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Metamorphosen des modernen Rassismus

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Prof. Dr. Christian Koller ist Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich und seit Mai 2014 Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs. Zudem ist er Autor des Bandes Rassismus in der Reihe UTB Profile und Mitherausgeber des Bandes Racisms Made in Germany im Jahrbuch Racism Analysis.

Von Christian Koller

Was Rassismus ist und seit wann es ihn gibt, ist umstritten. Die einen sehen als Kern des Rassismus den biologistischen Glauben an die Existenz ungleichwertiger menschlicher 'Rassen' und betrachten Rassismus als ein auf die Moderne beschränktes Phänomen. Andere betonen dagegen die Funktionsweisen des Rassismus, die theoretisch begründete und praktisch umgesetzte Herstellung von Zugehörigkeit und Ausschluss. Sie weisen darauf hin, dass solche Mechanismen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch finden lassen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist die zweite Definitionsweise insbesondere für das Verständnis der Entwicklung des Rassismus nach 1945 wichtig. 

Die Konstruktion von Rassen

Die Vorstellung von menschlichen 'Rassen' ist im Wesentlichen ein Kind des 18. Jahrhunderts. Der dem Zeitalter der Aufklärung eigene Drang, das Wissen über die Welt zu klassifizieren, ließ Denker wie Carl von Linné, Immanuel Kant, Johann Friedrich Blumenbach und Christoph Meiners Einteilungen der Menschheit in zunächst vier bis fünf farblich bezeichnete 'Rassen' vornehmen. Diesen wurden rasch nebst den physischen auch intellektuelle, moralische und ästhetische Merkmale zugeschrieben. Daraus ergaben sich 'rassische' Hierarchien.

Im 19. und frühen 20. Jahrhundert eskalierte die Suche nach 'Rassen': Mit Mitteln wie Schädelvermessungen oder statistischer Erfassung von Haar- und Augenfarben konstruierten die Anthropologen immer neue 'Rassen'. Zugleich ging das Rassenkonzept auch ins geschichtsphilosophische Denken ein: Autoren wie Joseph Arthur Comte de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain glaubten, die Menschheitsgeschichte durch Gegensätze zwischen ‚Rassen’ erklären zu können. Eine prominente Rolle spielten dabei bald die ‚Arier’, eine ‚Rasse’, die einer interdisziplinären Zusammenfügung von anthropologischen und sprachwissenschaftlichen Irrtümern entsprungen war.

Zahlreiche ältere, ursprünglich häufig religiös begründete Vorurteile wurden nun rassentheoretisch gewendet. Die traditionelle Judenfeindschaft wurde so zum modernen Antisemitismus, der bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zum politischen Programm verschiedener Parteien und Organisationen etwa in Deutschland, Frankreich und Österreich wurde. Die Verachtung nichteuropäischer Menschen, insbesondere gegenüber  Afrikanerinnen und Afrikanern, die sich bereits in der frühneuzeitlichen Sklaverei manifestiert hatte, entwickelte sich zum Kolonialrassismus. Dieser spielte als Rechtfertigung der imperialistischen Expansion europäischer Mächte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Rolle. Die Diskriminierung von Sinti, Roma und anderen Fahrenden transformierte sich zum Rassen-Antiziganismus. Und insbesondere in Deutschland verdichteten sich Vorurteile gegen die Menschen in Osteuropa zu einem angeblichen Gegensatz zwischen ‚germanischer’ und ‚slawischer Rasse’.

Immer stärkere näherte sich der Rassismus während des 19. Jahrhunderts einer anderen Ideologie an, die ebenfalls einen gewaltigen Aufschwung erlebte: dem Nationalismus. Hinzu kam in Gestalt des so genannten Sozialdarwinismus, der Darwins Theorien über die natürliche Selektion von der Naturgeschichte auf die menschliche Gesellschaft übertrug, die Vorstellung vom notwendigen Kampf der ‚Völker’ und ‚Rassen’ ums Überleben. Dieses Konglomerat vermeintlich wissenschaftlicher Ideen untermauerte schon bald Machtpolitiken auf allen Ebenen und führte zu den Gewalteskalationen, die insbesondere die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten. 

Gewalteskalationen

Die Palette von Gewaltpraktiken, die später unter dem Begriff der „ethnischen Säuberung“ in Zusammenhang gebracht wurden, reichte von Vertreibungen bis hin zum Genozid. Brennpunkte solcher Praktiken fanden sich in der außereuropäischen Welt überall dort, wo europäische Kolonisatoren nach der Macht griffen oder diese zu behaupten versuchten, in Europa zunächst insbesondere im südosteuropäischen Raum. Besonders zu nennen sind die Verdrängung und teilweise Ausrottung der indigenen Bevölkerungen in den Siedlerkolonien Nordamerikas und Australiens sowie die sich gegenseitig beeinflussenden Deportationen bei der Bekämpfung von Aufständen um 1900 auf Kuba, in Südafrika, auf den Philippinen und in Deutsch-Südwestafrika. Dabei fanden bereits auch Konzentrations- und Zwangsarbeitslager Verwendung. In Südosteuropa waren die nationalen Befreiungsbewegungen des 19. Jahrhunderts sowie die beiden Balkankriege 1912/13 stets von umfangreichen Vertreibungen nunmehr als ‚fremd’ betrachteter Menschen begleitet.

Der Erste Weltkrieg brachte dann in verschiedenen Regionen eine weitere Eskalation, die im Fall der Verfolgung der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich bekanntlich bis zum Genozid reichte. Der Zweite Weltkrieg übertraf aber auch diese Gewaltorgien noch bei weitem, wobei der millionenfache Mord an der jüdischen Bevölkerung, aber etwa auch die deutschen Gewaltpolitiken gegen Sinti und Roma und die Bevölkerungen Polens, Südosteuropas und der Sowjetunion Ausdruck des Umstandes waren, dass der Nationalsozialismus praktisch alle Spielarten des Rassismus – etwa den Ariermythos, Antisemitismus, Antislawismus und Antiziganismus – übernommen und radikalisiert hatte. 

Rassismus ohne Rassen

Die Erfahrung der nationalsozialistischen Verbrechen diskreditierte den biologistischen Rassismus nachhaltig und zwar als wissenschaftliches Konzept wie auch als politische Ideologie. Die einsetzende Dekolonisation versetzte ‚weißen’ Überlegenheitsvorstellungen einen weiteren Schlag. Systeme der institutionalisierten ‚Rassen’-Trennung, die in der kolonialen Zeit als völlig ‚normal’ gegolten hatten, gerieten nun in Südafrika, Rhodesien und den amerikanischen Südstaaten immer stärker unter Beschuss. Offen vorgetragene Vorstellungen von einer angeblichen Ungleichheit menschlicher ‚Rassen’ beschränkten sich weitgehend noch auf rechtsextreme Zirkel, die sich auch immer wieder entsprechend motivierter Gewalttaten schuldig machten und machen.

Daneben wurden ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aber in verschiedenen Industriestaaten fremdenfeindlichen Strömungen manifest, die einen durch Einwanderung bewirkten Verlust der nationalen Identität und die Verschärfung der arbeitsmarktlichen Konkurrenz für einheimische Lohnabhängige befürchteten. Die auch in gewissen Boulevardmedien geschürten Überfremdungsängste förderten nicht nur fremdenfeindliche Verhaltensmuster im Alltag und eine Ethnisierung von Differenz- und Konfliktwahrnehmungen. Sie beeinflussten auch gesellschaftspolitische Debatten, indem etwa Probleme sozialer Ungleichheit im Kontext des angeblichen Gegensatzpaares ‚eigen’-‚fremd’ diskutiert werden. In verschiedenen Industriestaaten entstanden seit den 1960er Jahren Anti-Einwanderungsbewegungen, die zumeist nicht offen rassistisch argumentieren, deren Grenzen zum Rechtsextremismus indessen fließend sind und die an den Urnen immer wieder spektakuläre Erfolge feiern. Dies beeinflusst auch die konkurrierenden politischen Kräfte. Trotz offizieller Distanzierung von Fremdenfeindlichkeit oder gar Rassismus fließen in Bereichen wie der Einwanderungs- und Asylpolitik zunehmend Punkte, die ursprünglich von Anti-Einwanderungsbewegungen gefordert worden waren, in die Gesetzgebung ein.

Manche sehen darin den Tatbeweis, dass eine ursprünglich in rechtsintellektuellen Zirkeln angedachte Haltung, die als „Rassismus ohne Rassen“ charakterisiert wird, inzwischen in breiten Bevölkerungskreisen wie auch bei den politischen Eliten salonfähig geworden ist. Diese Metamorphose des Rassismus machte den Kulturbegriff zu einer zentralen Größe: ‚Kultur’ erscheint (wie zuvor ‚Rasse’) als fixe Größe, zu der Individuen entweder vollständig oder aber gar nicht gehören. Auch nach der Diskreditierung des Rassenbegriffs arbeiten die Mechanismen des Rassismus also weiter.

 

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