Imame in algerischen Moscheen Anweisungen an Muslime, im Gegensatz zu vielen französischen Siedler/innen keine finanziellen Vorteile aus der Verfolgung zu ziehen. (S. 24) Gleichzeitig wird auf das Pogrom von Constantine 1934 mit wesentlicher Beteiligung arabischer Bevölkerung verwiesen. (S. 20) Vermag diese Herangehensweise womöglich vorhandene zuschreibende Bilder zu irritieren, so bleibt es eine Herausforderung für die Lerngruppe aus diesem gleichgewichteten Material eine strukturelle Tendenz zu destillieren. Doch ermöglicht auch diese Aufbereitung die provozierende Frage, inwieweit die schematische Trias von Tätern, Opfern, Bystandern gerade außerhalb des europäischen Kontextes Anwendung finden kann. So sei es angesichts des in Kapitel III thematisierten japanischen Imperialismus zwar ein Wunder, dass das in das japanische Eroberungsgebiet fallende Shanghai »den ganzen Krieg über zum Zufluchtsort für Juden aus Europa werden konnte. (...) [Doch:] Ein vergleichbarer Antisemitismus wie in Deutschland hat sich in Japan schon aufgrund einer vollkommen anderen Geschichte nicht entwickelt, und mehrere japanische Diplomaten halfen Juden auf die eine oder andere Weise bei der Flucht und Rettung vor dem Holocaust.« (S. 44) Dieses Desinteresse Japans an der Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden vermag nicht zuletzt die Besonderheiten der deutschen Kriegsführung zu unterstreichen. Die Quellen des dritten Kapitels zum Fernen Osten widmen sich dem Japanisch-Chinesischen Krieg, Exilzeugnissen aus Shanghai (Link Anne Text), sowie dem Massaker von Nanking. Die auszugsweise abgedruckte Antwort der Botschaft von Japan zu den Vorwürfen hinsichtlich der Kriegsverbrechen von Nanking anlässlich des 60. Jahrestags des Kriegsendes 2005 fokussiert vor allem die Darstellung in Schulbüchern und regt zur vergleichenden Diskussion des geschichtspolitischen und didaktischen Umgangs mit extrem gewaltbelasteten nationalen Geschichten an. Weiterhin werden die Verknüpfungen und das Wissen der nationalsozialistischen Behörden bspw. um Nanking, deren Umgang, aber auch die Ambitionen NS-Deutschlands außerhalb des standardisierten Lehrbezugs Europa beleuchtet. Der Tagebuchauszug von John Rabe ist wiederum zur erneuten Irritation geeignet: Rabe, überzeugter Nationalsozialist, war in Nanking wesentlich an der Rettung chinesischer Zivilisten vor den Kriegsverbrechen der verbündeten japanischen Soldaten beteiligt.
Fazit
Die pädagogischen Materialien Nr. 2 meistern das Kunststück als zwar recht textlastige aber ausgewogene Quellensammlung, Perspektiven auf die verschiedenen geografischen Räume des Nahen und Fernen Ostens sowie des Maghreb zu öffnen, die nach den Verknüpfungen zum Nationalsozialismus, zur Verfolgung sowie den europäischen Kriegsentwicklungen aber auch nach eigenständig zu betrachtenden Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg fragen. Wer feste Unterrichtsvorgaben und Lernziele wünscht, sollte sich anderem Material zuwenden. Für die konzeptionell offene schulische sowie außerschulische Bildungsarbeit in diskutierenden Kleingruppen sind die Materialien Nr. 2 eine sehr geeignete Möglichkeit, Fragen und unterschiedliche irritierende Sichtweisen zu provozieren.
Literatur und Bezug
Wolfgang Geiger, Martin Liepach und Thomas Lange (Hg.): Verfolgung, Flucht, Widerstand und Hilfe außerhalb Europas im Zweiten Weltkrieg. Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsprojekt »Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg«, Pädagogische Materialien Nr. 2, Frankfurt/Main 2013, 76 S., € 7,-
bestellbar unter: Karl Marx Buchhandlung GmbH, Jordanstraße 11, 60486 Frankfurt am Main
Telefon: +49 (0)69 778 807
Mail: info [at] karl-marx-buchhandlung [dot] de
Auf der Webseite findet sich ein Bestellformular.
Eine umfangreiche Ergänzung ergibt die Zuhilfnenahme des folgenden Materials: Rheinisches JournalistInnenbüro/Recherche International e.V. (Hg.): Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Unterrichtsmaterialien zu einem vergessenen Kapitel der Geschichte, Köln 2008. 224 S. inkl. CD mit allen Materialien sowie Audio-Interviews, 15 Euro.
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- 26 Mai 2015 - 23:29