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Die Diktatur gezeichnet

Aktuelle Geschichtscomics über die DDR zwischen Authentizität und Dekonstruktion

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Christoph Hamann hat Geschichte, Germanistik und Politik studiert. Er ist Referent für Gesellschaftswissenschaften am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM), u.a. ist von ihm erschienen: Visual History und Geschichtsdidaktik. Bildkompetenz in der historisch-politischen Bildung, Herbolzheim (2007).

Von Christoph Hamann

Der Comic hatte in Deutschland lange den Ruf, allein Unterhaltungsbedürfnisse zu bedienen und bildungspolitisch und didaktisch mindestens nicht relevant, wenn nicht gar schädlich zu sein. Dies hat sich seit Art Spiegelmans Graphic Novel „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ (1989/1991) grundlegend geändert. Ästhetisch ansprechende Comics, die Geschichte ernsthaft thematisieren, wurden für das historische Lernen interessant. Dies gilt auch für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Bei diesem Thema medial wie didaktisch neue Wege zu gehen – dies legten Studien über mangelnde Geschichtskenntnisse von Lernenden über die deutsche Nachkriegsgeschichte und die DDR nahe.

So ist in wenigen Jahren eine ganze Reihe von unterschiedlichen Produktionen erschienen. Deren Existenz ist jedoch vermutlich weniger der Nachfrage des Marktes als dem erinnerungskulturellen Anspruch wie dem finanziellen Engagement der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie der Stiftung Berliner Mauer gedankt. So legten Susanne Buddenberg und Thomas Henseler mit „Grenzfall“, „Berlin - Geteilte Stadt“ und „Tunnel 57“ in kurzer Folge drei Sachcomics vor (Henseler/Buddenberg 2011, 2012, 2013). Simon Schwartz verarbeitete mit „drüben!“ visuell ausgesprochen ansprechend seine eigene Familiengeschichte (Schwartz 2009).Mit „17. Juni. Die Geschichte von Arnim und Eva“ thematisierten Alexander Lahl u. a. den Volksaufstand 1953 mit den grafisch profilierten Zeichnungen von Kitty Kahane (Lahl u. a. 2013). In seiner visuellen Gestaltung dem klassischen Comic kommt „Da war mal was…“ von Flix am nächsten (Flix 2009). Er bietet ein Kaleidoskop von 30 subjektiven Erinnerungen. Bearbeitet werden in all diesen Produktionen Themen wie etwa das Leben im geteilten Deutschland, die Flucht und Ausreise aus der DDR, die Repression, der Volksaufstand 1953 oder die friedliche Revolution 1989. Gemeinsam ist allen Graphic Novels der (auto-)biographische Ansatz, der - bis auf in der Produktion „17. Juni“ - immer authentische persönliche Geschichten verarbeitet.

Für den Versuch, mit der Graphic Novel neue Wege in der Bildungsarbeit zu gehen, sprechen aus didaktischer Sicht neben dem gewiss nicht zu unterschätzenden Faktor der Motivation weitere, durchaus gewichtige Gründe. So kommt eine Bildgeschichte denjenigen Lernenden entgegen, deren Rezeptionsgewohnheiten und -kompetenzen eher nicht bei der Auseinandersetzung mit Texten liegen. Auch die Möglichkeit, in einer Graphic Novel die Alltagsgeschichte des häufig namenslosen Durchschnittsbürgers zum Thema werden zu lassen, spricht für dieses Medium. Ebenso die sprichwörtliche Anschaulichkeit: „Durch den Comic ist es in höchstem Maße möglich, Vergangenheit zu rekonstruieren, Gebäude, Menschen, Emotionen wieder aufleben zu lassen.“ (Henseler/Buddenberg 2013, 55). Der Comic bietet zudem auch reizvolle Ansatzpunkte, für handlungsorientierte, kreativ-produktive Methoden im Unterricht.

In der geschichtsdidaktischen Literatur wird als ein weiterer Vorzug des Graphic Novel darauf verwiesen, dass es aufgrund seiner genretypischen Eigenschaften das „Gemacht-Sein“ von Geschichten offenkundiger werden lasse als bei allein textbasierten Darstellungen. Der Comic sei eben gezeichnet und würde dadurch eher als die subjektiv gestaltete Umsetzung einer subjektiven Interpretation von Vergangenheit, als (Re-)Konstruktion erkannt: „Ein Comic ist subjektiv, eine Interpretation, alles ist bewusst ausgewählt und inszeniert.“ (Henseler/Buddenberg 2013, 55). Daran ansetzend wird als fachdidaktischer Vorzug genannt, gerade das Genre Graphic Novel biete sich an, die ohne Zweifel wichtige Kompetenz der Analyse bzw. Dekonstruktion von historischen Narrativen einzuüben.

Mir scheint dieses Postulat mitunter ein Theorietiger zu sein. Durch die visuelle Gestaltung und durch den historiographischen Anspruch mancher Comics wird der Anreiz zur Dekonstruktion weniger gefördert, denn vielmehr geradezu unterlaufen. Dies aus mehreren Gründen: Die Eigenschaften des Comics, Geschichten von „kleinen Leuten“ spannend und anschaulich verarbeiten zu können, zielen auf einen rezeptiven Nachvollzug des Gezeigten, auf Identifikation, wenn nicht gar Emotion, aber eben gerade nicht auf analytische Distanz. Der Comic „Tunnel 57“ biete „alles, was eine spannende Geschichte ausmacht: Liebe, Lüge, Verrat und Tod“, er sei eine „klassische Heldengeschichte“. (Henseler/Buddenburg 2013, 35). Der Vorzug des Comics, Veranschaulichungsmedium zu sein, steht mit dem Anspruch, das Narrativ analytisch hinterfragen zu sollen, notwendig in einem gewissen Spannungsverhältnis.

Henseler/Buddenberg verweisen darauf, (auch) ihr Comic sei eine perspektivische, eine subjektive Interpretation der Vergangenheit. Die Machart ihrer Sachcomics versucht jedoch, genau diesen Eindruck zu vermeiden. Ihre Comics versuchen durch den dokumentarischen Anspruch (Recherche, Zeitzeugenbefragung), durch eine konventionell-lineare Erzählweise und durch einen ausgeprägten Bildrealismus in Schwarz-Weiß-Grau eben das Aufzeigen von Subjektivität in der historischen Perspektive möglichst nicht aufscheinen zu lassen. Sie präsentieren sich als Geschichten aus der Geschichte mit einem hohen Anspruch an Authentizität und Objektivität. Im Vordergrund scheint das Bemühen zu stehen, der Anspruch des Graphic Novels zu unterstreichen, als seriöses Medium ernsthafter Geschichtsvermittlung anerkannt zu werden. Wenn Subjektivität und Perspektivität zum Ausdruck kommen, dann in der Art und Weise der visuellen Gestaltung der „objektiven“ Geschichte durch die Bildautoren. Diese stellt sich jedoch ganz in den Dienst des monoperspektivischen Narrativs, in den Dienst von Anschaulichkeit, emotionaler Überzeugung und der Dramaturgie.

Mir scheint, die Fähigkeit zur Analyse von Geschichtserzählungen durch Lernende wird eher dann befördert werden, wenn die Comics auf eine narrative Linearität verzichten und dramaturgisch Multiperspektivität bewusst einbauen. Dies kann erfolgen durch die Nutzung verschiedener Perspektiven verschiedener Personen(-gruppen) aus der Zeit des erzählten Geschehens. Im Ansatz taucht dies bei Simon Schwartz‘ Comic „drüben“ bei den politisch unterschiedlichen Elternhäusern des ausreisenden Ehepaars auf. Die verschiedenen Perspektiven sollten jedoch so angelegt sein, dass sie für den Rezipienten legitim oder zumindest nachvollziehbar sind (z. B. Anpassung aus Angst vs. Widerstand und Opposition; Ausreisen vs. Dableiben). Die Gegenüberstellung der Presseberichterstattung in Ost und West zum Tod des Grenzsoldaten Egon Schultz im Comic „Tunnel 57“ ist zwar historisch ausgesprochen interessant und didaktisch sehr wertvoll, präsentiert aber eben nicht eine Gegenüberstellung von gleichermaßen legitimen Perspektiven: Denn die SED-Presse log bewusst.

Verschiedene Perspektiven lassen sich auch durch einen Zeitsprung konstruieren: Eine identische Person hat zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Interpretationen ein und desselben Ereignisses. Erzähltechnisch funktioniert dies durch die Rahmenhandlung, durch den Rückblick („drüben“, „17. Juni“). Didaktisches Potential entwickelt ein solcher Rückblick vor allem dann, wenn die Erinnerung der Gegenwart an die Vergangenheit das Erzählte wie auch die eigene Erinnerung selbst (hinterfragend) reflektiert („Maus“). Schließlich kann multiperspektivisches Erzählen auch durch verschiedene Sichten unterschiedlicher Interpreten der Gegenwart realisiert werden.

Mit seinem Schwerpunkt auf die bloße Erinnerung verfolgt der Comic „Da war mal was…“ von Flix einen radikal anderen Ansatz als der Sachcomic. Er verzichtet auf historische Wahrheitsansprüche und betont in seinem Kaleidoskop von 30 biographischen Splittern die allein subjektive Erinnerung an vergangene Episoden und Imaginationen. Durch diesen Ansatz und durch die Art seiner visuellen Gestaltung läuft dieser Comic am ehesten Gefahr, für das historische Lernen nicht ernst genommen zu werden. Eine solche Geringschätzung würde ihm aber in keiner Weise gerecht werden. Zwar ist die Arbeit von Flix durchaus amüsant, sie ist aber zugleich auch eine vorzügliche Veranschaulichung des kognitiven Konstruktivismus. Denn der Comic zeigt uns: Die erinnernde (wie auch lernende) Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erfolgt eben immer subjektiv. Sie wählt einzelne Ereignisse der Vergangenheit aus, verbindet diese sinnbildend mit anderen und interpretiert sie aus dem Horizont der Gegenwart – im vorliegenden Fall der Flix-Erinnerungen mitunter auch skurril bis grotesk. Im Grunde genommen verlaufen Erinnerungsprozesse eben genau so: Sie konstruieren aktiv aus Elementen des Vergangenen eine sinnvolle Geschichte und verbinden diese mit einer Botschaft. Und dies gilt für unterschiedliche Akteure mit ihren unterschiedlichen Zugangsweisen zu Geschichte: Dies gilt für Zeitzeugen, Forschende, Lehrende und Lernende. „Da war mal was…“ bietet Ansatzpunkte, gerade diese grundlegenden Mechanismen des Erinnerns im Unterricht zu thematisieren.

Ein letztes Beispiel: Der Comic „17. Juni“ verbindet eine Liebesgeschichte mit historischen Ereignissen. Erzählt wird die (fiktive) Geschichte von Arnim Mahlke, der den (historischen) Zug der Hennigsdorfer Stahlarbeiter vom 17. Juni 1953 nach Berlin anführt. Dieser wird wenige Tage nach dem 17. Juni verhaftet und als Rädelsführer des Aufstands zum Tode verurteilt. Das Urteil wird in lebenslange Lagerhaft umgewandelt, welche Armin in Workuta absitzen soll. Dort erliegt er seinen Verletzungen, die er sich während eines Aufstandes im Lager zugezogen hat. Diese (Binnen-)Geschichte wird als Rückblende aus einer Perspektive nach der Friedlichen Revolution von 1989/90 erzählt.

Sie ist im Stile eines Detektivromans gehalten. In Anmerkungen zu den Panels werden dem Leser (sparsam) Informationen zum historischen Kontext und zu Namen bzw. Abkürzungen gegeben. Die künstlerische Gestaltung des Comics der „17. Juni“ verwendet bekannte fotografische Motive als Stilmittel, um die fiktionale Geschichte historisch zu authentifizieren. So etwa das Motiv der Steinewerfer vom Leipziger Platz, ein sehr beeindruckendes Motiv des Demonstrationszuges der Henningsdorfer Arbeiter oder das der Vereinigung von zwei Demonstrationszügen. Bei letzterem wird angespielt auf ein Bildmotiv der SED-Propaganda zur Vereinigung der KPD mit der SED im Jahr 1946.

Mit Armins Mahlkes Mithäftling Semjonow wird ein Erzähler eingeführt. Dieser hat die Funktion eines Zeitzeugen, der die wahre Geschichte kennt und diese durch seine Zeitzeugenschaft authentifiziert. Die Funktionsweise Erinnerns selbst, das immer lückenhaft, konstruiert und gegenwartsbezogen ist, wird leider auch hier nicht thematisiert. Die unterschiedlichen Perspektiven, die eingeführt werden, unterscheiden sich allein durch ihren unterschiedlichen Kenntnisstand über die historischen Ereignisse und nicht durch ihre unterschiedlichen Interpretationen der Geschichte und/oder durch die verschiedenen Erinnerungen an die Geschichte.

Die Graphic Novel ist wichtiges und ernst zu nehmendes geschichtskulturelles Medium. Curricular sind die Weichen vielerorts gestellt (Stichwort: Geschichtskultur). Unterrichtsempfehlungen wie auch Hinweise für die geschichtsdidaktische Literatur liegen mittlerweile vor (zum Beispiel jüngst: Comics und Graphic Novels, Heft 153/154 von Geschichte lernen 26. Jg. (2013)). Unterrichtspragmatisch gesehen kommen die kürzeren Geschichten den Rahmenbedingungen schulischen Lernens eher entgegen. Einen hervorragenden Service für die Lehrenden bietet die digitale Fassung von „17. Juni“. Eine grundsätzliche Herausforderung stellt die historische Kontextualisierung des Comic-Narrativs dar. Wird sie den Lernenden bzw. den Lehrenden überlassen? Werden Sachtexte ergänzt und wenn ja, dann in welchem Umfang? Oder reichen sparsam gesetzte Fußnoten aus?

Literatur

Flix: Da war mal was…. Erinnerungen an hier und drüben, Hamburg 2009.

Thomas Henseler, Susanne Buddenberg: Grenzfall: Ost-Berlin 1982: Ein Schüler rebelliert gegen die herrschende Politik, Berlin 2011.

Diess.: Berlin - Geteilte Stadt, Berlin 2012;

Diess.: Tunnel 57. Eine Fluchtgeschichte als Comic, Berlin 2013.

Alexander Lahl, Tim Köhler, Max Mönch, Kitty Kahane: 17. Juni. Die Geschichte von Arnim und Eva, Berlin 2013. 

Simon Schwartz: drüben!, Berlin 2009.

 

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