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Hype oder Herausforderung? Digitale Medien, Geschichtsunterricht und dessen Didaktik – ein Zwischenruf anno 2014

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Thomas Spahn ist Lehrer für Geschichte, Englisch, PGW und Audiovisuelle Medien am Gymnasium Lerchenfeld in Hamburg. Er ist dort mit der Fachleitung für die Fächer Geschichte und PGW sowie der Mediendidaktik betraut. Er ist Mitglied der Jury beim Förderprogramm „Europeans for Peace“ der Stiftung EVZ und in der Lehrerfortbildung tätig, u.a. für das Goethe-Institut.

Von Thomas Spahn

Vor genau fünf Jahren warf ich in diesem Magazin, zu jener Zeit in verantwortlicher Position für den Verein „Lernen aus der Geschichte“ tätig, einen Blick auf den Einsatz digitaler Medien im Geschichtsunterricht. Darin stellte ich einer überschaubaren Zahl von Überlegungen und Unterrichtsvorschlägen aus der Praxis die bislang unzureichende Auseinandersetzung der fachdidaktischen Disziplin mit diesem Thema gegenüber. Ich leitete die Forderung ab, fachspezifische Konzepte für den Geschichtsunterricht im digitalen Wandel zu entwickeln und diese kritisch zu begleiten.

Wie fällt nun eine Zwischenbilanz Ende 2014 aus? Haben interaktive Whiteboards den Geschichtsunterricht  zu revolutionieren begonnen, oder schicken sie sich an, zu den Sprachlaboren der nahen Zukunft zu werden? Wie sieht es mit historischen WebQuests aus, einem vergleichsweise frühen didaktischen Konzept zum Interneteinsatz im Geschichtsunterricht? Und was hat die zuständige universitäre Disziplin, die Geschichtsdidaktik, dazu zu sagen? Dazu im Folgenden einige Überlegungen, pragmatisch, von der Ebene des Geschichtsunterrichts und der Lehrer/innenfortbildung ausgehend und ganz sicher unvollständig:

1. Der übergeordnete Kontext: Schulbildung im digitalen Wandel

Die Ausgangslage für die Nutzung digitaler Medien an deutschen Schulen scheint, dies belegen Studien der letzten Jahre, beinahe unverändert. Die Ausstattung der Schulen mit internetfähigen Endgeräten ist im Durchschnitt zumindest akzeptabel, die Einstellung der Lehrpersonen zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht grundsätzlich positiv. Und dennoch nutzen diese PC und das Internet im internationalen Maßstab vergleichsweise wenig in ihrem Unterricht.

Wie wenig, dies verdeutlichte die Mitte November veröffentlichte Studie ICILS 2013: Deutschland landete auf dem letzten Platz, mehr als ein Drittel des Lehrkörpers nutzt Computer nie oder weniger als ein Mal im Monat. Nicht viel besser bestellt ist es um die erhobenen Fertigkeiten der untersuchten Lernenden. Die Ursachen sind vielfältig.

Ob diese Ergebnisse die ministeriellen Bestrebungen, das Lernen mit, über und in digitalen Medien in deutschen Schulen zu fördern, verstärken mögen, bleibt abzuwarten. Mindestens aber stoßen sie auf ein Umfeld, das die Relevanz systematischer Medienbildung zu erkennen scheint und das auf die rasante technische Entwicklung mit zunehmender Offenheit reagiert. Dies zeigen etwa die Ergebnisse erster Pilotprojekte mit den mobilen digitalen Endgeräten der Lernenden (Bring Your Own Device) oder der „Medienpass“ in NRW und Hamburg.

Der Beschluss der KMK (2012) zur Medienbildung – informierte Wissenschaftler/innen, Lehrer/innen oder Didaktiker/innen in Sachen Geschichte mögen sich kurz schütteln angesichts des kontroversen Entwurfs (2014) zu Handlungsempfehlungen in Sachen Erinnerungskultur – erkennt u.a. die verbindliche Verankerung von Medienbildung in Unterrichtsfächern und querliegenden Aufgabengebieten als notwendigen Schritt. Diesen Schritt kann gerade das Fach Geschichte, in dem Medien per se eine konstitutive Rolle spielen, für sich als Chance begreifen. Dies scheint mir keine abwegige Strategie zu sein angesichts verdichteter Lern- und Unterrichtszeit, zunehmender Fächerkonkurrenz und der landesweiten Tendenz, das historische Lernen an weiterführenden Schulen in gesellschaftlichen Aufgaben- oder Neigungsbereichen zu versenken. 

2. Potenziale überschätzt? Von WebQuests über Wikis zu Whiteboards

Der Erfolg der Hattieschen Metastudie und der empirical turn können nicht über die Schwierigkeit hinwegtäuschen, sich über das alltägliche Tun in Schulen zu informieren oder dieses zu messen. Dennoch scheint es mir eine konsensfähige Feststellung zu sein, dass etwa WebQuests bisher nicht in dem Maße im Geschichtsunterricht zum Einsatz kommen, wie deren beschriebene Potenziale (Spahn 2008; Spahn 2011) es nahelegen.

Im World Wide Web ist durchaus eine signifikante Anzahl von deutschsprachigen Anwendungsbeispielen zu finden. Didaktisch zu überzeugen vermögen dabei jedoch eher wenige. Empirische Studien für das Fach Geschichte dazu: Fehlanzeige. Was bleibt, sind die postulierten Potenziale und die (von mir angenommene) eher randständige Bedeutung im Alltag des Geschichtsunterrichts. Noch weniger verbreitet scheint mir die Nutzung von Wikis und Weblogs zu sein.

Liegt dies ‚nur’ am (anfänglich) vergleichsweise hohen Aufwand gegenüber anderen Unterrichtsmedien wie dem Schulgeschichtsbuch? Der Wirkungsmacht tradierter Unterrichtssettings wie dem problemorientierten Unterrichtsgespräch? Oder werden nicht doch die Möglichkeiten auf der inhaltlichen Ebene, der didaktische Mehrwert dieser digital angereicherten Szenarien überschätzt?

Eindeutige Antworten auf diese Fragen habe ich natürlich nicht. Tatsächlich scheint es mir weiterhin didaktisch stimmig anzunehmen, dass die Arbeit an einem eigenen Geschichtswiki oder eine sachgerechte Auseinandersetzung mit Geschichtsartikeln in der Wikipedia die Bewusstheit der Lernenden für den Konstruktcharakter von Geschichte schärfen können. Dafür gibt es Hinweise (vgl. Hodel 2013; Bernsen 2012).

Auch halte ich es für plausibel, dass interaktive Whiteboards oder vergleichbare fest installierte Beamer-Endgerät-Settings im Klassenraum als Katalysator für geschichtskulturelle Zugänge im Unterricht wirken können. Denn sie integrieren eine Vielzahl von Unterrichtsmedien und können den Geschichtsunterricht um die vielschichtigen Erscheinungsformen von Geschichte im WWW erweitern. Etwa: Quellen wie Darstellungen in Form von Videoclips, digitalisierte Zeitzeugengespräche, Twitter-Konten zu historischen Personen und Ereignissen oder Wikipedia-Artikel inklusive deren Diskussionsseiten. Dies rechtfertigt jedoch weder einen Hype um interaktive Whiteboards noch eine Ablehnung aufgrund des Verdachts, einen Frontalunterricht 2.0 zu befördern. (Bernsen 2013)

Festzuhalten bleibt aus meiner Sicht: Vorstellungen von möglichen Potenzialen für das historische Lernen existieren zuhauf, auch mit differenziertem Blick auf zentrale fachdidaktische Prinzipien oder, zeitgeistiger, den Erwerb historischer Kompetenzen. Auch liegen konkrete Unterrichtskonzepte vor. 

Desiderat bleibt vielfach das empirische Wissen nicht nur über das tatsächlich zu beobachtende historische Lernen, sondern, weniger hochgegriffen, auch über die Wirkung und Relevanz dieser Ansätze und Konzepte in der Breite des Schulalltags. Hier sind, so überschaubar deren Zahl und so anspruchsüberladen sie seien mögen (Barricelli, 2013), die Vertreter der zuständigen fachdidaktischen Disziplin gefragt. Und da ist Positives zu beobachten: 

Relevanz erkannt: Der Diskurs in der Geschichtsdidaktik

Das Lernen mit digitalen Medien hat sich von einem eher randständigen Thema der Geschichtsdidaktik zu einem relevanten Diskurs innerhalb der Disziplin entwickelt. Dies belegen u. a. nunmehr fünf Tagungen (Flensburg 2007, Heidelberg 2009, München 2013, Salzburg 2013, Köln 2014).

An mehreren Universitäten setzten sich Studierende in Seminaren und Colloquia mit der zuspitzenden These einer „digitalen Geschichtsdidaktik“ und allgemein den Bedingungen des Geschichtsunterrichts im digitalen Wandel kritisch auseinander. Einige Hochschulen haben einen entsprechenden Forschungsschwerpunkt eingerichtet oder sind, wie die Universität Leipzig, im Begriff, dies zu tun (vgl. HISTOdigitaLE). Auch die Zahl der Publikationen, online und offline, nimmt zu. 2009 respektive 2014 erschienen neue Ausgaben der führenden Praxiszeitschriften „Praxis Geschichte und Geschichte lernen“ zum Thema. In dem aktuellen Band der ZfGD nimmt das Thema gar die Hälfte des Forums ein:

Christopher Friedburg zeichnet unter Mitarbeit von Markus Bernhardt den Diskurs über den „digitalen Wandel in der Geschichtsdidaktik“ nach. Dabei wird eine Dichotomie konstruiert zwischen „digital“ und „analog“, zwischen „Altem“ und „Neuem“, die m. E. weder den Diskurs noch die „fachdidaktisch relevant[e] Position“ zutreffend zu fassen vermag, die den „‘digital affinen‘ Praktiker[n]“ zugeschrieben wird (Friedburg 2014). Unter anderem mittels arg selektiv ausgewählter Zitate aus deren „Grundlagen-Text“ sowie augenscheinlichen Ignorierens einschlägiger Texte zum Thema entsteht ein verzerrtes Bild dieser Position. Die vorgeschlagene „programmatische Synthese des ‚Neuen‘ und ‚Alten‘ anhand des Beispiels Social Media“ wirkt mitunter für die Rezipienten der ZfGD originärer, als sie in Kenntnis der Publikationen zum Themenfeld streckenweise bewertet werden kann (Vgl. Bernsen/Spahn 2015).

Der thematische Diskurs und die jüngst facettenreich beschriebene Annäherung der Diskurse (vgl. Demantowsky 2014; Kühberger 2014) und des Wissens diesseits und jenseits der disziplinären Geschichtsdidaktik sind bereits weiter. Dies zeigte sich in Teilen inhaltlich auf der Tagung #gld13 in München ebenso wie etwa an der konstruktiven Kritik an Medienbegriff und Modellbildung von Daniel Bernsen, Alexander König und mir in dem provokanten Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik (Bernsen et al 2012; Lisa 2013). Die für Ende 2015 in Basel geplante Tagung #gld15 hat das Potenzial, im Zusammenspiel von Theoretiker/innen und Praktiker/innen die Praxis der Wikipedia-Nutzung im Geschichtsunterricht offenzulegen und einen Beitrag zur Entwicklung alltagstauglicher Bildungsmaterialien zum Thema zu leisten.

Es stellt also weiterhin eine Herausforderung dar, das historische Lernen und den Geschichtsunterricht im rasanten digitalen Wandel zu reflektieren und mitunter sogar auch streckenweise „anders [zu] denken“ (vgl. HISTOdigitaLE ). Im konstruktiven Miteinander auf Augenhöhe aller qua Berufsbeschreibung ‚Profis’ in Sachen Geschichtsunterricht gelingt diese eher. Noch eher vielleicht, wenn der notwendige Fokus auf eine fachdidaktische Perspektive nicht einhergeht mit dem Ausschluss anderer relevanter Perspektiven und Disziplinen, realer oder virtueller Publikationslokalitäten. Mit so geweitetem Blick haben dann auch exzellente Veranstaltungen wie z.B. die Tagung „httpasts://digitalmemoryonthenet“ (Berlin 2011, ausführlich audiovisuell dokumentiert) eine Chance, angemessenen Eingang in den Diskurs und den Wissensfundus der Disziplin zu finden – obwohl dort, zugegeben, so manche/r von Erinnerungskultur statt Geschichtskultursprach.

Literatur

Barricelli, Michele: Worüber sprechen wir eigentlich?, in: Public History Weekly 1. 2013. 11.

Bernsen, Daniel: Unterrichtsentwurf: Wikipedia im Geschichtsunterricht. 2012 .

Vgl. Bernsen, Daniel/ König, Alexander/ Spahn, Thomas: Medien und historisches Lernen: Eine  Verhältnisbestimmung und ein Plädoyer für eine digitale Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für digitale Geschichtswissenschaften 1. 2012. H. 1, 1-27.

Bernsen, Daniel: Acht Thesen zum Arbeiten mit interaktiven Whiteboards im Geschichtsunterricht, in: geschichte für heute 6/2013, 1, 36-45; Spahn, Thomas, Interaktive Whiteboards. Geschichtsunterricht der Zukunft oder Frontalunterricht 2.0? In: Geschichte lernen 159/160. 2014. S. 14-19.

Bernsen, Daniel/Spahn, Thomas, Historisches Lernen in Digitalien - über Hypes, Herausforderungen und einen konstruierten Gegensatz. Eine Replik auf die versuchte Synthese von "Altem" und "Neuem" durch Friedburg/Bernhardt (in Vorbereitung).

Demantowsky, Marko: Die Geschichtsdidaktik und die digitale Welt. Eine Perspektive auf spezifische Chancen und Probleme, in: Ders./ Pallaske, Christoph (Hg.): Geschichte lernen im digitalen Wandel. München. 2014.  S. 149-161.

Friedburg, Christopher, unter Mitarbeit von Markus Bernhardt: „Digital“ vs. „Analog“? Eine Kritik an Grundbegriffen in der Diskussion um den „digitalen Wandel“ in der Geschichtsdidaktik und ein Versuch der Synthese von „Altem und „Neuem“, in: ZfGD 13 (2014), 117-133. Die wörtlichen Zitate hier und im Folgenden sind auf den S. 118, 117, 120, 123 zu finden.

HISTOdigitaLE: Geschichtslernen anders denken.

Hodel, Jan: Verkürzen und Verknüpfen, Bern. 2013.

Kühberger, Christoph: Geschichte lernen digital? Ein Kommentar zu mehrfach gebrochenen Diskursen der Geschichtsdidaktik, in: Ders./ Pallaske, Christoph (Hg.), Geschichte lernen im digitalen Wandel. München. 2014. S.163-168. 

Rosa, Lisa: Was ist das *dings* und was bedeutet es für die Geschichtsdidaktik? 2013.

Spahn, Thomas: Historische Kompetenzen und das Internet, in: Magenheim, Johannes/ Meister, Dorothee M./ Albers, Carsten (Hg.): Schule in der digitalen Welt. Medienpädagogische Ansätze und Schulforschungsperspektiven. Wiesbaden. 2011. S. 163-188.

Spahn, Thomas: WebQuests, in: Ehmann, Annegret/ Geißler, Christian/ Spahn, Thomas (Hg.): Geschichte begreifen. Projektarbeit zum Nationalsozialismus, Online-Dossier BpB. Bonn. 2008.

 

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