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Antidiskriminierungsarbeit als Querschnittsaufgabe der internationalen Jugendarbeit

Anne Sophie Winkelmann ist interkulturelle Diplompädagogin, Anti-Bias-Multiplikatorin und freiberufliche Referentin in der Jugend- und Erwachsenenbildung. Ihre aktuellen Schwerpunkte sind Antidiskriminierungsarbeit, eine diversitätsbewusste internationale Jugendarbeit und Diskriminierung gegen jüngere Menschen, meistens von Erwachsenen gegenüber Jugendlichen und Kindern, Adultismus genannt.  

Von Anne Sophie Winkelmann

In internationalen Jugendbegegnungen treffen sich junge Menschen, die in unterschiedlichen Ländern aufgewachsen sind. Sie haben Lust, andere Jugendliche kennenzulernen, gemeinsam eine schöne Zeit zu verbringen und über Dinge nachzudenken, die mit ihnen und der Welt zu tun haben.
Eine internationale Jugendbegegnung ist eine besondere Möglichkeit zu erfahren, dass manche Dinge, die die Jugendlichen in ihrem Alltag als normal erleben (z.B. wie in der eigenen Familie miteinander umgegangen wird oder wie Beziehungen gelebt werden), für andere Menschen ganz anders sein können.
Oft wird davon ausgegangen, dass Jugendliche in internationalen Jugendbegegnungen vor allem etwas über unterschiedliche Lebensweisen in verschiedenen Ländern lernen sollten, um besser miteinander und in der Welt zurechtzukommen. Im Vordergrund steht dann – oft auch unbeabsichtigt und unbemerkt – die Feststellung (national-)kultureller Differenz. Das ist aus einer diversitätsbewussten Perspektive zu einfach und durchaus problematisch.

Diversitätsbewusst heißt Anerkennung von vielfältigen Zugehörigkeiten

Aus einer diversitätsbewussten Perspektive geht es vielmehr darum, dass Jugendliche in der internationalen Begegnung lernen, dass nicht alle Menschen in einem Land gleich sind. Und dass Menschen nicht nur dadurch beeinflusst sind, was innerhalb ihrer Gesellschaft als 'normal' verstanden wird, sondern zum Beispiel auch dadurch, was von ihnen als Frau oder Mann erwartet wird, was es für eine Person bedeutet, aus einer armen Familie zu kommen, oder in einem ganz kleinen Dorf zu wohnen. Diversität heißt auf dieser Ebene Vielfältigkeit: Jede Person ist vielfältig, einzigartig.
Eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit möchte junge Menschen darin unterstützen, mit Unterschiedlichkeit und Komplexität umzugehen. Das heißt auch, möglicherweise aufkommende eigene Verunsicherungen zu spüren und aushalten zu können, den Mechanismen dahinter auf die Spur zu kommen, über unterschiedliche Vorstellungen und Verständnisse sprechen zu können und Einigungen zu finden.

Diversitätsbewusst heißt Antidiskriminierung

Eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit unterstützt Jugendliche darin, zu verstehen, dass es gefährlich ist, wenn Menschen in eine Schublade gesteckt werden (wie z.B. alle aus einem Land oder auch alle Frauen oder alle reichen Menschen) und deswegen bewertet und auf eine bestimmte Weise behandelt werden. Sie hinterfragt ’normal’ und ’anders’ und eröffnet Räume, in denen das Thema Diskriminierung entlang eigener Erfahrungen und Themen der Jugendlichen reflektiert werden kann.
Eine diversitätsbewusste Bildungsarbeit lädt dazu ein, sich auf eine Forschungsreise zu begeben, die Funktionsweisen von Vorurteilen und Diskriminierung zu erkunden und die eigene Verstrickung darin anzuerkennen. Sie ermutigt uns, darüber nachdenken, wie wir von Schubladendenken profitieren, während andere Menschen davon eingeschränkt und verletzt werden. Sie lässt uns entdecken, wie leicht es funktioniert, sich auf die richtige und gute Seite zu stellen, indem ’Andere’ abgewertet werden und wie selbstverständlich Ungerechtigkeiten gerechtfertigt und damit als solche unsichtbar gemacht werden. Dabei geraten auch die Machtverhältnisse und Privilegien durch je unterschiedliche Positionierungen in den Blick. Sie ermutigt auch, die ’strukturelle Brille’ anzuziehen und Gesetze und (mediale) Diskurse diskriminierungskritisch zu betrachten. Sie bleibt aber nicht bei der Reflexion stehen, sondern schafft einen Raum, in dem gemeinsam überlegt werden kann, was im je eigenen Alltag, wie auch übergreifend, gegen Diskriminierung und für mehr Chancengerechtigkeit und ’Freiheit’ getan werden kann. Diversitätsbewusst heißt in dem Fall kritische Selbstreflexion und ein Einschreiten gegen jede Form von Diskriminierung.

Antidiskriminierung als Querschnittsaufgabe

Das hier skizzierte Grundverständnis diversitätsbewusster Bildung hat den Fachdiskurs und die Praxis der internationalen Jugendarbeit in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verändert. Durch eine beständige kritische Reflexion von Aspekten eines ’klassischen’ interkulturellen Lernens wurde die Aufmerksamkeit für die Chancen, aber auch die Fallstricke internationaler Jugendarbeit gestärkt. Antidiskriminierung ist mehr und mehr zu einer Querschnittsaufgabe des Arbeitsfelds geworden.
Der diversitätsbewussten Bildungsarbeit liegt dabei ein weites, mehrdimensionales Verständnis von Diskriminierung zugrunde, welches sich auf eine Vielzahl von Differenzlinien (wie etwa Körperlichkeit, Geschlecht, Kleidung, soziale oder nationale Herkunft oder Alter ...) bezieht und immer auch nach den Verstrickungen untereinander und deren gleichzeitiger Wirkmächtigkeit fragt. Fachtheoretisch wird dieses Verständnis unter dem Begriff Intersektionalität diskutiert (vgl. in Bezug auf das Thema Leiprecht 2008). Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die verschiedenen Formen von Diskriminierung zwar in ihrer Wirkmächtigkeit und gesellschaftlichen und historischen Dimension unterscheiden, aber auch ähnliche Mechanismen und Funktionsweisen zu entdecken sind. Entsprechend kann in der Jugendbegegnung jedes konkrete Beispiel eine ’Tür’ sein, die den Einstieg in die Funktionen von Diskriminierung im Allgemeinen und eine gemeinsame, solidarische Erkundung und ’Entrüstung’ ermöglicht. Dabei werden nicht nur zwischenmenschliche Dimensionen betrachtet, sondern auch institutionelle und strukturelle Diskriminierungen in den Blick genommen.

Eine diversitätsbewusste Grundhaltung

Eine besondere Herausforderung für die Begleitpersonen diversitätsbewusster Lernprozesse ist, die Zusammenhänge zwischen den konkreten Erfahrungen und Reflexionen in der Gruppe, den gesellschaftlich-strukturellen (Ungleichheits-)Verhältnissen und dem alltäglichen Erleben und Handeln der jungen Menschen immer wieder herzustellen. Dabei ist eine wohlwollende, anerkennende Grundhaltung unerlässlich, die eine Reflexion fernab von ’richtig’ und ’falsch’ ermöglicht und auf eindimensionale Vorstellungen von ’Opfer’ und ’Täter’ verzichtet.
Tatsächlich ist eine gelungene Begleitung diversitätsbewusster Lernprozesse vor allem eine Frage der Haltung, die sich seitens der Lernbegleitenden in einem Prozess von kritischer Auseinandersetzung mit Schubladen, Machtverhältnissen und Diskriminierung sowie der entsprechenden Selbstreflexion immer weiter entwickelt.

Dazu ist es hilfreich, die eigene Praxis und Rolle immer wieder zu hinterfragen.
Im besten Fall mit Freude auf einer Entdeckungsreise – und im Wissen um die gute Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die mit ihren Fragen und ihrem Handeln genauso auf eine Veränderung der Verhältnisse zielen.
– Kann ich eigene ’Schubladen’ und Norm(alitäts)vorstellungen erkennen und reflektieren?
– Ist es mir möglich, mich mit meinen eigenen Lernprozessen und Unsicherheiten zu zeigen?
– Wo tragen meine wohlgemeinten Erklärungen oder ein Nicht-Reagieren vielleicht manchmal zu einer Bestätigung eindimensionaler oder diskriminierender Perspektiven bei?
– Kann ich spüren, wann ein Nachfragen zu einer vertieften und spannenden Auseinandersetzung führt? Habe ich ein Gefühl dafür, wann die Themen der Gruppe berührt werden?

In Bezug auf die Konzepte und deren praktische Umsetzung lässt sich zum Beispiel fragen:
– Gelingt es, Verallgemeinerungen und 'Festschreibungen' zu vermeiden?
– Werden die Gefahr der Kulturalisierung und die (Re-)Produktion von kulturellen Differenzen explizit problematisiert?
– Geraten Rassismus und andere Formen von Diskriminierung in den Blick?
– Wird ein Raum eröffnet für die Erfahrungen der Teilnehmenden mit Schubladen und Diskriminierung?
– Werden die Einzelnen mit ihren vielfältigen subjektiven Zugehörigkeiten sichtbar?
– Werden gesellschaftliche und strukturelle Ungleichheitsverhältnisse aufgespürt und hinterfragt?
– Wird ein konstruktiver Umgang mit Verunsicherungen und Komplexität gestärkt?

Mehr Fragen und ausführlichere Erläuterungen zu den theoretischen Hintergründen und den vielzähligen Aspekten einer diversitätsbewussten Haltung sowie eine Reihe von Methoden für die Bildungsarbeit finden sich in der soeben erschienenen Praxishandreichung "more than culture. Diversitätsbewusste Bildung in der internationalen Jugendarbeit", die in Kürze auch englischsprachig vorliegen wird (vgl. auch die Besprechung in dieser Ausgabe, von Anne Lepper)

 

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