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Der Umgang mit der Geschichte sexueller Vielfalt am Beispiel von "Teaching Queer History"

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Beitrags-Autor: Constanze

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Adrian Lehne studiert an der Freien Universität Berlin Geschichte und Biologie auf Lehramt und ist Tutor am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte. Martin Lücke hat eine Professur am Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität Berlin.

Von Adrian Lehne und Martin Lücke

Adelaid Herculine Barbin wurde 1838 in der Nähe von La Rochelle geboren. Ihr Geschlecht wurde trotz einiger Uneindeutigkeiten zunächst als weiblich festgelegt. Aufgrund von Schmerzen im Genitalbereich und Unsicherheiten bezüglich ihrer sexuellen Identität – Barbin fühlte sich zu Frauen hingezogen – konsultierte sie einen Arzt und wandte sich an den Bischof von Rochelle. In Folge dieser Untersuchungen wurde Barbins Geschlecht im Alter von 22 Jahren vom Bischof als männlich festgelegt. 

Kann eine Geschichte wie die von Barbin Teil schulischen Geschichtsunterrichts sein? Und was kann man über Außenseiter_innen in der Geschichte lernen?

Die Vergangenheit ist bevölkert von Geschichten über sexuelle Vielfalt – der Geschichtsunterricht hat diese Geschichten bisher jedoch nicht entdeckt. Wenn überhaupt, dann wird Schüler_innen vielleicht von der Verfolgung gleichgeschlechtlich begehrender Personen im Nationalsozialismus berichtet. Andere Erzählungen – etwa über sexuelle Emanzipationsbewegungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, über Strafprozesse wegen angeblicher sexueller‚'Devianz' vor 1933 und nach 1945, über Transvestismus, Intersexualität oder die ersten medizinischen Operationen zur Geschlechtsumwandlung, sind aus dem Kanon historischen Wissens in der Schule offenbar verbannt.

Doch gerade solche Geschichten bieten einen fundierten Einblick in die Geschichte von Außenseiter_innen. Ihre Geschichten zu erzählen und für die Verwendung in schulischen und außerschulischen Lehr-Lern-Arrangements aufzubereiten, ist das Ziel eines Lernportals wie Queer History, das der Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin, der gemeinnützigen "Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V." sowie mit Unterstützung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld auf die Beine gestellt hat.

Theoretischer Referenzpunkt des Projektes ist die Queer Theory. Sie geht davon aus, dass geschlechtliche und sexuelle Identitäten keine natürlichen Konstanten sind – sondern dass sie in geschichtlichen, kulturellen und sozialen Prozessen erst hervorgebracht werden. Sexuelle und geschlechtliche Identitäten gibt es also nicht nur einfach so, sondern sie werden in komplexen und vielschichtigen Prozessen erst hervorgebracht – von handelnden und leidenden Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Sie entscheiden darüber, wer Außenseiter_in werden muss – und wer sich zur Mehrheit rechnen darf.

Historisches Lernen heißt vielschichtige Prozesse kennenlernen

Insbesondere historisches Lernen bietet hier nun die Möglichkeit, solche vielschichtigen Prozesse kennen zu lernen, geht es bei historischem Lernen doch immer auch darum, sich vergangene Wirklichkeiten als die eigene Vorgeschichte anzueignen und sich selbst als gewordener, 'historischer' Mensch zu begreifen. Dabei kann ein historisch lernender Blick zweierlei sichtbar werden lassen, zum einen: Identitäten waren in der Vergangenheit anders als heute. Sie wurden auf andere Weise konstruiert, spielten für die Menschen der Vergangenheit in ihrer Alltagspraxis eine andere Rolle als heute und waren auf andere Weise konfliktträchtig als in unserer Gegenwart. Wenn wir uns mit ihnen als Teil der Vergangenheit beschäftigen, erfahren wir also, dass sie in der Vergangenheit anders gedacht und anders gemacht wurden als heute. Das Erfahren von solcher historischen Alterität eröffnet den Lernenden also mithin den Erfahrungsraum, dass auch heutige sexuelle Identitäten, z. B. auch jene oft als natürlich verkaufte Trias aus Homo-, Hetero- und Bisexualität, nicht alternativlos sind, weil es zu ihnen bereits in der Vergangenheit Alternativen gab. Mal ging es bunter und mal grauer zu als heute, aber eben nie genauso wie jetzt.

Neben dem Erfahren einer solchen Alterität von Geschlecht und Sexualität, die das Anders-Sein als etwas historisch Normales zu erkennen gibt, können Lernende auch die Historizität, also die grundsätzliche Wandelbarkeit von Konzepten über Sexualität und Geschlecht kennen lernen. Dabei erfahren sie nicht nur, dass die Dinge einst anders waren, sondern sie lernen, en detail Prozesse nachzuzeichnen, durch die sich Wandel vollzog. Sie erfahren auf diese Weise, dass es handelnde und leidende Menschen der Vergangenheit waren, die daran mitgewirkt haben, dass sich Vorstellungen zu Sexualität und Geschlecht geändert haben – und auch, dass solche Vorstellungen grundsätzlich änderbar sind.

Pädagogische Konzepte zu "Queer History"

Im Februar 2014 wurde – an die angelsächsischen Konzepte angelehnt – in Berlin ein Queer History Month veranstaltet. Beteiligt waren neben zahlreiche Akteuer_innen queerer und schulischer Bildungsarbeit in Berlin, unter anderem die Bildungsinitiative QUEERFORMAT, der Spinnboden, das Schwule Museum, der LSVD, die AG Schwule Lehrer der GEW, das Landesinstitut für Schule und Medien und der Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität.

Der Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte der Freien Universität hatte mit Beginn des Wintersemester 2012/13 bereits mit zwei Seminaren zum Thema "Queer History" im Lehramtsmasterstudiengang das Projekt gestartet. In einem fachhistorischen Seminar beschäftigten sich die Studierenden mit Gender-Theorien, Queer-Theory und ihre Möglichkeiten der Anwendung in den Geschichtswissenschaften. Im Verlauf des Seminars entstand ein Analyseraster für ein queeres Lesen von historischen Quellen. Die Ergebnisse aus dem fachhistorischen Seminar wurden in der Lehrveranstaltung "Teaching Queer History" wieder aufgenommen, in dessen Mittelpunkt dann aber die Aufgabe stand, die Geschichte sexueller Vielfalt und sexueller Identität für Unterrichtszwecke zu didaktisieren. Im Rahmen des Seminars arbeiteten die Studierenden also an Unterrichtsentwürfen zur praktischen Umsetzung in der Schule. Diese behandelten Themen wie Homosexualität in der DDR, Intersexualität in der Frühen Neuzeit, Inzest im Mittelalter oder Lesbische Emanzipation in den 1920er und 1970er Jahren. Aus dem Seminar bildete sich eine Redaktionsgruppe heraus, die sich mit der Überarbeitung der Unterrichtsentwürfe beschäftigte und zusammen mit dem Verein "Agentur für Bildung" die Internetplattform Queer History entwickelte.

Neben dem Bereitstellen von Unterrichtsentwürfen für den schulischen Kontext verwandelt das Portal auch die Stadt und damit die Lebenswelt von Schüler_innen, in eine queere Lernumgebung. Über mobile (aber auch stationäre) Geräte können z.B. die Audiobeiträge eines interaktiven Stadtrundganges abgerufen werden. Dazu sind die Audiodateien mit den entsprechenden Positionsdaten verknüpft. Im Rahmen der Entwicklung des Internetportals ist ein Stadtrundgang entstanden, der das schwul-lesbische Leben in Berlin-Schöneberg in den 1920er Jahren behandelt. Zu den Stationen gehören hier die Orte, an denen einst der Nationalhof, das Eldorado standen oder auch der Gedenkort für Hilde Radusch. Ein weiterer Stadtrundgang erzählt die queere Geschichte Berlins nach 1945.

 

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