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Der Holocaust im Schulunterricht – Schlüsselproblem oder beliebiges Unterrichtsthema?

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Bertram Noback ist Gymnasiallehrer am Hölderin-Gymnasium in Heidelberg mit den Fächern Geschichte, Gemeinschaftskunde, Deutsch, Philosophie / Ethik sowie Lehrbeauftragter am Institut für Bildungswissenschaft Heidelberg und an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg.

Von Bertram Noback

Der 70.Jahrestag der Befreiung von Auschwitz bewirkt im öffentlichen Diskurs eine kurzfristige, sehr intensive Rückbesinnung an die damalige Zeit, die sich in zahlreichen Dokumentationen und Titelberichterstattungen (z.B. SPIEGEL 24.1.15) äußert. Die mediale Präsenz des Themas wird vermutlich kurz danach wieder abebben und andere Problemstellungen (Ukraine-Konflikt, Pegida, Eurokrise) werden wieder in den Mittelpunkt treten. Doch wie ist dies im schulischen Diskurs? Für fast eine ganze Generation von Lehrer/innen, vor allem der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer, war das Thema Nationalsozialismus grundlegend und galt als Schlüsselproblem der schulischen Bildung. Ist das heute noch so oder wird das Thema mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer mehr zu einem beliebigen Unterrichtsthema wie die Zunftordnung im Mittelalter, die Bedeutung des Nils für das alte Ägypten oder Ursachen der deutschen Revolution? 

Diese Problematiken stehen im Zentrum einer qualitativen Forschungsstudie, in der ich 56 Geschichtslehrer/innen hinsichtlich ihrer Erfahrungen im schulischen Umgang mit der NS-Zeit befragt habe und Rückschlüsse für eine heutige „Erziehung nach Auschwitz“ ziehe. Es handelt sich dabei um ein Dissertationsprojekt am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Heidelberg unter Betreuung von Frau Prof. Dr. Rose Boenicke und Frau Prof. Dr. Monika Buhl. Dabei ging es vor allem auch um den Stellenwert, den das Thema für heutige Lehrer/innen in Rahmen der schulischen Bildung hat bzw. haben sollte.

Für fast alle Befragte hat der Holocaust nach wie vor einen ausgesprochen wichtigen Stellenwert im Geschichtsunterricht. Nur eine Lehrerin distanzierte sich davon und hob hervor, dass es sich dabei um ein Thema wie jedes andere handelt. Eine besondere Erinnerungsaufgabe der Schule wurde hier komplett in Abrede gestellt. Es handelt es sich bei der Befragten um eine Lehrerin, die noch in der DDR-Zeit sozialisiert wurde und für deren persönliche Erinnerungen die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit eindeutige Priorität hat. Sie hat ein sehr großes Bedürfnis, dass ein Schlussstrich gezogen wird und hält das Thema für ein beliebiges, bei dem man vor allem aufpassen müsse, die Schüler nicht zu überwältigen. Daher hält sie sich bei der unterrichtlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus weitgehend im Hintergrund und lässt das Thema sehr schülerzentriert erarbeiten. Innerhalb der Probanden, Geschichtslehrer aus Baden-Württemberg, war diese Position die Ausnahme, doch es ist davon auszugehen, dass die zweite deutsche Diktatur des 20.Jahrhunderts einen immer wichtigeren Stellenwert im schulischen Diskurs haben wird, wenn auch damit keine relativistische Sichtweise auf den deutschen Faschismus einhergehen muss.

Für die anderen Lehrer/innen ist die NS-Zeit nach wie vor eines der wichtigsten Themen, wenn nicht das wichtigste im Geschichtsunterricht. Dennoch haben sie völlig unterschiedliche Wahrnehmungsmuster dahingehend, wie man angemessen mit dieser Zeit heute umgehen sollte. Im Einzelnen ergaben sich aus der Einzelfallanalyse und der darauf aufbauenden Typenbildung drei idealtypische Geschichtsbilder der dritten Generation, aus denen sich unterschiedliche Einstellungen zum Umgang mit der NS-Zeit in der Gesellschaft und der Schule aufzeigen lassen.

  1. 1. Distanzierung: Ein Teil der Lehrer der dritten Generation distanziert sich von der wahrgenommenen familiären, schulischen und / oder gesellschaftlichen Aufarbeitung dieser Zeit. Sie erlebten die Auseinandersetzung als zu umfassend, moralisch aufgeladen und emotionalisierend, passend zur von Walser ins Spiel gebrachten „Moralkeule Auschwitz“. Daher möchten sie die pädagogischen Ansprüche an das Thema senken und ihm agieren hier verunsichert. Bei vielen Lehrern mit diesem Geschichtsbild führt das zu einer Versachlichung der schulischen „Erziehung nach Auschwitz“. Einige wollen um jeden Preis vermeiden, die gemachten Erfahrungen, ihren Schülern zuzumuten, d.h. sie möchten die Schüler auf keinen Fall überwältigen.
  2. 2. Offensive Auseinandersetzung: Eine andere Gruppe hält das Thema nach wie vor für absolut grundlegend und hebt die Sonderstellung dieses Zeitabschnitts für die bundesdeutsche Geschichte und insbesondere die schulische Auseinandersetzung hervor. Diese Lehrer erlebten den Umgang mit der NS-Vergangenheit meistens als angemessen und halten insbesondere die verbrecherische Seite dieses Regimes für derart inhuman, dass sie dieses Thema in den Mittelpunkt des Geschichtsunterrichts stellen. Zum Teil intendieren sie Lernformen, die weit über den Fachunterricht hinausgehen (z.B. Projekttage, Gedenktage), weil sie das Thema für ein Schlüsselproblem schulischer Bildung und Erziehung halten.
  3. 3. Normalisierung, Historisierung: Während die ersten beiden Typen von Geschichtslehrern die Extremformen eines Kontinuums darstellen, eine sehr offensive bzw. eher defensive Herangehensweise an die aufgeworfene Problematik, ist für den dritten Typen das Thema nach wie vor sehr wichtig im schulischen Umgang, aber sie möchten die deutsche Geschichte keineswegs darauf reduzieren. Aus ihrer Sicht gibt es auch andere Zeitabschnitte der deutschen, europäischen und globalen Geschichte, die es genauso wert sind, erinnert zu werden und die einen ähnlich wichtigen Stellenwert haben. Der Nationalsozialismus wird dann immer mehr eingebettet in größere Zusammenhänge und dient dann in der Schule als ein mögliches Beispiel für totalitäre Diktaturen. In der Gedenkstättenpädagogik wird dieses Muster als Universalisierung bezeichnet, d.h. anhand dieses Themas soll exemplarisch gelernt werden.

Aufgrund der hier dargelegten unterschiedlichen Deutungsmuster sind Rückschlüsse zu ziehen, die hier kurz in drei Thesen darlegen werde. Alle drei Thesen belegen, dass es sich beim Holocaust nach wie vor nicht um ein beliebiges Unterrichtsthema handelt und ich gehe davon aus, das wird auch mittelfristig so bleiben, trotz der generationalen Veränderungen, trotz der werdenden Migrationsgesellschaft.

  1. 1. Der schulische Umgang mit der NS-Vergangenheit zeichnet sich heute durch ein sehr hohes Maß an Heterogenität aus, was die Haltungen der dort agierenden Akteure (Schüler/innen, Lehrer/innen, Eltern) angeht, andererseits die pädagogischen Herangehensweisen betrifft (vom reinen Faktenlernen bis hin zu außerschulischen Projekten, Exkursionen, Zeitzeugengesprächen). 
  2. 2. Trotz aller Gegenargumente halte ich den Nationalsozialismus und allen voran den Holocaust nach wie vor für Schlüsselprobleme schulischer Bildung. Das möchte ich mit dem Stellenwert dieses Themas für das bundesdeutsche Geschichtsbewusstsein, dem einmalig technisch-bürokratisch organisierten Massenmord, dem unüberbrückbaren Zivilisationsbruch einer zuvor vor allem kulturell und politisch für die damalige Zeit modernen deutschen Gesellschaft und der nach wie vor immer wieder aufflackernden medial-öffentlichen Präsenz begründen.
  3. 3. Beim Nationalsozialismus handelt es um eines der am schwierigsten zu vermittelnden Unterrichtsinhalte, was an der dort auftretenden nicht begreifbaren Unmenschlichkeit und den von Lehrern wahrgenommen pädagogischen Herausforderungen liegt (z.B. Sorge vor moralisch-emotionaler Überwältigung, nicht beantwortbare Fragen). Will man sich wirklich ernsthaft damit auseinandersetzen, reicht kein oberflächlicher Schulbuch- oder Frontalunterricht. Die sich aus dem Thema stellenden existentiellen philosophischen Fragestellungen lassen sich nur durch ein sehr komplexes Lernarrangement und nicht einen beliebigen Fachunterricht angemessen behandeln. 

 

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