„Nicht durch formale Schranken gehemmt“ Die deutsche Polizei im Nationalsozialismus.
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Von Akim Jah
Dieses von Thomas Köhler von der Villa ten Hompel sowie Wolf Kaiser und Elke Gryglewski vom Haus der Wannseekonferenz erarbeitete pädagogische Material zur Polizei im Nationalsozialismus ist ein spätes Produkt des von der Innenministerkonferenz initiierten Projektes „Die Polizei im NS-Staat“, das vor allem durch die Ausstellung „Ordnung und Vernichtung“ einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist (vgl. Deutsche Hochschule der Polizei , 2011). Die Ausstellung war zwischen April und August 2011 im Deutschen Historischen Museum zu sehen; ihre Themen und teilweise auch das dort ausgestellte Material bilden die Grundlage für die vorliegende Publikation.
Die Materialien sind laut Vorwort für die Arbeit mit Polizeibeamten konzipiert, die sich „über die Geschichte ihres Berufsstands informieren sollen“ (S. 7). Zugleich zielt das Material aber auch explizit auf den Einsatz in der schulischen und außerschulischen Bildung (Sekundarstufe II). Als das pädagogische Ziel der Beschäftigung mit der Polizei und polizeilichem Handeln wird zum einen die Verdeutlichung der Strukturen des NS-Staates und der Teilnahme der Polizei an den Massenverbrechen, zum anderen die Auseinandersetzung mit dem Verhalten von Menschen in Diktaturen, mithin die Vermittlung, dass Polizist/innen für ihr Handeln persönlich verantwortlich sind und staatliches Handeln an die Respektierung von Grund- und Menschenrechten gebunden sein muss, genannt.
Der eigentlichen Materialsammlung vorangestellt ist ein Beitrag des Hamburger Soziologen Rafael Behr über „Cop-Culture“. Ausgehend von der paradigmatischen Konkurrenz zwischen theoretischer Ausbildung und polizeilichem Alltagshandeln sowie den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern und der damit verbundenen Wertschätzung und Begründungszusammenhänge des eigenen Handelns der verschiedenen Statusgruppen innerhalb der Polizei konstatiert er, dass es „mindestens zwei ‚Welten’“ innerhalb der Polizei gibt. Dabei beeinflussen Handlungsmuster als informelle Verhaltensstandards, die angenommen, eingehalten und weitergegeben werden, ebenso sehr das Handeln der im unmittelbaren Vollzug eingesetzten „handarbeitenden“ Beamten, wie die administrativen Vorgaben es tun. Behrs Beitrag ist eine verknappte Zusammenfassung seiner viel tiefer gehenden Untersuchung zum Thema Polizeikultur (vgl. Behr, 2000) und weist auf ein zentrales Spezifikum der Bildungsarbeit mit Polizeiangehörigen heute hin. Diese Überlegungen finden jedoch weder in der Auseinandersetzung mit dem historischen Gegenstand noch konzeptionell hinsichtlich der Zielgruppe Polizei Eingang in das Bildungsmaterial.
Das pädagogische Material teilt sich in neun historisch-thematisch strukturierte Kapitel. Zu jedem Kapitel gibt es einen – jeweils dem aktuellen Forschungsstand entsprechenden –Einführungstext sowie Materialien (Dokumente, Fotos, Organigramme, Abbildungen von Plakaten usw.) und darauf basierende Arbeitsvorschläge. Im Anhang befindet sich eine Literaturliste mit weiterführenden Angaben zu den einzelnen Kapiteln. Zusätzliches Dokumenten- und Audiomaterial befindet sich auf der dazugehörigen DVD.
Das erste Kapitel behandelt den Wandlungsprozess der Polizei in Deutschland im 20. Jahrhundert – von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis hin zur Polizei nach 1945, einschließlich des Umgangs mit belasteten Polizisten nach dem Krieg. Den Schwerpunkt bilden dabei die strukturellen und personellen Veränderungen während der NS-Zeit und der Wandel des polizeilichem Selbstverständnisses.
Im zweiten Kapitel geht es um die Verfolgung der innenpolitischen Gegner im NS, im dritten um die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung“ durch die Kripo und im vierten um die Rolle der Polizei beim Völkermord an den Sinti und Roma. Letzteres reiht sich ein in die wenigen in den letzten Jahren erschienenen Publikationen zu Antiziganismus und dem Massenmord an dieser Bevölkerungsgruppe (vgl. Deckert-Peaceman, 2003 und Alte Feuerwache e.V., 2012), was lange Zeit eine weitgehende Leerstelle in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem NS gewesen war.
Gegenstand des fünften Kapitels, das mit 55 Seiten zurecht den größten Platz in der Materialsammlung einnimmt, ist der Holocaust und die Beteiligung der Polizei daran. Es umfasst eine umfangreiche Darstellung der Verfolgung der deutschen Juden ab 1933 bis hin zu den Plänen einer „territorialen Lösung“ und schließlich den Deportationen. Jeweils ein Abschnitt zur Tätigkeit der deutschen Polizei im Ghetto Litzmannstadt und zum Massenmord in Bialystok durch das Polizeibataillon 309 richten den Blick auf in der Öffentlichkeit weniger bekannte Schauplätze des Massenmordes an den Juden und machen bislang eher schwer zugängliche Dokumente für die pädagogische Arbeit verfügbar. Der letzte Abschnitt des Kapitels richtet den Blick auf die Ordnungspolizei und die Massenerschießungen in der besetzten Sowjetunion; die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei werden dagegen nur kurz gestreift.
Das sechste Kapitel umfasst – unter der Überschrift die „Verbrechen an der nichtjüdischen Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten“ – die Besatzungsherrschaft und Umsiedlungspolitik in Polen, Erschießungen in Weißrussland, die Vernichtung von Lidice, die Sprengung des Marseiller Hafenviertels und die Niederschlagung des Warschauer Aufstands. Diese Themen und Ereignisse stehen – wohl beispielhaft – für die zahlreichen, Massenmorde und andere durch die verschiedenen Einheiten der Polizei verübten Verbrechen im von Deutschland besetzten Europa, die im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik kaum verankert sind. Die von der Polizei ausgeübte Verfolgung und die Verbrechen nach der Kriegswende 1942 sind Gegenstand des siebten Kapitels. Neben den Kriegsverbrechen an der „Heimatfront“ in den Monaten vor dem Kriegsende schließt dies die Beteiligung der Polizei an der Verschleppung und Überwachung der zahlreichen ausländischen Zwangsarbeiter innerhalb des Deutschen Reiches mit ein, was in der Öffentlichkeit oftmals übersehen wird.
Besonders interessant ist das achte Kapitel. Hier geht es um Handlungsspielräume von Polizisten. Anhand von zwei Biographien werden unterschiedliche Lebensläufe und Motivationen von Tätern dargestellt. Bei einem handelt es sich um den nationalsozialistisch gesinnten Offizier der Schutzpolizei Julius Wohlauf. Der Angehörige der Kriegsjugendgeneration war 1942 als Hauptmann des Polizeibataillons 101 in Polen und der Sowjetunion eingesetzt und dort an Erschießungen beteiligt. Nach dem Krieg wurde er im Zuge der sogenannten 131-Regelung wieder in den Polizeidienst übernommen. Beendet wurde Wohlaufs Karriere im Zuge des Hamburger Verfahrens gegen Angehörige dieses Polizeibataillons, bekannt geworden u.a. durch Christopher Brownings Studie „Ganz normale Männer“, bei dem er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt wurde. Die zweite Biographie bezieht sich auf den in den besetzten Niederlanden eingesetzt gewesenen Ordnungspolizisten Josef Henneböhl. Das NSDAP-Mitglied Henneböhl beteiligte sich an Razzien und an der Deportation von Juden. Gleichwohl unterstützte er den niederländischen Widerstand und bewahrte Geistliche vor der Deportation. Nach dem Krieg kehrte er in die Niederlande zurück, wo er für sein widerständisches Verhalten eine Anerkennung erhielt. Die beiden Einzelschicksale stehen für zwei Beispiele unterschiedlicher Verhaltensweisen von Polizisten im Nationalsozialismus. Der Fall Wohlauf steht zudem für die personellen Kontinuitätslinien von Tätern des Holocaust und Angehörigen der Länderpolizeien in der Bundesrepublik. Bei dem Material handelt es sich um Fotos, zeitgeschichtliche Dokumente, Prozessdokumente, Zeitungsausschnitte, Auszüge aus der Publikation von Henneböhl sowie um Aussagen Dritter über das Verhalten von Henneböhl. Auf der DVD befindet sich weiteres Material zu Biographien von „widerständisch gewordenen“ Polizisten. Ein hier zu erwartender Vorschlag zur pädagogischen Herangehensweise zur Auslotung von Handlungsoptionen von Polizisten existiert dabei jedoch nicht.
Das neunte Kapitel schließlich hat den Umgang der Polizei nach 1945 mit ihrer Vergangenheit zum Gegenstand, wobei hier vor allem wiederum die Ordnungspolizei im Mittelpunkt steht. Als Material werden hier u.a. Zuschriften aus der Bevölkerung im Zusammenhang mit Strafprozessen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen abgedruckt.
Mit der vorliegenden Publikation liegt eine umfangreiche Materialsammlung für die pädagogische Arbeit zur Geschichte der verschiedenen Sparten der Polizei im NS und den von ihnen begangenen Verbrechen vor, wobei die lange Zeit nicht thematisierten Verbrechen der Kriminalpolizei und der Ordnungspolizei einen großen Stellenwert einnehmen. Neben bekannten und bereits veröffentlichten Dokumenten werden Texte, Fotos und weitere Faksimiles auch erstmalig für die Bildungsarbeit bereitgestellt. Für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit existiert somit eine wertvolle – allein aus Gründen des schieren Umfangs der von der Polizei durchgeführten Verbrechen, sicherlich noch nicht erschöpfte – Sammlung einschlägiger Quellen.
Dabei handelt es sich weniger um ein stringentes Seminarkonzept, sondern vielmehr um pädagogische Anregungen, was sich auch im Begriff „Vorschlag zum Ablauf des Unterrichts“ als Titel der Arbeitsanweisungen widerspiegelt. Dass sich die Arbeitsanweisungen explizit auf den Unterricht beziehen, mag vor dem Hintergrund der primären Zielgruppe Polizei als etwas irritierend erscheinen; als Handreichung, die auf eine differenzierte und fundierte Auseinandersetzung mit der Polizei im NS zielt, sind Material und Arbeitsanweisungen jedoch tatsächlich für alle Zielgruppen gut einsetzbar. Dabei ist je nach Zielgruppe, Vorkenntnissen der Teilnehmenden und inhaltlicher Zielsetzung ein differenzierter Einsatz des Materials leicht möglich. Die spezifische Situation bzw. Fragen von Mitarbeiter/innen der Polizei bei der Auseinandersetzung mit den Verbrechen „ihres“ Arbeitgebers im Nationalsozialismus ist jedoch nicht Gegenstand der Veröffentlichung; explizit verzichten die Autor/innen auf „kurzschlüssige Aktualisierungen“. Den Gegenwartsbezug sehen sie vielmehr, ganz im Sinne der Lernziele der historisch-politischen Bildung, darin, dass „die am historischen Gegenstand geschulte Fähigkeit zur Reflexion und Meinungsbildung nachhaltige Folgen in der Gegenwart haben kann.“ (S. 13)
So erfreulich die Bandbreite des zusammengetragenen Materials, die Auswahl, die thematische Schwerpunktsetzung, die Fokussierung auf Strukturen und Einzelbeispiele, die Qualität der Einleitungstexte und die didaktischen Hinweise sind, so ärgerlich ist die technische Umsetzung: So ist die DVD etwas schwer handhabbar und es ist recht umständlich, die Dokumente dort zu finden. Die mangelhafte Bindung der eigentlichen Materialsammlung löst sich nach dem ersten Durchblättern komplett auf, was die Arbeit mit dem Material unnötigerweise erschwert und nervig werden lässt. Von der Bundeszentrale für politische Bildung ist zu hoffen, dass sie bei einer Neuauflage zu einer herkömmlichen Bindung zurückfindet oder aber das Material gleich in geeigneten Ordnern ausliefert – was anscheinend bei der Abholung im Medienzentrum in Berlin durchaus praktiziert wird. Die vorliegende Ausführung wird der inhaltlichen Qualität dieser grundlegenden Materialsammlung nicht gerecht.
Literatur
Deutsche Hochschule der Polizei (Hg.): Ordnung und Vernichtung. Die Polizei im NS-Staat. Dresden 2011.
Rafael Behr: Cop Culture. Der Alltag des Gewaltmonopols. Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei. Opladen 2000.
Heike Deckert-Peaceman/Uta George/Petra Mumme: Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust. Heft 3: Ausschluss. Frankfurt/M. 2003.
Alte Feuerwache e.V. – Jugendbildungsstätte Kaubstraße (Hg.): Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus. Münster 2012.
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- 18 Sep 2013 - 10:45