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Einseitigkeiten vermeiden: Kirchliches Handeln im Vorfeld der Friedlichen Revolution

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Von David Käbisch 

Die Rolle der evangelischen Landeskirchen im Vorfeld und Verlauf der Friedlichen Revolution wird heute in den Geschichts- und Religionswissenschaften (einschließlich der ev. Theologie) entweder unter- oder überschätzt. So finden sich zahlreiche Beispiele, die die Kirchen bei der Darstellung der Ereignisse 1989 ganz weglassen (so beispielsweise Beate Ihme-Tuchel), die Leipziger Montagsdemonstrationen ohne die vorausgehenden Friedensgebete beschreiben (so z. B. Hermann Weber) oder die Kirchennähe vieler oppositioneller Gruppen ausblenden (so u. a. Manfred Görtemaker). Der Zusammensturz der zweiten deutschen Diktatur wird hier als ein Zusammenspiel ökonomischer, rechtlicher und sozialer Faktoren interpretiert, darunter die bevorstehende Zahlungsunfähigkeit, der dauerhafte Entzug von Grundrechten und die Magnetwirkung des vermeintlich goldenen Westens. Die Ereignisse erscheinen so als Teil eines Transformationsprozesses, der ausgehend von der Solidarnosc-Bewegung und den politischen Reformbemühungen Michail Gorbatschows auch die DDR erreichte. Einige Kirchenhistoriker und Theologen sprechen demgegenüber programmatisch von der ‚protestantischen Revolution‘, die ‚aus der Kirche kam‘ und ‚vom Gebet zur Demo‘ führte (so bspw. Ehrhart Neubert, Christian Führer und Arnd Brummer). Bei ihnen sind die genannten ökonomischen, rechtlichen, sozialen und politischen Faktoren der Friedlichen Revolution eher Randthemen. Im Ganzen droht damit die Frage nach der Kirche in der DDR „zu einem Reservat der Kirchlichen Zeitgeschichtsschreibung“ ohne Anschluss an die allgemeinhistorische Forschung zu werden (so zutreffend der Leipziger Kirchenhistoriker Klaus Fitschen). 

Einseitigkeiten vermeiden 

Der Geschichts- und Religionsunterricht sollte die beschriebenen Einseitigkeiten vermeiden. Ausgangspunkt kann dabei der Ansatz einer Didaktik des Perspektivenwechsels sein, der sich auf drei Lernziele bezieht: zum Ersten sollten Schülerinnen und Schüler lernen, das Denken, Fühlen und Handeln der damaligen Akteure im Spannungsfeld von Staat und Kirche zu verstehen. Zum zweiten sollten sie lernen, zwischen einer Teilnehmer/innen- und Beobachter/innenperspektive zu unterscheiden und diese Differenz auf die Arbeit mit Zeitzeug/innen und Quellen zu beziehen. Und zum Dritten besteht ein Ziel schulischer Bildungsarbeit darin, dass Schülerinnen und Schüler zu einer mehrperspektivischen Welterschließung befähigt werden, wozu neben ökonomischen, rechtlichen, sozialen und politischen Perspektiven auch theologische gehören können.

Die Dringlichkeit des Themas ergibt sich auch aus den Einseitigkeiten des DDR-Bildes bei vielen ost- und westdeutschen Schülerinnen und Schülern:  Denn die überwiegende Mehrzahl weiß heute wenig über die DDR und hat ‚kaum etwas‘ oder ‚überhaupt nichts‘ von ihr in der Schule gehört. Insbesondere ostdeutsche Jugendliche „loben mit breiter Mehrheit die sozialen Seiten des SED-Staates und gleichzeitig neigt eine beträchtliche Minderheit unter ihnen zur Ausblendung diktatorischer und repressiver Aspekte“ (so Monika Deutz-Schroeder und Klaus Schroeder).

Eine Möglichkeit, sich der Vielschichtigkeit kirchlichen Handelns in der DDR zu nähern, besteht darin, sich mit den Aktivitäten der vielerorts bestehenden kirchennahen Gruppen zu beschäftigen. In Abgrenzung zu einer an großen Vorbildern orientierten Geschichtsdidaktik können Schülerinnen und Schüler an einzelnen Akteuren der Friedlichen Revolution die politische Bedeutung von Religion in (heute unscheinbaren) politischen Konfliktsituationen kennenlernen. Im Mittelpunkt steht damit nicht die verfasste Kirche bzw. die Kirchenleitungen in ihrem Verhältnis zum DDR-Staat, sondern Personen, die keineswegs nur in Leipzig oder Berlin unter dem schützenden Dach der Kirchen agieren konnten. Die folgenden Beispiele beziehen sich in diesem Sinne auf Quellen aus der Region Zwickau, die auf dem Portal www.akteure-friedliche-revolution.de dokumentiert und für Unterrichtszwecke leicht zugänglich sind. 

Die Bedeutung von Religion in einem diktatorischen und repressiven Staat entdecken 

Als ein erstes Beispiel für diese Lerndimension sei der Friedenskreis um den Zwickauer Domküster Jörg Banitz erwähnt. Dieser verteilte kurz vor dem Weihnachtsfest 1983 Kerzen mit Worten aus dem Lukasevangelium („Friede sei mit euch“) auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Polizist löste die „pazifistische Aktion“ auf, und der an der Aktion beteiligte IM „Horst Kolbe“ erhielt für die Aufklärung der „pazifistischen Demonstrationshandlung“ 500 Mark vom MfS. Der Staatssicherheit gelang es später sogar, den IM als Leiter des Friedenskreises zu etablieren, was langfristig zu dem Ergebnis führte, dass dieser sich auflöste und das Problem für den Staat scheinbar gelöst war (zu weiteren Aktionen des kirchennahen Friedenskreises vgl. M 5 auf dem angegebenen Portal). 

Den Unterschied zwischen politischer Struktur und Kultur erkennen 

An Akteuren der Friedlichen Revolution können Jugendliche auch die Diskrepanz zwischen dem idealen und dem real existierenden Sozialismus, d. h. den Unterschied zwischen der politischen Struktur und der tatsächlichen politischen Kultur erkennen. Als Beispiel für den Geschichts- und Religionsunterricht sei eine von dem Zwickauer Kirchenamtsrat Andreas Richter verfasste Erklärung zur Kommunalwahl im Mai 1989 genannt, die auf die damals bestehende Diskrepanz zwischen Wahlrecht und Wahlrealität aufmerksam machte (M 12). 

Die ethische Unterscheidung von Handeln und Verhalten beschreiben 

Eine ethische Handlungssituation zeichnet sich durch frei wählbare Handlungsoptionen aus. Demgegenüber entziehen sich solche Situationen der ethischen Bewertbarkeit, die keine Handlungsalternativen bieten oder eine bestimmte Handlungsoption sanktionieren, was in der DDR beispielsweise beim Nichteintritt in die FDJ der Fall war. Heute herrscht vielfach die Meinung vor, dass sich die Menschen unter den damaligen Bedingungen einer Diktatur nur der politischen Erwartung gemäß verhalten konnten. Ein anderes Beispiel bietet die Rumänienhilfe von Susanne Trauer: Nachdem sie auf einer Urlaubsreise 1988 die katastrophalen Zustände auf einer Säuglingsstation kennengelernt hatte, entschloss sie sich aus freien Stücken zu einer privat organisierten Hilfsaktion, die vom Staat konspirativ verfolgt wurde (M 8). 

Das Denken, Fühlen und Handeln in Dilemmasituationen verstehen 

Die Konflikte zwischen Staat und Kirche in der DDR fanden auf unterschiedlichen Ebenen statt. Die intrapersonale Konfliktebene bezieht sich dabei auf Spannungen zwischen dem Denken, Fühlen und Handeln einer Person z. B. in einer Dilemmasituation, wie sie die soeben erwähnte Susanne Trauer erlebte: Verletzt wurde entweder die politische Norm, sozialistische Bruderstaaten nicht zu kritisieren, oder die religiös begründbare Norm, anderen Menschen in Notsituationen beizustehen. Durch geeignete Aufgabenformate (z. B. kreative Schreibaufgaben) kann der Geschichts- und Religionsunterricht die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, solche Dilemmata zu verstehen. 

Zwischenmenschliche Konflikte bearbeiten 

Eine weitere Konfliktebene ist die interpersonale Ebene, z. B. zwischen Eltern, die sich über die Teilnahme ihres Kindes an der staatlich organisierten Jugendweihe uneinig waren. Im öffentlichen Leben der DDR gab es keine Konfliktkultur, in der solche Meinungsverschiedenheiten zwischen Staat und Kirche bzw. Politik und Religion offen thematisiert und ausgetragen werden konnten. Stattdessen verlagerte sich der Staat stets auf konspirative Maßnahmen, um – wie das Beispiel des Friedensaktivisten Martin Böttger zeigt – Meinungsverschiedenheiten in ihrem Sinn zu entscheiden: Er reihte sich mit einem eigenen Friedensplakat in die offizielle Maiparade ein und wurde dafür konspirativ verfolgt (vgl. dazu den Sachstandsbericht zum OV „Spaten“ unter M 16).  

Innergemeindliche und innerkirchliche Spannungen diskutieren 

Die Konfliktlinien auf innergesellschaftlicher Ebene verliefen keineswegs nur zwischen Vertretern von Staat und Kirche, sondern auch zwischen Mitgliedern einer Gemeinde bzw. Kirche, was vielfach zu innergemeindlichen bzw. innerkirchlichen Spannungen führte. Als ein Beispiel sei dazu die gescheiterte Einladung von Stephan Krawczyk und seiner Frau Freya Klier in einen Jugendtreff der Zwickauer Luthergemeinde am 7. November 1987 erwähnt. Die Einladung, die der Sozialdiakon Frank Kirschneck gegenüber dem mit einem Berufsverbot belegten Liedermacher ausgesprochen hatte, wurde durch den dienstvorgesetzten Pfarrer und Superintendenten kurzfristig abgesagt (dazu M 2). In einem (fiktiven) Streitgespräch können Schülerinnen und Schüler heute lernen, das Denken, Fühlen und Handeln der damals beteiligten Akteure zu verstehen. 

Die Friedliche Revolution im internationalen Kontext verorten 

Die internationale Ebene beschreibt schließlich Aktivitäten der kirchennahen Gruppen im Kontext der Ost-West-Konfrontation. Dieser kann als Machtkonflikt zwischen zwei weltanschaulichen Systemen interpretiert werden. Das bereits erwähnte Beispiel der privaten Rumänienhilfe verweist ebenfalls auf diese Konfliktebene, in diesem Fall aber auf das Verhältnis zu den sozialistischen Bruderstaaten. Aufschlussreich ist dazu der Brief von Denis Dressler und Ulrike Dressel-Backofen an den Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, der im Kontext der bereits beschriebenen Rumänienhilfe von Susanne Trauer stand und unmittelbar an das Ministerium für Staatssicherheit weitergeleitet wurde (zu weiteren Aktionen dieser Familie vgl. M 15). 

Symbole als Medien politischer und religiöser Kommunikation gestalten 

Symbolhandlungen (wie das eingangs beschriebene Verteilen einer Kerze in der Öffentlichkeit) und andere Symbole (wie das bekannte „Schwerter zu Pflugscharen“ nach Mi 4,3) sind Medien politischer und religiöser Kommunikation zugleich. Die kirchennahe Friedens-, Frauen-, Menschenrechts- und Umweltbewegung in der DDR zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie Symbole fand, die beide Deutungshorizonte eröffneten. Neben dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ ist hier u. a. an das Symbol des Königswalder Friedensseminars, das einen „Stahlhelm als Blumentopf“ zeigt, und an das Symbol des Konziliaren Prozesses zu denken, auf dem eine Taube, eine Kette und stilisierte Arche Noah für Fragen des Friedens, der Freiheit und des Umweltschutzes stehen (dazu M 11). Eine Unterrichtseinheit zu diesem Thema sollte dabei nicht bei der Betrachtung historischer Symbole verharren, sondern die Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, eigene Symbole für unsere Zeit zu gestalten. 

Zusammenfassung 

Was können nun Schülerinnen und Schüler aus der Kirchengeschichte lernen? Fest steht, dass das Verhältnis von Glaube und Politik in der DDR nicht eindimensional beschrieben werden kann. Schülerinnen und Schüler im Geschichts- und Religionsunterricht sollten daher am Beispiel konkreter Einzelpersonen zu einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise befähigt werden. Jugendliche können bei der Beschäftigung mit den genannten (und anderen) Akteuren der Friedlichen Revolution insbesondere… 

  • die Bedeutung von Religion in politischen Konflikten erkennen,
  • die mehrdimensionalen Verflechtungen von Politik und Religion nachvollziehen,
  • den Unterschied zwischen politischer Struktur und politischer Kultur beschreiben,
  • die ethische Unterscheidung von Handeln und Verhalten verstehen,
  • die (intrapersonalen, interpersonellen, innergesellschaftlichen und internationalen) Konfliktebenen zwischen Politik und Religion unterscheiden und
  • Symbole als Medien politischer und religiöser Kommunikation begreifen.

 Entsprechende Kopiervorlagen und weitere Materialien für den Geschichts- und Religionsunterricht finden sich in den folgenden Publikationen: 

David Käbisch, Schulische und außerschulische Lernorte zum Thema „Kirche in der DDR“. Ein Unterrichtsversuch in systemischer Perspektive, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 9 (2010), Heft 2, 109-139, als PDF unter www.theo-web.de/zeitschrift/ausgabe-2010-02/11.pdf

David Käbisch/Edmund Käbisch, Akteure der Friedlichen Revolution. Didaktische Impulse und Materialien für den Geschichts-, Ethik- und Religionsunterricht aus der Region Zwickau. Mit einem Geleitwort von Joachim Gauck, Moers 2010, Kopiervorlagen zum Portal www.akteure-friedliche-revolution.de

David Käbisch/Friederike Lepetit, Weihnachten und die Friedensbewegung in der DDR. Schülerinnen und Schüler entdecken die gesellschaftskritische Dimension christlicher Feste und Symbole, in: Religion 5-10, Heft 3/2013.

David Käbisch/Johannes Träger, Schwerter zu Pflugscharen. Impulse für friedensethisches Lernen im Religionsunterricht, Leipzig 2011.

 

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