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Verfolgung, Vernichtung und der Kampf um Anerkennung und Wiedergutmachung

Historische Bildungsarbeit zu Sinti und Roma aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Steffen Jost ist stellvertretender Leiter am Max Mannheimer Studienzentrum in Dachau und promoviert an der LMU-München zur Erinnerungskultur Sevillas.

Von Steffen Jost

In den letzten Jahren hat nicht nur die Forschung zur Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma – gerade auf der Ebene lokalhistorischer Untersuchungen – einen kontinuierlichen Aufschwung erfahren, sondern auch in der historisch-politischen Bildung ist das Thema vermehrt ins Blickfeld verschiedenster Akteur/innen geraten.

Seit 2011 wurden im Max Mannheimer Studienzentrum Dachau zum einen ein Tagesworkshop mit dem Titel „Sinti und Roma im KZ-Dachau“ konzipiert, der sich sowohl mit der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt, als auch die Jahrzehnte nach 1945 in den Blick nimmt. Zum anderen sind vier ausführliche Biografiemappen zu ehemaligen KZ-Häftlingen entstanden, die auf breiter Quellenbasis die Lebensgeschichten von drei Sinti und einem Roma aus Deutschland und Österreich rekonstruieren. Ich habe weiterhin für die KZ-Gedenkstätte Dachau einen regelmäßig stattfindenden Schwerpunktrundgang entwickelt.

Im Folgenden sollen anhand der in den letzten drei Jahren gemachten Erfahrungen bei der Vermittlung der Geschichte von Sinti und Roma im KZ-Dachau und den Anerkennungskämpfen nach 1945 Möglichkeiten und Perspektiven, aber auch Schwierigkeiten und Sackgassen aufgezeigt werden. Dabei soll auch die Frage nach der Positionierung einer Bildungsarbeit gestellt werden, die von Institutionen und Akteuren und Akteurinnen der Mehrheitsgesellschaft geleistet wird. Einer Bildungsarbeit, deren Adressaten und Adressatinnen ebenfalls zum überwiegenden Teil der Mehrheitsgesellschaft angehören.

Vermittlungsziele

Ziele der Arbeit im Max Mannheimer Studienzentrum sind unter anderem die Vermittlung von Wissen über den Nationalsozialismus und das Konzentrationslager Dachau (inklusive der Vor- und Nachgeschichte), das Wecken von Interesse für diese Geschichte und die Sensibilisierung für die Bedeutung der NS-Geschichte in Deutschland sowie die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Im Rahmen von mehrtägigen Programmen können diese Zielsetzungen anhand von thematischen Workshops vertieft werden. Die Verfolgung von Sinti und Roma spielt innerhalb des erwähnten Tagesworkshops und bei der Beschäftigung mit Biografien eine besondere Rolle. Im Folgenden sollen nun zwei Fragen diskutiert werden, die sich aus den vorgestellten Rahmenbedingungen und der Erfahrung der letzten Jahre ergeben haben:

  1. Wie können das mangelhafte Vorwissen der Teilnehmenden und der Wunsch nach Wissen über Sinti und Roma und weniger zum Antiziganismus mit den Gefahren einer Re-Ethnisierung und erneuten Fremdzuschreibung in Einklang gebracht werden?
  2. Wie kann erreicht werden, dass an einem Ort wie Dachau Sinti und Roma nicht nur als fremdbestimmte Subjekte und Opfer, sondern auch als eigenständig handelnde Individuen dargestellt werden?

Unbekannte Roma: Der Wunsch nach Wissen

Die Teilnehmenden, die für zwei- bis dreitägige Studienprogramme zu uns kommen, verfügen in der Regel über wenig bis gar kein Vorwissen zum Themenkomplex Porajmos (dem Völkermord an den europäischen Roma in der Zeit des Nationalsozialismus) oder zu Sinti und Roma im Allgemeinen. Obwohl der vertiefende Workshop den Titel „Sinti und Roma im KZ-Dachau“ trägt, erwarten die Teilnehmenden auch Informationen zur Herkunft, Kultur, Sprache etc. der Sinti und Roma zu erhalten. Die jüngere Forschung zum Antiziganismus und die ersten Veröffentlichungen zur Bildungsarbeit stehen diesem Ansinnen oftmals kritisch oder zumindest skeptisch gegenüber (Bartels et al. 2012). Nicht ÜBER Sinti und Roma sprechen, sondern die Positionen der Mehrheitsgesellschaft kritisch reflektieren, sei das Gebot einer angemessenen Bildungsarbeit. Auch wenn dieser Position grundsätzlich einmal zuzustimmen ist, stellt uns die pädagogische Praxis dennoch vor Herausforderungen, denen nicht immer mit absoluten Positionen begegnet werden kann. Konkret ist es das Spannungsverhältnis zwischen einer Bildungsarbeit, die sich Teilnehmerorientierung auf die Fahnen geschrieben hat, und einer idealerweise kritischen Selbstverortung der Lehrenden als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft auf der anderen Seite. Das bedeutet, dass bestimmte Perspektiven  nicht möglich sind, dazu gehören: wie es sich beispielsweise anfühlt, selbst Antiziganismus zu erfahren oder eben auch eindeutige Aussagen über Sinti oder Roma zu treffen. Weiterhin sollten ganz praktische Schwierigkeiten nicht übergangen werden. Die zur Verfügung stehenden Zeitfenster in der außerschulischen Bildungsarbeit sind knapp bemessen; was idealerweise in einwöchigen Seminaren behandelt werden sollte, bekommt bei uns im Rahmen eines Studienprogramms gerade einmal 4-7 Stunden Zeit zur Entfaltung.

Ein simples Übergehen der Interessen der Teilnehmenden kommt aber auch unter Zeitdruck nicht infrage; ein direkter Einstieg in die Verfolgungsgeschichte würde oftmals eine Arbeit ohne Grundlagen bedeuten. Wir haben in der Vergangenheit deswegen mit verschiedenen Methoden experimentiert, über die gleichzeitig ein niedrig schwelliger Einstieg in das Workshopthema gelingen kann. Gute Erfahrungen haben wir dabei zum einen mit Methoden gemacht, die behutsam versuchen, das vielleicht doch vorhandene Wissen der Gruppe zum Thema zu reaktivieren  und sich dabei auch gleich mit eventuell trotzdem auftretenden antiziganistischen Bildern und Diskursen auseinandersetzen. Der Fokus liegt hierbei darauf, dass es wirklich das Wissen der Gruppe selbst sein sollte, da sonst leicht antiziganistische Bilder etc. in die Gruppe getragen werden können, die vorher nicht vorhanden waren. Zum anderen haben wir mit Texten, Statements und Filmen gearbeitet, die von Sinti und Roma selbst produziert wurden. Es ist uns dabei wichtig, diese Dokumente als EINE mögliche Perspektive anzubieten, also Unterschiede hervorzuheben, anstatt den Teilnehmenden klare Antworten und das Gefühl von Sinti und Roma als einer homogenen Gruppe zu liefern.

An diese Überlegungen schließt sich die zweite hier zu diskutierende Frage nahtlos an. Denn eine Bildungsarbeit, die die Subjekte ihres zu vermittelnden Themas ernst nimmt, muss diese zu Wort kommen lassen und ihren Positionen Raum geben.

Sinti und Roma als Akteure und Akteurinnen ihrer Geschichte

Eine der Schwierigkeiten, der historischen Bildungsarbeit zu Sinti und Roma im Nationalsozialismus ist die bestehende Gefahr, die Positionen der antiziganistischen Diskurse, Bilder und Praktiken der Nationalsozialisten erneut festzuschreiben. Grundsätzlich sollte es für jede gedenkstättenpädagogische und historische Bildungsarbeit selbstverständlich sein, sich um Multiperspektivität zu bemühen. Das bedeutet, die Herkunft der Gesetze, Verordnungen, Fotos, Gutachten und sonstigen Dokumente der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik im pädagogischen Prozess offenzulegen und gleichzeitig um Zeugnisse der Betroffenen zu ergänzen. So wichtig es ist, die (antiziganistischen) Positionen der Mehrheitsgesellschaft deutlich zu machen und ein Bewusstsein für diese Positionen und deren Kontinuitäten zu schaffen, so wichtig ist es eben auch, die Perspektiven der Betroffenen miteinzubeziehen. Aber wie bereits geschrieben, müssen Angebote der Mehrheitsgesellschaft hier an eine Grenze stoßen.

Eine besondere Problematik betrifft allerdings die Geschichte des Antiziganismus selbst, d.h. also auch der Geschichte des Nationalsozialismus. Die Bildungsarbeit gerät hier in ein Dilemma, denn die Reduzierung auf Verfolgung und Vernichtung ist auch die Reduzierung auf die Opferperspektive. Wir haben dieses Problem in unseren Angeboten zum einen über einen exemplarischen biografischen Zugang gelöst, der nicht versucht, Wissen und Fakten über Sinti und Roma in ihrer Gesamtheit zu vermitteln und Homogenität zu imaginieren, wo keine Homogenität zu finden ist. Zum anderen haben wir insbesondere im zweiten Teil des Tagesworkshops einen besonderen Fokus auf die Bürgerrechtsbewegung und den Kampf um Anerkennung nach 1945 gelegt. Einer der Schwerpunkte ist dabei der Dachauer Hungerstreik von 1980, bei dem zwölf Sinti und eine Münchner Sozialarbeiterin eine Woche auf dem Gelände der Versöhnungskirche die Nahrung verweigerten. Das Material für diesen zweiten Workshopteil ist wie ein Archiv aufbereitet, die Teilnehmenden arbeiten also mit ausgewähltem, aber wenig bearbeitetem Quellenmaterial. So finden sich in den Archivkästen Zeitungsartikel, Fotos, Interviews mit den Aktivisten und Aktivistinnen, Statements der Hungerstreikenden und sogar Tagesschauberichte zu den Ereignissen vom Frühjahr 1980. Weiterhin wird über die Beteiligung zweier Überlebender Sinti, deren Biografien schon im ersten Teil des Workshops behandelt wurden, eine klare Verbindung zum Nationalsozialismus hergestellt. Ziel dieses Konzepts ist es, die beteiligten Sinti und Roma als selbstständig handelnde Subjekte darzustellen. Das Archiv enthält weiterhin auch Material zur (Nicht-)Verfolgung der Täter nach 1945 und zur Situation von Sinti und Roma in Europa heute. Dieser letzte Ansatz ist nicht nur der Teil, der am stärksten in die Gegenwart hineinreicht, sondern auch jener, im dem am stärksten ÜBER Sinti und Roma gesprochen wird. Auch hier ist es unser Anliegen, nicht nur Antiziganismus aufzuzeigen, sondern auch Sinti und Roma abseits von Diskriminierung und Armut darzustellen. Selbstverständlich kommen wieder auch Sinti und Roma selbst zu Wort und es werden den Teilnehmenden nicht ausschließlich Reportagen, Zeitungsartikel etc. aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft als Quellen angeboten.

Fazit

Die pädagogische Praxis verlangt es uns immer wieder ab, Entscheidungen treffen zu müssen. Entscheidungen, die Einfluss auf das haben, was die Teilnehmenden am Ende mitnehmen. Es wäre vermessen zu glauben, dass jede dieser Entscheidungen richtig ist und wir mit den gewählten Mitteln unsere Ziele immer erreichen würden. Eine der Schlussfolgerungen aus den hier diskutierten Fragen sollte sein, dass sich eine Bildungsarbeit, die das Thema Sinti und Roma aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft behandelt, die ständige Bereitschaft mitbringen muss, sich, das eigene Tun und das eigene Sprechen kritisch zu hinterfragen.

Es sollte auch deutlich geworden sein, dass historische Bildungsarbeit zu Sinti und Roma in erster Linie Bildungsarbeit zum Antiziganismus ist, aber gleichzeitig auch die Interessen der Teilnehmenden ernst nehmen muss. Als ein Ausweg aus dieser Zwickmühle kann die starke Einbeziehung von Perspektiven der Betroffenen gelten. Weiterhin sollte eine entsprechende Bildungsarbeit die Position der Teilnehmenden thematisieren, sie sollte also deutlich werden lassen, von welcher Position heraus Geschichte betrachtet wird. Es besteht im Idealfall auch die Chance, den Blick der Teilnehmenden für ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu schärfen. Und schlussendlich hat historische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus immer auch etwas mit Empathie zu tun. So darf auch ein Workshop zur Verfolgung von Sinti und Roma natürlich Empathie bei den Teilnehmenden wecken, ohne diese Empathie erzwingen zu wollen oder zum Maßstab des Erfolgs zu machen. Eine entsprechende Bildungsarbeit kann dann idealerweise den Blick für Ungerechtigkeiten schärfen und damit vielleicht sogar eine Brücke zur Gegenwart schlagen. Zu wünschen wäre es.

Literatur

Alexandra Bartels/Tobias von Borke/Markus End/Anna Friedrich (Hrsg.), Antiziganistische Zustände. Kritische Positionen gegen gewaltvolle Verhältnisse. Münster 2013.

Alte Feuerwache e.V., Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hrsg.), Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit. Münster 2012.

 

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