Projekt

"Eyes open – mit anderem blick" – Ein Bericht zum transnationalen Projekt "Ahava-Liebe beyond ideology"

Dr. Jens Aspelmeier ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Universität Siegen und Studienrat für Deutsch und Geschichte am Ev. Gymnasium Siegen-Weidenau.Seine Forschungsschwerpunkte sind außerschulische Lernorte, Archivpädagogik, Geschichte/Neue Medien und Armenfürsorge in der frühen Neuzeit.

Von Jens Aspelmeier

Im Sommer 2013 starteten 28 deutsche und israelische Schülerinnen und Schüler mit ihren Lehrerinnen und Lehrern, die eigene und fremde Lebenswelt in zwei Austauschbegegnungen ihrer Schulen mit anderen Augen zu betrachten. Wer gehört dazu? Wer wird ausgegrenzt? Warum ist das so und muss das so sein? Nach zwei Begegnungen von jeweils 14 Tagen war klar, dass "Liebe" als Widerstandspotential gegen Diskriminierung unverzichtbar ist.

"… ich denke, dass ich durch die dreieinhalb Wochen, die wir gemeinsam verbracht haben, gemerkt habe, wie viele unterschiedliche Menschen die Welt doch beherbergt, und dass jeder von ihnen erst einmal eben nur dies ist – ein Mensch. So leer diese Formulierung auch klingen mag, ich denke sie beschreibt genau das, was ich aus diesem Projekt am allermeisten mitgenommen habe." (Marie, 16 Jahre)

Fundamentale Einsichten dieser Art klingen, wie die Schülerin selbst anmerkt, scheinbar banal und klischeehaft, verweisen jedoch auf die stark reflexive Kraft eines interkulturellen Austauschs. Schülerinnen und Schüler denken über vergangene und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen im alltäglichen (Geschichts-)Unterricht kaum nach. Auch Formen alltäglicher Diskriminierung prägen kaum ihren Lebensalltag. Vor allem die Selbstverständlichkeit ihres kulturell und geschichtlich bestimmten Daseins zu hinterfragen, gelingt ihnen im künstlichen Lernklima des Klassenraums kaum. Sie fragen sich nicht, wie z.B. die Bilder zu Israel in ihre Köpfe gelangen oder warum sich die Erinnerung an den Holocaust in Deutschland von der anderer Nationen unterscheidet. Ungleich einfacher gelingen ihnen derartige Überlegungen in einem erfahrungsorientierten Austausch mit Gleichaltrigen und Zeitzeugen aus anderen kulturellen Kontexten. Wie sie das Thema Diskriminierung und seine geschichtliche Dimension hautnah be- und ergreifen, es zu ihrer gemeinsamen Geschichte, einer Verflechtungsgeschichte machen, soll am Beispiel des transnationalen Projekts "Ahava-Love-Liebe beyond ideology" skizziert werden.

Projektstart auf neutralem Terrain – fremd sind wir alle

Der Start ins Projekt beginnt für die meisten Jugendlichen mit der insgesamt 14-tägigen Begegnung ihrer Partner in Israel. Mit Spannung fiebern sie dem ersten Kennenlernen entgegen, dem Abgleich der Erwartungen mit der Realität. Die sachlich-thematische Ebene der Vorbereitungsphase rückt in den Hintergrund. In dieser sensiblen Phase hilft ein neutraler, für beide Gruppen fremder Ort in zweifacher Art und Weise: Zum einen sind die deutschen Jugendlichen nicht die Fremden und die israelischen die Einheimischen (oder vice versa), die sich auskennen. Eine derartige Asymmetrie erschwert ein unbefangenes Aufeinandertreffen. Zum anderen erfahren die Jugendlichen (und auch die Begleiter) Fremdsein und Andersartigkeit im elementaren, alltäglichen Sinne. Jeder muss sich in der ungewohnten Umgebung gleichermaßen neu orientieren. Die subtile thematische Einführung, so z.B. die simple Frage, wo gibt es das Essen, bietet zahlreiche informelle und formelle Gesprächsanlässe. Zudem schweißt es die Gruppe für die gemeinsame Projektarbeit zusammen. Für unser Projekt war die Wüste der ideale Ausgangspunkt der Recherchen. Die einfache Unterkunft, das besondere Klima und das für alle ungewohnte Essen ermöglichten spannende gemeinsame Erfahrungen, die nur dort möglich sind.
So wurde für die 28 Jugendlichen und ihre Begleiter eine gute Basis für die zentrale Frage der Projektarbeit in Israel gelegt: Was befähigt Menschen zum Widerstand gegenüber gesellschaftlich akzeptierten Diskriminierungen von Menschengruppen? Bei der bewusst ressourcenorientiert und handlungsorientiert gestellten Frage war der Aspekt "Liebe" ein Knotenpunkt. An ihm wurde deutlich, dass Menschenliebe – insbesondere zum fremden Gegenüber – eine Kraft ist, die gerade in gesellschaftlichen und politischen Krisenzeiten sensibel für Ausgrenzung und Diskriminierung von Menschen macht. Sie stärkt die eigene Widerstandsfähigkeit und zeigt Handlungsalternativen. Die nach Identität suchenden Mädchen und Jungen beider Länder konnten sich jenseits aller ideologischen Fragen so mit ganz eigenen biografischen Erfahrungen einbringen.

Was befähigt Menschen zum Widerstand gegenüber gesellschaftlich akzeptierten Diskriminierungen von Menschengruppen?

Die Jugendlichen untersuchten die Frage für die Zeit des Nationalsozialismus durch Gespräche mit Zeitzeugen und gezielten Recherchen in Gedenkstätten (Yad Vashem, Beit Lohamei Hagetaot). Im Hinblick auf gegenwärtige Diskriminierungen entdeckten sie in beiden Ländern selbst, welche gesellschaftlichen Gruppen in ihrem je eigenen Kontext aktuell ausgegrenzt werden und wer sich dem entgegenstellt. Dies waren farbige Mitschüler und Flüchtlinge in Deutschland, in Israel vor allem Eltern des parents-circle, die sich gerade aufgrund des Verlustes ihrer Kinder im israelisch-palästinensischen Konflikt für Friedens- und Versöhnung zwischen beiden Seiten einsetzen. Die besondere Geschichte von Jehudit Arnon, der Holocaustüberlebenden und Gründerin der Kibbuz Dance Company, war ein weiteres eindrucksvolles Beispiel für die Kraft der Liebe.
Die (historischen) Persönlichkeiten mit ihren Möglichkeiten, ihren Handlungsräumen, Handlungsgrenzen und Brüchen im Lebenslauf gaben Orientierung und Angebote, über Lebensmodelle nachzudenken. Die Jugendlichen gelangten zur Erkenntnis, dass Menschen-/Feindes-Liebe damals wie heute nicht auf der Befolgung eines Gebots basiert, sondern auf der Einsicht in notwendige emotionale Bindungen, die Menschen brauchen, um handlungs- und widerstandsfähig zu sein. Die recherchierten Formen und Strategien der Alltags- und Konfliktbewältigung boten Anlass zum identifizierenden oder distanzierenden Vergleich. Durch den Wechsel von Perspektiven werden wichtige Voraussetzungen für die Herausbildung einer überlegten und begründbaren Identität geschaffen.

Einen Erfahrungsraum für Jugendliche gestalten

Die Jugendlichen sind kurz vor Start der Aufführung aufgeregt; die letzten zwei Tage proben sie ihr Stück; immer wieder ändern sie selbständig die Choreographie und geben den Takt vor. Der ursprüngliche Titel des Projekts "AHAVA – Liebe beyond ideology" gefällt ihnen gar nicht mehr und wird kurzerhand geändert: "eyes open – mit anderem blick" heißt nun ihr Tanztheater. Das Ziel, eine ausgewogene Balance zwischen den beabsichtigten Projektzielen und den Interessen der Jugendlichen zu erreichen, nehmen die Jugendlichen ernst. Immer wieder fordern sie das "letzte Wort" ein – "schließlich müssen wir auf der Bühne stehen" – und übernehmen bei den Recherchen die Initiative. Sie stellen Fragen an die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die man nicht erwartet hätte. Es sind kritische Fragen, aber auch Fragen abseits der Thematik. Sie zeigen aber immer ein echtes Interesse am Schicksal des Gegenübers. Für das große Team der begleitenden Lehrer, Choreographen und Dokumentarfilmer ist es immer wieder eine Herausforderung, sich diszipliniert auf ihre Rolle als Begleiter und Impulsgeber zu beschränken. Den richtigen Erfahrungsraum zu gestalten und die Jugendlichen sich darin frei bewegen lassen, war das beherrschende Thema der abendlichen Teamsitzungen.

Ein Team ist ein Team, ist ein Team*

Neben den alltäglichen Herausforderungen eine quirlige Gruppe Jugendlicher täglich für die Projektarbeit zu gewinnen, lag der Schlüssel zum Erfolg des Schulaustauschprojekts in der Bildung des internationalen Teams aus Pädagogen, Künstlern und Organisatoren. Ohne die Einsicht in und das stete Bemühen um notwendige Kompromisse bei der sachlichen und methodischen Gestaltung der Lernprozesse, wäre der oben skizzierte Erfahrungsraum nicht entstanden. Die jeweiligen professionellen Persönlichkeiten mit einer zufriedenstellenden Aufgabe zu betrauen, andere auch mal gewähren zu lassen, war für das Team neben der Projektarbeit eine bereichernde Erfahrung und stete Herausforderung. Dass die Kolleginnen und Kollegen jeweils Gast im Hause des anderen waren, half schnell die notwendige persönliche Ebene herzustellen.

Authentizität der Diskriminierungserfahrungen – biografische Zugänge

Begegnen die Jugendlichen Menschen und deren Andersartigkeit von Lebensumständen und Lebensentwürfen, bewirkt die emphatische Annäherung an die Persönlichkeit des Gegenüber den schwierigen Perspektivwechsel. Das "Sich-Hineinversetzen", das Leben aus-den-Augen-des-anderen zu betrachten, bedarf dieser emotionalen Hilfe, rein kognitive Versuchen sich über Sachtexte, Statistiken oder auch Lebensberichte dem Thema Diskriminierung zu nähern, bleiben oft nur in der Unterrichtsituation. Erst die Auseinandersetzung mit dem lebendigen, vor allem in den Augen der Jugendlichen authentischen Subjekt öffnet den Weg für weitere Schritte einer sachlich-kognitiven Arbeit. Dabei gilt es, den Gefahren einer Überidentifikation mit Zeitzeuginnen oder Zeitzeugen und einer Generalisierung der Schicksale methodisch zu begegnen.

Tanzen statt reden

"Was machen wir hier eigentlich?" – die skeptischen Blicke der Jugendlichen bei den ersten Körperübungen waren schnell überwunden, als sie die ersten Berührungen und gemeinsamen Tanzsequenzen entwickelt hatten. Sie erleben, sich ohne Worte, nur in der Bewegung abzustimmen und auszudrücken. Dass auch die Rechercheergebnisse "tanzbar" sind, bedarf danach kaum noch weiterer Erklärungen. Die sprachliche Hürde eines Projekts mit deutschen und israelischen Jugendlichen steht von Anfang an im Zentrum unserer Überlegungen zur Umsetzung. Der vielversprechende "kulturelle Dialog" braucht eine Ausdrucksform abseits sprachlicher Ebenen. Einerseits sprechen nicht Kulturen, sondern allenfalls Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten; andererseits fehlt bei der gemeinsamen Drittsprache meist die Kompetenz, Sachthemen differenziert zu diskutieren. Auch ein aufführbares Produkt für die Öffentlichkeit darf nicht allein auf Sprache bestehen. Die Entscheidung für (modernen) Tanz bot nach einhelliger Meinung der Projektpartner die gesuchte nichtsprachliche Form des Austauschs und der Reflexion. Mit den Choreographen wurden Profis beteiligt, die über die notwendige Fähigkeiten und Erfahrungen verfügten. Dank ihrer Hilfe brachten die Jugendlichen ihre Ergebnisse in Form von einem Tanztheater vor öffentlichem Publikum auf die Bühne: die erste Aufführung zum vorläufigen Stand in Israel, die zweite erweiterte Version nach der Arbeit in Deutschland. Begeistert waren die Jugendlichen von der Idee, mit unserem Filmexperten sowohl die Aufführungen als auch die alltägliche Projektarbeit in einer filmischen Collage festzuhalten, um es immer wieder in benachbarten Schulen zeigen zu können. Weitere Mitschülerinnen und Mitschüler sowie andere Jugendliche von der Kraft der (Menschen-)Liebe, vom anderen Blick zu überzeugen, bildet die aktuelle nachhaltige Projektarbeit. Sie ist immer wieder Anlass, Stolz das Geschaffene zu präsentieren, in Erinnerungen an gemeinsamen Erfahrungen zu schwelgen und als deutsch-israelische Gruppe in Kontakt zu bleiben.

* Anmerkung: Folgende Personen sind abseits der angegebenen Arbeitsschwerpunkte gemeinsam verantwortlich für die Entwicklung, die Durchführung und das Gelingen des Projektes: Dr. Jens Aspelmeier; Dr. Astrid Greve, Oberstudienrätin (Deutsch/ Ev. Religion) am Ev. Gymnasium Siegen-Weidenau, Forschungsschwerpunkt: Erinnerungsarbeit; Torsten Heupel, Studienrat (Erdkunde/ Sport) am Ev. Gymnasium Siegen-Weidenau; Michelle Mitz und Enad Tachnai von der Ramot Hefer High-School, Maabarot. Choreographen: Sharon Assa, Israel und Ulrike Flämig, Berlin. Film: Felipe Frozza, Berlin.

Einführend mit weiteren Literaturhinweisen

Astrid Greve: Zachor – Erinnern lernen. Aktuelle Entdeckungen in der jüdischen Kultur des Erinnerns. Berlin 2013.
Günter J. Friesenhahn (Hrsg.): Praxishandbuch Internationale Jugendarbeit. Lern- und Handlungsfelder, rechtliche Grundlagen, Geschichte, Praxisbeispiele und Checklisten, 3. Aufl., Schwalbach/Ts. 2007.
Vadim Oswalt/ Jens Aspelmeier/ Suzelle Boguth: Ich dachte, jetzt brennt gleich die Luft. Transnationale historische Projektarbeit zwischen interkultureller Begegnung und Web 2.0. Wochenschau-Verlag, Schwalbach i.T. 2014 (=Forum Historisches Lernen).

 

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