Von Anne Lepper

„Endlich unterwegs nach Hause! Mit einem Stock wandere ich friedlich. Manchmal wende ich den Kopf ins Blaue, nach oben.“ Mit einem Zitat T'aos beginnt Liana Millu ihre Erzählung „Die Brücke von Schwerin“. Doch hinter diesem Einstieg, der fröhlich, ja fast sorglos erscheint, verbirgt sich die ungeheure Schwierigkeit, mit all den Erfahrungen aus dem Lager im Gepäck den Weg in das Leben „danach“ anzutreten.
Liana Millu, die wegen ihrer jüdischen Herkunft und ihrer Verbindungen in die Resistenza 1944 in Venedig verhaftet und in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt wurde, erzählt eine Geschichte, deren metaphorische Bedeutung so augenfällig wie bewegend ist. Ihr Weg nach Hause – von Malkow, einem Ort in der Nähe Stettins, an dem sie befreit wurde – nach Italien, ist gleichzeitig ein Weg vom sicheren Tod in ein verunsicherndes neues Leben. Doch hat die Protagonistin in diesem Mai 1945 gewiss andere Sorgen, als sich die schwerwiegende Bedeutung ihrer Wanderung bewusst zu machen. Es ist erst die Reflexion der Autorin Millu, die sich im Alter an jene Tage und Wochen erinnert, die das Gefühl vermittelt, unterwegs von der einen Welt in die andere zu treten.
Das erste Etappenziel auf dem Weg Elminas – wie sich Millu in der Erzählung nennt – kann in diesem Sinne als Schwelle vom Hier ins Dort gelesen werden. Die Schwelle, das ist hier die Demarkationslinie, mit der die Alliierten das besiegte Deutschland untereinander aufgeteilt haben. Dort würde für Elmina, darüber ist sie sich sicher, das eine Kapitel enden und ein diffuses neues Kapitel beginnen: „An der Demarkationslinie tauschten die Alliierten die Leute aus. Jeder nahm seine zurück, sie wollten nicht, dass sich da was mischte. Alle Slawen nach Osten, alle Westeuropäer nach Westen. Schauplatz war eine Brücke bei Schwerin, für uns der nächste Ort an der Demarkationslinie.“ (S.12) Die Brücke wird in der Erzählung zum Sinnbild von Freiheit, Freude, aber auch von der Angst vor dem, was nun kommt. Sie begleitet die Erzählung deshalb auf verheißungsvolle und bedrohliche Weise, stets als großes und einziges Ziel vor den Augen der Wandernden.
Doch der Weg dorthin, der Elmina durch eine zerstörte und dennoch auf seltsame Weise friedlich anmutende deutsche Landschaft führt, bildet in gewisser Weise eine Zwischenstufe, auf der sich beide Welten auf verwirrende und oft bedrückende Weise vermischen. Während Empfindungen und Erfahrungen des Lagers nach wie vor gegenwärtig sind und durch neue, bestürzende Erlebnisse stets wiederbelebt werden, mischt sich darunter manchmal schon ein Gefühl der Freiheit und das Bewusstsein darüber, dass die Zeit im Lager nun endgültig vorbei ist. Noch sind die Tage bestimmt durch die Entbehrungen, die der Lageralltag mit der Zeit ertragbar gemacht hat, und durch den Tod, der nach wie vor das Denken Elminas beherrscht. Doch das Erleben der frühlingshaften Landschaft, die menschenleere Straße und die zurückgewonnene Macht über den eigenen Tag lässt in Elmina zeitweise ein Gefühl der Ruhe und des Friedens aufkommen.
Oft trifft sie unterwegs auf andere Überlebende der Lager, die genau wie sie versuchen, auf dem Weg nach Schwerin oder in die andere Richtung, ihr Leben zurückzugewinnen. Die Zusammentreffen sind stets gezeichnet von der Ambivalenz der Situation, in der sie sich befinden. Auf die Frage, weshalb er alleine unterwegs sei, antwortet ein Franzose, „er war allein, weil er zwei Jahre, drei Monate und neun Tage lang zu Gesellschaft gezwungen gewesen war. Ah, allein essen, schlafen, austreten können! Andere träumen von Banketten, er davon, allein zu sein. Und da sollte er jetzt seinen Traum aufgeben, mit anderen mitlaufen? Nein, vielen Dank! Bis nach Paris würde er gehen, wenn nötig. Zu Fuß bis nach Paris!“
Auch Elmina genießt es alleine zu sein, aber die Angst vor dem, was sie erwartet, bringt sie dennoch immer wieder dazu, sich anderen anzuschließen. Das Stadium in dem sie und die anderen Überlebenden sich befinden, nicht mehr im Lager und doch noch immer weit entfernt von der Normalität, macht den Umgang miteinander jedoch zu einer mitunter unlösbaren Aufgabe. Elmina findet sich hin und her geworfen zwischen Solidarität und Misstrauen, ohne dabei auf ein Wertesystem zurückgreifen zu können – weder auf jenes aus Birkenau, noch auf das aus einer freien Welt: „Genovefa [hatte] mit mir gesprochen, als wären wir im Lager. Ihre Stimme klang für mich verdächtig wie diejenige der Kapos in Birkenau, also antwortete ich ihr, wie ich es im Lager getan hätte.“ (S.69)
Sie zieht sich zurück und versucht, das wiedergefundene Gefühl der Einsamkeit auszuhalten.
Grund dafür ist jedoch nicht nur der schwierige Umgang miteinander sondern auch die zermürbenden Erinnerungen, die die Überlebenden ineinander wach halten: „Die Freundinnen, die wir gewesen waren, gab es nun nicht mehr; da jede von uns beiden für die andere die Erinnerung an die erlebten Qualen und Demütigungen verkörperte, konnten wir uns gar nicht richtig frei fühlen, solange wir beieinander waren.“ (S. 28)
Es bleibt Elmina auf ihrem Weg Richtung Schwerin nichts anderes übrig, als die eigene Zerrissenheit und den Spannungszustand, der sich aufgrund der miteinander konkurrierenden Gefühle ergibt, auszuhalten. Die Komplexität ihrer Situation zeigt sich dabei nicht nur in den Zusammentreffen mit anderen Überlebenden, sondern in allen sozialen Interaktionen, die sich unterwegs ergeben. Das Bewusstsein, sich nach wie vor in Deutschland zu befinden und von der Hilfsbereitschaft der deutschen Zivilbevölkerung abhängig zu sein, um den Weg bis zur Brücke von Schwerin zu überleben, bringt Elmina immer wieder an den Rand der Verzweiflung. Dass die Freude über die zurückgewonnene Freiheit häufig überlagert wird von substanziellen Nöten und komplizierten Auseinandersetzungen, erzeugt beim Lesen eine Disharmonie, die bis zum Ende nicht entweicht. Sarah Kofman konstatierte 1988, es sei nicht möglich, eine Geschichte über und nach Auschwitz zu erzählen, die Sinn ergebe. Die Erzählung Liana Millus ergibt in der Tat keinen Sinn. Sie erzeugt Dissonanzen, die von Auschwitz in die Zeit danach führen und erklären, was es den Überlebenden so schwierig machte, mit dem Erlebten weiter zu leben. Der Weg Elminas von der Welt im Lager zurück in eine vermeintlich normale Welt ist kein Weg des Triumphs sondern einer, in dem die Angst überlagert. Der Tod Willems, mit dem Elmina unterwegs zwei Tage gemeinsam geht, und der schließlich, kurz vor dem Ziel an Entkräftung stirbt, ist zutiefst sinnlos und verstörend. Doch die Verstörung zeigt auch wie schwierig es ist, Überleben und Tod nicht in den Kategorien des Gewinnens und des Verlierens einzuordnen.
Elmina versucht unterwegs, sich durch die Erinnerung an ihr Leben vor Birkenau auf ihr neues altes Leben vorzubereiten. Voll Zärtlichkeit berichtet Millu von der Naivität der jungen Elmina, deren jugendliche Erlebnisse und Gefühle ihr nun, auf dem Weg nach Schwerin, wie die Geschichte einer anderen aus einer alten verlorenen Welt erscheinen. Die Distanz, die die Autorin dabei spürt, wird durch die Beschreibung der Erinnerungen in der dritten Person deutlich. Während Millu auf dem Weg nach Schwerin die Perspektive der Ich-Erzählerin einnimmt, schaut sie auf die junge Elmina aus weiter Ferne. Dabei stellt man sich unweigerlich die Frage, ob es eine Rückkehr in die alte Welt überhaupt geben kann, ja ob diese alte Welt überhaupt noch existiert. Elmina kann diese Frage auf dem Weg nach Schwerin nicht beantworten, doch zeigt die Angst, die sie ständig umgibt, dass auch sie daran zweifelt.
Natürlich gelang es ihr nicht, Auschwitz, das Erlebte und die Toten an der Brücke von Schwerin hinter sich zu lassen. Den Schlussstrich, die „Schwelle“, hat es im Leben der Überlebenden nicht gegeben. Schließlich zerbrachen viele letzten Endes und nicht zuletzt an der Erkenntnis, dass ihre alte Welt mit Auschwitz und seinen Toten unwiederbringlich zerstört worden war – so auch Primo Levi, der nach Auschwitz zu einem Freund Millus wurde. „Die Brücke von Schwerin“ ist deshalb eine klare und unmissverständliche Antwort für all jene, die heute einen Schlussstrich fordern.

Millu, Liana: Die Brücke von Birkenau. Die Frau in der Gesellschaft. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001. 187 Seiten.

 

 

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