„Niemand wäre auch nur im Traum darauf gekommen, hier zu bleiben“
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Markus Nesselrodt
Föhrenwald, Pocking, Zeilsheim – Ortsnamen, mit denen wahrscheinlich nur wenige Menschen jüdische Geschichte in Deutschland verbinden würden. Doch es handelt sich bei diesen Namen um drei von fast 200 Lagern für jüdische Displaced Persons (DPs), die sich in den Jahren von 1945 bis 1957 auf dem Territorium des von den Alliierten besetzten Deutschlands befanden. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist dieses Kapitel jüdischen Lebens in Deutschland nach dem Holocaust bislang nur wenig präsent.
Befreit und doch nicht frei
Meines Erachtens bietet das Thema „Jüdische DPs im Nachkriegsdeutschland“ zwei Aspekte, die stärker in der historisch-politischen Bildungsarbeit über jüdische Geschichte in Deutschland behandelt werden sollten. Zunächst einmal steht die jüdische DP-Erfahrung für eine Geschichte der Befreiung, obwohl wir aus Erinnerungen ehemaliger DPs wissen, dass sich viele auch nach der Befreiung Nazideutschlands durch die Alliierten nicht frei fühlten. Zu sehr bestimmte die Abhängigkeit von der Entscheidung irgendeiner Immigrationsbehörde in Palästina, Südamerika oder in den USA das Gefühl, eben kein freier Mensch zu sein. Dennoch, trotz des von vielen Zeitzeugen als !Sitzen auf gepackten Koffern“ beschriebenen Ausharrens in den Transitlagern symbolisiert diese Zeit auch ein Ende der Verfolgung und Entmenschlichung durch die Nationalsozialisten. Diese „Subjektwerdung“ (Dan Diner) kann nicht unterschätzt werden. Nach sechs langen Jahren der Verfolgung und der Vernichtung ganzer jüdischer Lebenswelten entstand unter dem Schutz der Alliierten eine neue Lebensfreude, eine beeindruckende kulturelle Aktivität und ein kämpferischer Wille zum politischen Diskurs. Aus ehemaligen KZ-Häftlingen, von den Nationalsozialisten zu Objekten degradiert, wurden wieder handelnde Menschen.
Jüdische Geschichte in Deutschland endete also nicht mit den Bildern der abgemagerten befreiten KZ-Insassen. Im Laufe weniger Jahre bildete sich in den Lagern für Displaced Persons eine jüdische Gesellschaft bestehend aus befreiten KZ-Insassen, Zwangsarbeitern, Versteckten und nicht zuletzt Flüchtlingen aus dem östlichen Europa heraus. Trotz aller Unterschiede in Hinblick auf Religiosität, Herkunft und politischer Einstellung waren sie vereint in dem Bewusstsein, Überlebende einer großen Katastrophe zu sein. Es ist daher auch als selbstbewusstes Statement zu werten, dass die jüdischen Überlebenden sich selbst nicht als DPs bezeichneten, sondern als She'erit Heplatah, hebräisch für den Rest der Geretteten. Die Frage der Selbstdefinition steht meiner Meinung nach symbolisch für den Wiedereintritt der jüdischen Überlebenden in die Geschichte. Nach sechs langen Jahren der Verfolgung und der Gewalt ist wieder so etwas wie selbstbestimmtes Handeln möglich, zwar unter den Bedingungen der alliierten Besatzungsherrschaft, aber dennoch weitgehend in Freiheit. Die Geschichte der jüdischen DP-Lager ist auch eine Zeit der kulturellen und politischen Aktivität, eine Zeit des Babybooms und der Rückkehr in ein geordnetes Leben. Für viele war es im Rückblick betrachtet eine Zeit des Neuanfangs, ein Übergang vom Leben bis 1945 und einem Leben danach. Die meisten jüdischen DPs verließen Deutschland – und zugleich auch Europa – zwischen 1945 und 1951 nach Israel, in die USA oder nach Südamerika. Doch sie haben Spuren hinterlassen, die sich lohnen, entdeckt zu werden – ein interessantes Forschungsfeld für Schülerinnen und Schüler, die sich im Geschichtsunterricht fragen, was aus den befreiten Juden Europas wurde.
DPs als Teil deutscher Regionalgeschichte
Die Zentren des jüdischen Lebens im besetzten Deutschland befanden sich in und um München, Berlin und Frankfurt am Main, doch die meisten DP-Lager waren in kleinen Ortschaften oder gar Dörfern mitten in Bayern, Niedersachsen oder Baden-Württemberg. Seit einigen Jahren gibt es regionalgeschichtliche Initiativen mit dem Ziel, diesen Teil der eigenen Nachkriegsvergangenheit aufzuarbeiten. Das jüdische Museum in München widmete den jüdischen Flüchtlingen in Bayern unlängst eine eigene Ausstellung und der Filmemacher Gabriel Heim drehte eine Dokumentation mit dem Titel „Berlin Transit“ über jüdische DPs in der besetzten Hauptstadt. Diese Projekte lassen sich als Versuch deuten, ein lange vernachlässigtes Kapitel jüdischer Geschichte in Deutschland stärker bekannt zu machen. Denn für etwa 10.-12.000 Menschen bedeutete die DP-Zeit nicht das Ende ihres Aufenthalts in Deutschland, sondern den Beginn eines Lebens außerhalb der DP-Lager.
Im Interview mit dem Münchener Professor für jüdische Geschichte Michael Brenner beschrieb der in Polen geborene Arno Lustiger seine Zeit im DP-Lager Zeilsheim folgendermaßen: „Deutschland, DP-Lager – das war für uns praktisch ein Nachtasyl. Niemand wäre auch nur im Traum darauf gekommen, hier zu bleiben, kein einziger, nicht einer.“ Dieser Ansicht war wohl die große Mehrheit der jüdischen DPs in Deutschland und doch blieben einige im Land der Täter. Die Gründe hierfür waren unterschiedlich. Einige waren zu krank, um die strikten Einreisebestimmungen der USA und anderer Länder zu erfüllen. Andere schreckte die Aussicht auf das meteorologische und politische Klima in Palästina ab und wieder andere hatten in den langen Jahren des Abwartens auf die Emigration begonnen, sich außerhalb der DP-Lager eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Was auch immer Gründe für das Bleiben gewesen sein mögen, die Bedingungen für jüdisches Leben im Nachkriegsdeutschland waren nicht einfach.
Deutsche und osteuropäische Juden
Neben den tiefen Gräben, die jüdische Überlebende von deutschen Tätern und Mitwissern trennte, war auch das Verhältnis der jüdischen Gemeinden untereinander nicht unproblematisch. Ein Grund hierfür war das Aufeinandertreffen unterschiedlicher religiöser und kultureller Ansichten der Überlebenden aus Deutschland und dem östlichen Europa. Aus diesem Grund entstanden im ersten Nachkriegsjahrzehnt zuweilen am selben Ort zwei getrennte jüdische Gemeinden, eine deutsche und eine osteuropäische. Es dauerte einige Jahrzehnte, bis man sich annäherte. Insbesondere die zweite Generation der Überlebenden spielte hierbei eine Schlüsselrolle, so beispielsweise der oben genannte Historiker Michael Brenner, der ein wichtiges Buch über jüdische Geschichte in der BRD verfasste oder Lala Süßkind, die ehemalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlin. Beide wuchsen als Kinder osteuropäischer Juden in Deutschland auf und sind heute angesehene Vertreter des Judentums in Deutschlands. Zu zeigen und zu verstehen, dass der Weg dorthin nicht selbstverständlich war, wäre ein möglicher Ansatz für die Bildungsarbeit zur jüdischen Nachkriegsgeschichte.
Eine Herausforderung für die Bildungsarbeit
Anders als von den Nationalsozialisten beabsichtigt bedeutete das Kriegsende nicht das Ende jüdischer Präsenz in Deutschland. Über 200.000 jüdische ehemalige KZ-Insassen, Zwangsarbeiter und Flüchtlinge lebten in und außerhalb der zahlreichen Lager für Displaced Persons, gründeten Familien, schufen Kultur und machten Politik. Jeder Zehnte von ihnen blieb auch nach der Schließung des letzten Flüchtlingslagers im Jahre 1957 im Land der Täter; manche freiwillig, viele gegen ihren Willen, aber sie blieben und wurden Teil jüdischer Geschichte in Deutschland. So gesehen, ist es auch eine Geschichte der gelungenen Integration deutscher und osteuropäischer Juden. Sich das stärker zu vergegenwärtigen, kann auch Aufgabe der historisch-politischen Bildung an deutschen Schulen sein.
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- 16 Sep 2013 - 15:58