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Die Darstellung des Zweiten Weltkrieges im Schulbuch: Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in Deutschland und in Polen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Robert Maier leitet die Abteilung „Europa. Narrative, Bilder, Räume“ am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Zuletzt von ihm erschienen: Akustisches Gedächtnis und Zweiter Weltkrieg. Göttingen (2011)

Von Robert Maier

Was erfährt ein deutscher Schüler bzw. Schülerin über die Bedeutung und die Rolle Polens im Zweiten Weltkrieg? Nimmt man die Geschichtsschulbücher für die Sekundarstufe 1 als Maßstab, dann ist es nicht allzu viel. Der Zweite Weltkrieg wird im Durchschnitt auf 25 bis 30 Seiten abgehandelt, wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil der Darstellung auf den Holocaust fällt. In jüngster Zeit wird der Krieg meist in ein Kapitel „Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg“ integriert, wo er nur noch als ein Aspekt dieses totalitären Regimes in Erscheinung tritt. Im Buch „Geschichte real“ (Bd. 3, Cornelsen: 2013, Ausgabe für NRW) reduziert sich die Zahl der Buchseiten für den eigentlichen Krieg auf diese Weise auf 2 bis 3. Da der Krieg in seinem Verlauf eine Vielzahl von Schauplätzen aufwies, die aus deutscher Sicht zu berücksichtigen sind, verbleiben für „Polen“ manchmal nur wenige Zeilen oder kurze Abschnitte und einzelne Bilder. Nur im Einzelfall, wenn Geschehnisse in Polen oder mit Polen als exemplarisch herangezogen werden – etwa im Fall von polnischen Zwangsarbeitern -, können es auch zwei bis drei Seiten sein.

Egal ob in Kurz- oder Langform – als Grundinformation werden folgende gegeben: Polen wird zunächst erwähnt als ein Land, gegen das sich die nationalsozialistische Aggression vornehmlich richtete und das in der Hitlerschen Diktion „vernichtet“ werden sollte. Als wesentliches Motiv des Hitler-Stalin-Paktes wird entsprechend die Absicht herausgestellt, freie Hand gegen Polen zu erhalten. Polen verbindet sich sodann unmittelbar mit dem Kriegsbeginn, der mit dem „Überfall auf Polen“ ein Datum bis hin zur genauen Uhrzeit erhält. Der Septemberfeldzug gegen Polen ist aus Sicht des Lesers eines Schulbuchs kaum dass er begonnen hat, schon beendet – zu groß war die deutsche Übermacht und zu überraschend wirkte die erstmals angewandte Blitzkriegsstrategie. Propaganda-Fotos von Sturzkampfflugzeugen und gepanzerten Limousinen, auf denen Wehrmachtssoldaten mit polnischen Grenzschildern als Trophäen in Polen einfahren, festigen dieses Bild. Als drittes Motiv gerät das brutale Besatzungsregime in den Blick. Meist durch Quellen untermauert werden die rassenideologische Versklavung der polnischen Bevölkerung, Massenerschießungen von Vertretern der polnischen Elite sowie Massaker an den polnischen Juden behandelt. Deren Zusammenpferchung in Ghettos wird erwähnt, wobei der Aufstand im Warschauer Ghetto und dessen Niederschlagung als trauriger Höhepunkt erscheint. Dies leitet zum vierten Punkt über, an dem „Polen“ ins Blickfeld gerät: Polen als der geographische Ort, an dem der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Judenheit, in zentraler Weise stattfand und für den Auschwitz zum Symbol wurde. In der Darstellung dieses Geschehens verliert sich allerdings der polnische Bezug, da es fast gänzlich mit Juden, evtl. noch mit Sinti und Roma verbunden wird. Zum Kriegsende hin taucht „Polen“ im Zusammenhang mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten noch einmal auf. Diese wird dargestellt als eine für die Beteiligten sehr schmerzliche Folge des Krieges. Zugleich wird darauf hingewiesen, dass auch andere Bevölkerungsgruppen, nicht zuletzt die Polen selbst, in diesem Krieg Opfer von Zwangsumsiedlung geworden sind.

Die hier skizzierten deutschen Schulbuchdarstellungen in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg waren auch früher schon von polnischen Vertretern der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission in Augenschein genommen und als sachgerecht und fair beurteilt worden. Dennoch dürfte die Begegnung zweier Jugendlicher aus Deutschland und Polen durchaus Erstaunen und Überraschungen auf beiden Seiten hervorrufen, wenn die beiden ihr Schulbuchwissen über den Zweiten Weltkrieg vergleichen.

  1. Der Stellenwert des Zweiten Weltkrieges im polnischen Geschichtsunterricht ist wesentlich höher als im deutschen. Die polnischen Schulbücher stellen ihm mit durchschnittlich 50 Seiten mindestens dreimal so viel Raum zur Verfügung wie die deutschen, wenn man den Holocaust als besonderes Thema ausklammert. Das Faktenwissen unseres fiktiven polnischen Jugendlichen wird entsprechend größer sein. Dies trifft insbesondere für den Septemberfeldzug gegen Polen zu, der auf durchschnittlich drei Seiten auch militärisch detailliert beschrieben wird. Besagter Jugendlicher wird sein deutsches Gegenüber damit befremden, dass er die Zahl der Flugzeuge, Panzer und Schiffe vergleichend präsentieren, die Frontlinien, Geländestrukturen und Schlachten beschreiben sowie die Namen der beteiligten Generäle nennen kann. 
  2. Irritiert wird der deutsche Gegenüber registrieren, dass in Polen ein durchaus anderer Krieg beschrieben wird, als er ihn kennt. Polen war demnach einem zeitlich etwas versetzten Zweifrontenkrieg ausgesetzt, einem Krieg der im Hitler-Stalin-Pakt im Grunde schon vorgezeichnet war. Deutsche Schulbücher bekunden die Niederlage Polens schon vor dem Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen und erwähnen diesen zuweilen gar nicht mehr, wodurch sogar der falsche Eindruck entsteht, dass Polen als Ganzes von der Wehrmacht erobert wurde. Demgegenüber sehen polnische Schulbücher im Angriff der UdSSR den Grund für die endgültige Niederlage. Neben den deutschen Aggressor wird mit fast gleichem Rang der sowjetische Aggressor gestellt. Erst deren Zusammenwirken habe den Ausgang des Krieges entschieden.
  3. Auch über die westlichen Reaktionen auf den deutschen Überfall werden unsere beiden fiktiven Jugendlichen aus Deutschland und Polen uneins sein. Der deutsche Jugendliche konnte sich im Schulbuch anlesen, dass Hitler „sich verrechnet“ habe, denn Frankreich und Großbritannien hätten die Aggression nicht hingenommen, sondern hätten zu ihren Abmachungen gestanden und Deutschland den Krieg erklärt. Dass sie Polen militärisch nicht so schnell beistehen konnten, wäre der unzureichenden Rüstung und dem Blitzkriegscharakter geschuldet gewesen. Der polnische Jugendliche wird von „Verrat“ sprechen, darüber, dass der Westen Polen allein gelassen habe, dass die diplomatischen Reaktionen wirkungslos bis lächerlich gewesen seien. Schon im Falle der Zerschlagung der Tschechoslowakei habe die westliche Passivität dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges Vorschub geleistet.
  4. Dem deutschen Jugendlichen muss die Eroberung Polens angesichts der geschilderten Überlegenheit als ein relativ müheloses Unternehmen vorkommen. Er erfährt nichts über deutsche Opfer. Von der Gegenwehr der Polen ist in den Schulbüchern nichts zu erfahren. Auch die Argumentation, dass durch den Hitler-Stalin-Pakt ein Zweifrontenkrieg vermieden worden sei, legt nahe, dass die Front gegenüber Polen gar nicht als „Front“ zu zählen sei. Faktisch befand sich Deutschland nach der Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreich nämlich in einem Zweifrontenkrieg. Demgegenüber besteht im polnischen Schulbuch die Hauptbotschaft darin, den heldenhaften Kampf und die Abwehr im Septemberfeldzug vor Augen zu führen. Dies setzt sich fort in der Schilderung der Unterstützung der Alliierten durch polnische Soldaten im Verlauf des Zweiten Weltkrieges, ein Wissen, das in deutschen Schulbüchern keine Beachtung findet und unseren deutschen Jugendlichen nicht erreicht. Selbst der Warschauer Aufstand wird selten erwähnt.
  5. Der deutsche Jugendliche wird aus dem Munde seines polnischen Gegenüber erfahren, dass die deutsche Minderheit in Polen sich als „Fünfte Kolonne“ durch Sabotageakte an diesem Krieg beteiligt und den Vormarsch der Wehrmacht unterstützt habe. Sein Informationsstand wird ihn nicht in die Lage versetzen, dazu Stellung nehmen zu können.
  6. Wenn sich unsere fiktiven polnischen und deutschen Jugendlichen über den Zweiten Weltkrieg unterhalten, haben sie sehr unterschiedliche Bilder vor Augen. Im polnischen Schulbuch dominieren militärische Bildmotive und es kommt eine heroische Komponente zum Ausdruck (menschliches Leid und Alltag im Krieg ist in anderen Kapiteln bebildert). In deutschen Schulbüchern beziehen sich die Illustrationen neben den erwähnten Wehrmachtspropaganda-Fotos in erster Linie auf Aufnahmen, welche die Brutalität der deutschen Besatzung zeigen, wobei diese in das Thema „Holocaust“ überführen.
  7. Überhaupt wird das Thema „Juden“ für unseren deutschen Jugendlichen sehr eng mit dem Zweiten Weltkrieg und Polen verbunden sein, denn er weiß, dass mindestens die Hälfte der während des Krieges umgekommenen polnischen Staatsbürger polnische Juden waren. Demgegenüber wird der polnische Jugendliche die Selbstbehauptung und den Überlebenswillen des polnischen Volkes und die Ermordung der Juden als relativ separate Vorgänge betrachten.
  8. Unser polnischer Jugendlicher wird dem deutschen auch erklären, dass es sich bei der Eroberung Polens durch deutsche und sowjetische Truppen um die „vierte Teilung Polens“ gehandelt habe. Er trägt in diesem Punkt ein Geschichtsbewusstsein nach außen, das deutsche Schulbücher nicht anregen.

Alarmierend sind diese Widersprüche und Mängel in den Schulbuchdarstellungen nicht. Sie erzeugen keine Feindbilder. Jugendliche aus Deutschland und Polen werden sich wohl eher über die Unterschiede wundern. Aber in ihren eventuellen Gesprächen darüber entsteht vielleicht doch das, wovon wir offensichtlich noch ein gutes Stück entfernt sind, nämlich eine gemeinsame europäische Erinnerung. 

 

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