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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Doğan Akhanlı ist Schriftsteller und lebt seit 1992 in Köln. Nach dem Militärputsch in der Türkei 1980 ging er in den Untergrund, 1985-87 saß er als politischer Häftling im Militärgefängnis von Istanbul.

Dogan Akhanlı

Geteilte Erinnerungsräume – Geschichten von Flucht,  Exil und Verfolgung in der Berliner Hardenbergstraße 

Eine im Aufbau befindliche Internetseite will zukünftig (http://www.flucht-exil-verfolgung.de) an sechs nummerierten Stationen und mit sieben Exkursen zu weiteren Orten entlang der Hardenbergstraße wenig bekannte Aspekte der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts erfahrbar machen. In der Einleitung der Seite heißt es, „die unterschiedlichen Schicksale der Anwohner vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus ermöglichen Einblicke in die historischen Beziehungsgeflechte des 20. Jahrhunderts. Dieser Stadtrundgang möchte zum Kennenlernen der Geschichten einladen und zur Diskussion und zum Nachdenken über Erinnerungskultur anregen.“

Entlang der Hardenberg Straße

Entlang der Berliner Hardenbergstraße kreuzen sich mehrere Geschichten von Flucht, Exil und Verfolgung, die uns ermöglichen, die armenisch-deutsch-türkischen Beziehungsgeschichten in Bezug auf Nationalsozialismus und den Genozid an den Armeniern zu erzählen.

Die Hardenbergstraße liegt zwischen der Gedächtniskirche und dem Ernst Reuter Platz in Berlin-Charlottenburg. Dort steht im Schatten des Bahnhofs Zoologischer Garten das Amerika Haus (Hausnummer 20, die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die Hausnummern), vor dem  während der 68’er Bewegung immer wieder Student/innen demonstrierten. Dort wurde Talaat Pascha, ein jungtürkischer Funktionär, späterer Innenminister und Großwesir des Osmanischen Reiches, 1921 durch den Armenier Soghomon Tehlirian erschossen (37). Dort verübte Cemal Kemal Altun, ein türkischer Asylsuchender, 1993 aus Angst vor seiner Abschiebung Selbstmord (22). Ernst Reuter, Sozialdemokrat, Verkehrs- und Kommunalexperte und 1936-46 im türkischen Exil, danach Berliner Oberbürgermeister, fand hier nach seiner Rückkehr nach dem Krieg seine erste Wohnung (35). In der Nähe lebte die türkisch-jüdische Familie Behar bis zum 12. Dezember 1942 (Kantstrasse 154a).

„Mördermord“ und Völkermord: Soghomon Tehlirian & Talaat Pascha

Nach dem Verhandlungsprotokoll des Prozesses im Falle der Ermordung Talaat Paschas, der am 2. und 3. Juni 1921 in Berlin stattfand, wohnte Talaat Pascha in der Hardenbergstraße Nummer 4 und wurde am 15. März 1921 auf der Straße von dem armenischen Studenten Soghomon Tehlirian erschossen, der selbst in dem gegenüber liegenden Haus mit der Nummer 37 wohnte. Beide Häuser wurden im Krieg zerstört.

Am 15. März 1921 gegen Mittag verließ Talaat sein Wohnhaus und ging auf dem rechten Bürgersteig in Richtung Zoologischer Garten. Als er vor dem Haus mit der Nummer 17 ankam, dort wo sich heute die Industrie- und Handelskammer befindet, erschoss Soghomon Tehlirian  Talaat Pascha, warf die Waffe weg und floh in Richtung Fasanenstraße. Als Passanten sich auf ihn warfen und ihn überwältigten, verteidigte Tehlirian sich mit den Worten: „Ich bin Armenier, er ist Türke. Was haben die Deutschen damit zu tun!" (Hofmann 2000)

Tehlirian war kein Einzeltäter, wie er als Angeklagter vor Gericht am 2. und 3. Juni 1921 in Berlin behauptete, sondern ein Mitglied des armenischen Kommandos „Operation Nemesis“, das die Täter des Genozids an den Armeniern verfolgte und tötete. Sein erstes Opfer war Harutiun Mugerditchian, der als Armenier die Liste der Deportierten am 24. April 1915 für  den Polizeipräsidenten in Istanbul erstellt hatte. Tehlirian wurde bei dem Mordprozess vom Vorwurf eines Tötungsdeliktes mit der Begründung „Unzurechnungsfähigkeit“ freigesprochen. Das Verbrechen an den Armeniern führte bereits 1919 zu dem ersten Völkermordprozess in Konstantinopel. 

Am 15. Juli 1919 wurden Talaat, Enver, Cemal und Dr. Nazim in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Insgesamt wurden vor den Kriegsgerichten 17 Todesurteile ausgesprochen, von denen schließlich drei vollstreckt wurden. Die Täter, die sich mit deutscher Hilfe ins Ausland bzw. nach Berlin geflüchtet hatten, wurden jedoch später von den armenischen Attentätern erschossen. Am 6. Dezember 1921 wurde der ehemalige Großwesir Said Halim in Rom, am 21. Juli 1922 Cemal Pascha in Tbilisi (Tiflis) liquidiert. Zeitgleich wurden im April 1922 der Chef der türkischen Sondereinheiten „Teschkilat-ı Mahsusa”, Dr. Bahaddin Şakir, sowie  der Polizeipräsident und „Henker von Trabzon”, Cemal Azmi, auf der Uhlandstraße in Berlin erschossen. Ihre Gräber befinden sich heute noch auf dem türkischen Friedhof in Neukölln. Talaats sterbliche Überreste wurden auf Initiative zweier hochrangiger türkischer Beamter, Haluk Pepeye und Selahatdin Korkut, am 20. Februar 1943 in einem Schnellzug nach Istanbul gebracht, wo Talaat fünf Tage später in einem Staatsbegräbnis auf dem Ehrenfriedhof „Denkmal der Freiheit” (türk.: Abide-i Hürriyet) am „"Hügel der Ewigen Freiheit” (türk.: Hürriyet-i Ebediyye Tepesi) im Istanbuler Stadtteil Şişli beigesetzt wurde. (Bali 2006, Hofmann Aga)

Das Wort „Genozid“ tauchte erstmalig 1944 in einem Buch des Juristen Raphael Lemkin auf. Benutzt man heute den Begriff „Genozid“, bezieht man sich auf die Wortschöpfung Raphael Lemkins. Vor allem seinem Einsatz ist die Existenz der „Konvention zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ geschuldet, die 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Die Türkei, die durch den Völkermord an den Armeniern letztlich die Begriffsbildung „Genozid“ verantwortet, verleugnet bis heute den Genozid.

2006 gründeten Nationalisten und Ultranationalisten eine Initiative namens „Talaat Pascha Offensive“ und wollten im März durch die Hardenbergstraße marschieren um Talaat zu ehren.  „Nimm Deine Fahne und eile nach Berlin!“ lauteten die Anzeigen des Komitees Talaat Paschas in europäischen Ausgaben vieler türkischer Zeitungen. „Wir gedenken mit Hochachtung Talaat Paschas, der die Voraussetzungen zum Sieg im Befreiungskrieg schuf.“ - so die Erklärung des Komitees Talaat Pascha. Sie versuchten, türkischstämmige Einwanderer in Deutschland zu mobilisieren. Da sie ausgesprochen  aggressiv agierten, entschiedenen sich von Tag zu Tag mehr türkische Organisationen dazu, von der Aktion Abstand zu nehmen.  Zusätzlich legten sie den Kranz an eine falsche Stelle, und zwar nicht dort, wo Talaat Pascha ermordet wurde, sondern auf dem Steinplatz vor dem Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Dieses Vorgehen wurde von der deutschen Öffentlichkeit als Missbrauch des Denkmals auf dem Steinplatz empfunden. 

Selbstmord: Cemal Kemal Altun

Vor dem ehemaligen Berliner Verwaltungsgericht (20), das unmittelbar gegenüber dem Bahnhof Zoologischer Garten lag, fand der türkische Exilant Cemal Kemal Altun den Tod.  Heute befindet sich dort ein Mahnmal für ihn. Auf beiden Seiten des Mahnmals ist – einmal in deutscher, einmal in türkischer Sprache – zu lesen: „Cemal Kemal Altun stürzte sich am 30. August 1983 als politischer Flüchtling hier aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts aus Angst vor Auslieferung in den Tod. Politisch Verfolgte müssen Asyl erhalten.“ Das Denkmal wurde im Jahr 1996 von der damaligen Bezirksbürgermeisterin Berlin-Charlottenburgs, Monika Wissel, enthüllt.

Altun floh im November 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei über die Balkanländer und die DDR nach West-Berlin und beantragte dort wenige Monate später politisches Asyl. (Seibert 2008) Zur gleichen Zeit berichteten die türkischen Zeitungen, die türkischen Behörden beschuldigten ihn, an der  Ermordung eines türkischen Politikers beteiligt gewesen zu sein. Als der Staatsschutz von seinem Antrag erfuhr, schaltete er das BKA ein. Das BKA informierte Interpol in der Türkei und fragte an, ob ein Auslieferungsantrag gestellt werde. Noch am selben Tag übermittelte die türkische Regierung einen Haftbefehl gegen Altun. Am 21. Februar 1983 bewilligte die Bundesregierung die Auslieferung Cemal Altuns an die Türkei, in deren Militärdiktatur dem jungen Türken jedoch der „Tod durch unmenschliche Haftbedingungen, Folter oder Hinrichtung“ (amnesty international) drohte. Die Auslieferung wurde durch die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg zunächst aufgehalten und das

Oberverwaltungsgericht Berlin sollte am 29. August 1983 klären, ob Altun der türkischen Militärregierung ausgeliefert werden könne. Die Verhandlung fand im sechsten Stock des Oberverwaltungsgerichts statt. Am zweiten Verhandlungstag lief Altun, nachdem ihm die Handschellen geöffnet wurden, auf ein offenes Fenster im Gerichtssaal zu und stürzte sich 25 Meter hinunter.

Cemal Kemal Altun wurde sechs Monate nach seinem Tod vom Gericht das Asylrecht zugesprochen. Sein Grab liegt auf dem Dreifaltigkeitskirchhof III in Berlin-Mariendorf. (Gross &Thomas 2003)

 „Hier Wohnte Familie Behar / Deportiert 1942“

An der Ecke Fasanenstraße und Kantstraße, vor dem Haus Nummer 154a gibt es vier Stolpersteine, die in Erinnerung an die Familie Behar verlegt wurden.Nissim, Lea, Alegrina und Jeanne Behar wurden am 14.12.1942 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Als die Stolpersteine 2003 verlegt wurden, ging man jedoch noch von Riga als Deportationsort aus. Der überlebende Sohn und Bruder Isaak Behar hat in seinem Buch "'Versprich mir, dass du am Leben bleibst'. Ein jüdisches Schicksal, Berlin 2002, die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben.

Die Eltern von Isaak Behar kamen 1915 aus Istanbul nach Berlin, weil „sie sich vor den Feindseligkeiten fürchtete[n], denen im Osmanischen Reich lebende Minderheiten – Griechen, Armenier und Juden – zunehmend ausgesetzt waren“ (Behar  2002: 21)

1939 lebten im Deutschen Reich und Österreich 263 türkische Jüdinnen und Juden, 101 davon in Berlin. Ausbürgerungen von Jüdinnen und Juden waren Ende der 1930er Jahre traurige Realität in der Türkei. Die Behars hatten von anderen türkische Juden gehört, dass sie ihre Pässe nie wieder gesehen hätten. Wie  Isaak Behar in seiner Biografie berichtet, habe die deutsche Regierung gefordert, ihre türkische Staatsbürgerschaft überprüfen zu lassen.

Wie befürchtet, wurden ihre Pässe abgenommen. Erst bekamen sie einen deutschen Fremdenpass mit dem Vermerk: „Staatsangehörigkeit: Türkei“, später „Staatsangehörigkeit: ungeklärt“ und noch später wurden sie  „staatenlos“ erklärt.

An jenem Sonntag, dem 14. Dezember 1942 war Isaak Behar unterwegs, als die Gestapo die anderen Familienmitglieder in der Wohnung verhaftete. Sie wurden erst zum Bahnhof Grunewald gebracht, später mit dem 57. so genannten Osttransport nach Auschwitz deportiert und dort direkt nach der Ankunft ermordet.

Isaak Behar gelang es in der Zwischenzeit, unterzutauchen. Bis zum Ende des Krieges war er in Berlin als sogenanntes U-Boot auf der Flucht. Nur durch die Unterstützung vieler Helfer und Helferinnen konnte er überleben. 

Seine türkische Staatsbürgerschaft wurde ihm in den 1950er Jahren zunächst wieder anerkannt. Später entschied er sich jedoch für die deutsche Staatsbürgerschaft und lebte weiterhin in Berlin. Er engagierte sich ab 1988 als Zeitzeuge und traf regelmäßig Schüler/innen, Studierende und auszubildende Polizist/innen. Im April 2011 verstarb er im Alter von 87 Jahren in Berlin.

Das Schicksal der Familie Behar war keine Ausnahme. über 3.000 türkische Juden und Jüdinnen wurden während des Holocausts ermordet. (Gutstadt 2008) Es muss also als ein Mythos in der türkischen Geschichtsreibung bezeichnet werden, dass türkische Diplomaten tausende jüdischer Menschen in Europa während des Zweiten Weltkrieges retteten. Von einem türkischen Diplomaten, Selahattin Ülkümen, weiß man jedoch, dass er 1944, während der deutschen Besatzung, 42 Menschen das Leben rettete. Bei ihm handelt es sich um den einzigen türkischen Bürger, der als „Gerechter der Völker“ anerkannt wurde und für den es einen Baum in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gibt.

Ein ausführlicher Artikel mit didaktischen Reflexionen zum Rundgang in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit auf der Grundlage der ersten pädagogischen Praxiserfahrungen folgt in der Mai-Ausgabe dieses Magazins.

Literatur

Akçam, Taner: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Hamburg 1996. 

Bakırdöğen, Ayhan: „Die Türkei als Exilland während der Zeit des Nationalsozialismus“, Neue Zürcher Zeitung, 20./21., Mart 1999. 

Bali N., Rıfat: Toplumsal Tarih sayı: 150, Haziran 2006. 

Behar, Isaak: Versprich mir, dass du am Leben bleibst, Berlin 2002. 

Gross, Paul; Jens-Uwe Thomas: Zuflucht gesucht, – den Tod gefunden, Berlin 2003. 

Gust Wolfgang: Völkermord an den Armeniern. Die Tragödie des ältesten Christenvolkes der Welt. Carl Hanser Verlag, München 1993. 

Guttstadt, Corry: Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Assoziation A, Berlin 2008.

Heinsohn, Gunnar: Lexikon der Völkermorde, Reinbek 1998. 

Hofmann, Tessa (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern vor Gericht. Der Prozeß Talat Pascha. Im Auftrag der Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 1980. 

Hosfeld, Rolf: Operation Nemesis, KIWI, Köln 2005. 

Kieser, Hans-Lucas; Schaller, Dominik J.: Völkermord im historischen Raum. In: Kieser, Hans-Lucas; Schaller, Dominik J. (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah. The Armenian Genocide and the Shoah. Zürich 2002, S. 11-80. 

Kieser, Hans-Lukas: Die armenische Tragödie. In: Weltwoche, Ausgabe 42/2006. 

Kux Ulla: „dass Völkermord ein Verbrechen ist“ - Eine Erinnerung an Raphael Lemkin. 2005. (http://mkll.de/wp-content/uploads/2008/02/kuxlemkinvortrag.pdf

Lemkin, Raphael: “Genocide as a Crime under International Law”. In: American Journal of International Law”, Ausgabe 1/1947, S. 145-151.

Lemkin, Raphael: Axis Rule in Occupied Europe: Laws of Occupation, Analysis of Government, Proposals for Redress, Washington D.C. 1944.

Sassounian, Harut: Lemkin Discusses Armenian Genocide in Newly-Found 1949 CBS Interview. In: The California Courier Dec. 8, 2005.

Schütz, Klaus: “Ernst Reuter - die Leitfigur im Freiheitskampf”, 26. September 2003. (http://archiv.spd-berlin.de/geschichte/personen/l-z/reuter-ernst/reuter-gedenkveranstaltung-gedenkrede-von-klaus-schuetz/

Seibert, Niels: Ein staatlich betriebener Selbstmord. Cemal Altun und Proteste gegen Auslieferungen, Münster 2008. 

Verein aktives Museum (Hg.): Haymatloz. Exil in der Türkei 1933–1945, Ausstellungskatalog, Verlag wie Hg., Berlin 2000.

 

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