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Über Möglichkeiten schulischen Gedenkens an den Holocaust

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Karin Weimann: Sisyphos’ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens. Lichtig-Verlag, 2013.

Von Dr. Martina Emme

Das Buch “Sisyphos’ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens“ von Karin Weimann ist der mit heißem Herzen und klarem Verstand verfasste Bericht über die langjährige schulische Gestaltung des Gedenktages 27. Januar, Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, an der Ruth-Cohn-Schule in Berlin-Charlottenburg.

Die eindrucksvollen Programme belegen die Vielfalt der Angebote für die Arbeitsgemeinschaften am Tag des Gedenkens. Die Lesungen am Vortag des Gedenktages, die unter einem bestimmten Motto stehende Gestaltung des Foyers der Schule und die organisatorischen Vor- und Nachbereitungen dieses für die Schule bedeutsamen Tages werden achtsam dokumentiert. Dieser Teil des Buches unter der Überschrift „Das Bewahren“ dient der ehrenden Erinnerung an die inzwischen Verstorbenen, dem Dank der Jahr und Jahr der Einladung folgenden Gäste und dem Engagement dieses Kollegiums.

Die Gestaltung dieses Tages folgt, so stellt die Autorin fest, bislang einer verbreiteten „Opferidentifikation“ (vgl. Vorwort. S. 15). Das ist an einem solchen Tag einerseits angemessen, andererseits erkennt die Autorin, dass die Auseinandersetzung mit den schuldig Gewordenen (in der Schuld-Definition von Jean Améry, S. 20) in der schulischen Gedenkarbeit bislang nur unzureichend stattfindet. Das ist der schwerere Teil der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Eine solche Auseinandersetzung konfrontiert die Nachkommen mit ihren Familien, denen sie sich in aller Regel durch anhaltende Loyalität verbunden und verpflichtet fühlen.

Die Verfasserin versäumt nicht, die wissenschaftliche und journalistische Kritik an den eingeübten Formen des deutschen Gedenkens zu erwähnen: Vom Nutzen und Sinn des Bewahrens, seinen Entlastungsfunktionen bei gleichzeitigem Fehlen einer persönlich-privaten  Auseinandersetzung mit den Unsrigen.

Im zweiten Teil des Buches folgen in essayistischer Form kritische Ausführungen zur Sprache als „Instrument der Verschleierung“; Betrachtungen über die pädagogische Desavouierung der Moral als Keule schließen sich an. Von besonderem  Interesse ist für eine Rezensentin das Kapitel „Komplementarität“, in dem die Autorin die unüberbrückbaren, existentiellen Gegensätze zwischen den Verfolgten, Deportierten und Überlebenden und die Bezogenheit von Täter/innen und Opfern aufeinander thematisiert.

Im Wissen um die Interdependenz zwischen der Gesellschaft und ihren Subsystemen (hier Schule) werden unter dem Motto „Drinnen ist wie Draußen“ in den Kapiteln „Mit-Gift“ und „Blinde Flecke“ die Auswirkungen kultureller und politischer Ideologien auf Schule dargestellt und problematisiert, die sich als (Ver)Weigerungen mantra-gleich hören lassen.

Die an die Nachkommen weitergegebene Mit-Gift, die diese auf scheinbar entschärfte Weise  reproduzieren, führt die Verfasserin an unsystematisch ausgewählten Beispielen deutscher Mentalitätsbestände vor: Vom „Vater“ der deutschen Soziologie Leopold von Wiese, über Martin Heidegger, Hans-Georg Gadamer, C.G. Jung zu Martin Walser und Karl Heinz Bohrer. Scharfzüngig und mit spürbarem Vergnügen an polemischer Zuspitzung.

Widerstände und Konflikte, die die Verfasserin in ihrer eigenen und einigen anderen Schule erlebt hat, werden dargestellt, problematisiert, Antworten gesucht.

In einem „Plädoyer“ wirbt sie mit drängender Intensität und auf der Grundlage ihres Menschenbildes für die Fortsetzung des schulischen Gedenkens. Es ist nicht vorbei. Nicht für die Überlebenden und ihre Nachkommen. Nicht für uns, die Nachkommen einer schuldig gewordenen Gesellschaft, für die das barbarische Erbe gekommen ist.

Der Anspruch und das Versprechen „Ihr sollt die Wahrheit erben“ beschließen mit den Worten von Jean Améry diesen zweiten Teil des Buches: „Recht und Vorrecht des Menschen ist es, daß er sich nicht einverstanden erklärt mit jedem natürlichen Geschehen, also auch nicht mit dem biologischen Zuwachsen der Zeit… Sittliche Widerstandskraft enthält den Protest, die Revolte gegen das Wirkliche, das nur vernünftig ist, solange es moralisch ist. Der sittliche Mensch fordert Aufhebung der Zeit“ (S. 321). 

Neben einem umfangreichen Literaturverzeichnis sind dem Buch dankenswerterweise biographische Kurzinformationen über die in den Fußnoten Zitierten beigegeben, die für all jene hilfreich sind, die mit der Vielzahl der Namen nicht vertraut sind. Auf den ersten Blick verwundert die unterschiedliche Ausführlichkeit dieser biographischen Angaben; auf den zweiten Blick wird im Zusammenhang mit der Vorbemerkung das Motiv der Verfasserin deutlich: Es geht um kurze Hintergrundinformationen all jener, die sich vor und nach dem zweiten Weltkrieg politisch artikuliert, geforscht und veröffentlicht haben. 

In keinem Kapitel, auf keiner Seite des Buches ist die Verfasserin um „Ausgewogenheit“, geschweige um den Versuch des Verstehens des Tuns und Unterlassens der einstigen Volksgenoss/innen bemüht. Die Frage: „Wie hätte ich mich verhalten?“ führt zu keinem nachdenklichen Innehalten, keinem Selbstzweifel. Für sie ist diese Frage spekulativ-irrelevant; sie dient dem Versuch der Ent-Schuldung der Vorfahren. Wichtig ist für sie die Einsicht: Auch das eigene Versagen, das vermutete, hilft im moralischen Diskurs nicht weiter. Etliche Menschen werden diese Art der Auseinandersetzung mit Müttern und Vätern, Großmüttern und Großväter, Tanten und Onkeln, Nachbarinnen/Nachbarn, der  eigenen wissenschaftlichen Disziplin/Berufszugehörigkeit als bornierte Attacke einer Angehörigen der Nachkriegsgeneration erleben, der die „Gnade der späten Geburt“ unverdient zuteil wurde und sich anmaßt, in unbedrohter Zeit Abrechung zu halten.

Das Buch zeigt aber auch:  Hier denkt, fühlt, schreibt eine, die nicht allein Erfahrungen zum Thema „Erinnern und Gedenken“ in Schulen gewonnen hat, sondern die durch ihre privaten Bindungen an Überlebende und deren Nachkommen verstanden hat. Eine von Zorn, Verzweiflung und Trauer Erfasste, deren existentieller „Held“ Sisyphos ist -  ein zu absurdem Tun Verurteilter, der Steinewälzer, der sein grausames Geschick in eine sinnvolle Lebensaufgabe verwandelt.

Ich habe dieses Buch mit großem Interesse gelesen. Viele der aufgeworfenen Fragen und  offensiven Antworten beschäftigen auch mich seit vielen Jahren. Die Provokationen, die von ihm ausgehen, sind von vielen Menschen nicht leicht nachzuvollziehen, hinzunehmen, geschweige denn zu akzeptieren. Eine Debatte sollte sich anschließen!

Für diejenigen, die mit der dargestellten Gedenkarbeit in der oben genannten Schule und deren umfängliche Dokumentation nichtvertraut sind, ist das Buch auch eine zeitliche Herausforderung, wenngleich das Motiv der Autorin „Das Bewahren“ ehrenwert ist. Bei einer möglichen Neuauflage sollte die Verfasserin dies bedenken. 

Ich wünsche dem Buch Verbreitung, weil es in herausfordernder Art den Finger in eine noch immer blutende Wunde legt.

Zur Autorin der Besprechung: Martina Emme ist Vorstandsmitglied von OnebyOne, International.

 

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