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„Morgen fahren wir ins KZ“ - Reflexion programmatischer und irreführender Erwartungen an KZ-Gedenkstätten.

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Ulrike Maschner arbeitet u.a. als Honorarkraft in Bildungsabteilung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück.  

Von Ulrike Maschner

„Morgen fahren wir ins KZ“ beginnen nicht wenige Lehrkräfte ihren Vortrag zur Vorbereitung einer Gedenkstättenfahrt. In dieser falschen Bezeichnung von Gedenkstätten kommt auch der Wunsch eines großen Teils des Lehrpersonals zum Ausdruck, dass es die Schülerinnen und Schüler „emotional packen muss“. So sind Gedenkstätten seit Jahren ein beliebter „Ausflug“, um den Geschichtsunterricht anschaulicher zu gestalten. Die historische Distanz zu den Ereignissen soll überbrückt werden, um den Jugendlichen einen persönlichen Bezug zu erleichtern. Die Schülerinnen und Schüler bemerken entsprechend nach dem Besuch oft enttäuscht: „Das KZ war zu modern.“ 

Vor diesem Hintergrund befragte ich imJahre 2010 zwei achte Schulklassen nach ihrem Besuch der Gedenkstätte. Ziel war es, die vielen Missverständnisse zwischen den Erwartungen der Lehrkräfte sowie der Jugendlichen auszuräumen und ein realistisches Ergebnis zu präsentieren. Die folgenden Überlegungen fußen größtenteils auf einem triangulären Forschungsdesign, welches durch einen Methodenmix charakterisiert ist (Fragebogen, leitfadengestützte narrative Interviews, Beobachtungsprotokolle sowie die inhaltliche Analyse des pädagogischen Settings) Die Erhebung der Daten (Fragebogen, narrative Interviews) erfolgte erst ein halbes Jahr nach dem Besuch der Gedenkstätte. 

Die Ergebnisse der empirischen Studie machen deutlich, dass bei den meisten Jugendlichen der innige Wunsch vorherrscht, eine besonders gruselige Atmosphäre vorzufinden. So erhoffen sich die Schülerinnen und Schüler beispielsweise „Leichenberge“, „vertrocknetes Blut an den Wänden“ und „verstümmelte Babys“. Das Quälen steht im Mittelpunkt, nicht jedoch die Gequälten. Das Lager erscheint als neutraler Ort, von dem aus man distanziert auf die Folterpraxis schauen kann, ohne die Opfer in den Blick zu nehmen. Auch sind die Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler von fiktionalen Bildern geprägt, denen historischer Wahrheitswert zugeschrieben wird. Enttäuschungen sind vorprogrammiert. 

Überlegungen zur Vorbereitung von Gedenkstättenfahrten

Konfrontiert mit dem überhöht moralischen Ton seitens der Lehrerinnen und Lehrer und mit den fast schon spektakelhaften Wunschvorstellungen der Schülerinnen und Schüler stellt sich die Frage, wie mit diesem Wissen eine Gedenkstättenfahrt vorbereitet werden kann. 

In den Gedenkstätten ist es mittlerweile gängige Praxis, mit Zeitzeugeninterviews oder Ausschnitten aus solchen zu beginnen oder zu enden. Die Erinnerungen der Überlebenden werden oft visuell als Geschichtserzählungen präsentiert. Über persönliche Lebensgeschichten wird sich dem konkreten Leidensort anzunähern versucht. Die Methode hat sich bewährt: Bei der Untersuchungsgruppe beispielsweise sind erst durch den Film „Erinnern an Ravensbrück“ die Opfer in das Blickfeld gerückt. Ein halbes Jahr später sind die erzählten Erfahrungen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück den Schülerinnen und Schülern noch deutlich präsent. So erinnert sich eine Jugendliche: „und am emotionalsten fand ich halt, wo wir den Film geschaut haben, mit den ganzen Frauen, fand ich halt am döllsten. Das hat mich auch so richtig wieder reinversetzt, das fand ich so emotional und, ja, das war halt schon so richtig krass, diese Erfahrung zu machen und zu hören, wie die sich da halt gefühlt haben und wie die da halt gelebt haben. Ja, und wie sie denn noch von ihren Familien erzählt haben … ja, das war schon alles ganz schön krass. Ich wusste gar nicht wohin mit meinen ganzen Gefühlen.“ 

So erfüllt das aufgezeichnete Zeitzeugengespräch, was eine Führung oftmals nicht vermag: Sich „hineinversetzen zu können“, um letztendlich zu wissen, wie „schlimm“ es war. Genauer betrachtet müssen diese Äußerungen Unbehagen auslösen. Das Nacherleben erscheint hier als selbst gestellte Aufgabe, als eine Art arrangierte Affektstimulation, die hoffentlich in einem moralischen Urteil endet. So wird an dieser Stelle vor allem über die eigenen Gefühle gesprochen, darüber gerät der Anlass der Betroffenheit in den Hintergrund. Über das Nachvollziehen der authentischen Opfererfahrungen soll Erkenntnis gewonnen werden. 

Gegenüber dieser Vorbereitung ist Skepsis angebracht. Sollte nicht eigentlich vermittelt werden, dass es so etwas gibt wie eine Erfahrung der Erfahrungslosigkeit? Eine Art Erkenntnis, die darauf verweist, dass gewisse Erfahrungen einfach nicht nachzuvollziehen sind. So mag zwar die Aussage von Götz Aly etwas überspitzt klingen, dass Gedenkstätten eher gegenaufklärerisch wirken, da sie einzelne Verbrechen in den Blick rücken und Menschen betroffen machen, die dabei nichts lernen. Doch scheint es schwierig, dem viel diskutierten Überwältigungsverbot, welchem in den Gedenkstätten eine ganz besondere Rolle zukommt, Folge zu leisten, wenn der Überwältigungswunsch von den Schülerinnen und Schülern internalisiert und von Lehrerinnen und Lehrern insgeheim gefördert wird. 

So kann zwar der Wunsch der Jugendlichen, sich den Akt des Quälens ohne die Gequälten vor Augen zu führen, mit Interviews von Überlebenden gebrochen werden. Doch sollte das Bedürfnis, an dem historischen Ort den „originalen“ Zustand zu erleben, mit Zeitzeugenberichten stimuliert werden? Der Anspruch, Geschichte distanziert betrachten zu können, um simplifizierte Geschichtsbilder auszuräumen, sollte nicht aufgegeben werden. Denn der Besuch einer Gedenkstätte, der als Projektionsfläche dient und (ob aus eigenem oder fremden Wunsch heraus) Betroffenheit erzeugt, kann Nachdenken verhindern. Lehrer und Lehrerinnen sollten den Besuch einer Gedenkstätte nicht mit Moralvorstellungen überfrachten, sondern historische Kontexte in den Blick nehmen. Es ist absurd zu glauben, ein Gedenkstättenbesuch könnte ein vereinfachendes Geschichtsbild in ein detailliertes Überblickswissen und damit in ein reflexives Geschichtsbewusstsein transformieren. Doch sollte der Versuch nicht aufgegeben werden, anhand der konkret vorzufindenden Spuren und Relikte die Jugendlichen zum kritischen Nachdenken beispielsweise über die Entscheidungs- und Handlungsspielräume der Täter, der Opfer wie auch der Zuschauer zu bewegen. Weiterhin stellt sich die Frage, ob nicht in der Vorbereitung auf den Besuch den Horrorvisionen der Schülerinnen und Schüler entgegengetreten und vorzeitig ein Gespräch über ihre Vorstellungen begonnen werden kann.

 

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