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„Wir haben immer nach Westen geblickt….“

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Anna Kaminsky ist Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Von Anna Kaminsky

In einem nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 erzählten Witz sagt ein Ostdeutscher zu einem Westdeutschen: „Wir haben immer nach Westen geblickt“. Darauf entgegnet der Westdeutsche: „Wir auch“.

Dies beschreibt anschaulich, wie unterschiedlich sich die langen Jahrzehnte der deutschen Teilung, die nicht erst mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 begann, in beiden deutschen Staaten auf das Leben der Menschen auswirkten. Bereits 1952, neun Jahre vor dem Mauerbau, ließ die SED-Führung die innerdeutsche Grenze abriegeln. Tausende Menschen werden aus dem Sperrgebiet entlang der Grenze über Nacht zwangsausgesiedelt, da sie als „unzuverlässig“ eingestuft werden. Hunderte Familien verlieren über Nacht ihre Heimat und ihr Hab und Gut.

Damit verbleibt als letztes Schlupfloch für eine Flucht in den Westen nur noch Berlin, wo die Sektorengrenzen zum Westteil der Stadt noch offen sind. Bis zum 13. August 1961 fliehen insgesamt 3,5 Millionen Menschen aus der DDR. Ihre Beweggründe die DDR zu verlassen, sind vielfältig. Sie reichen von sehr persönlichen Gründen wie dem Wunsch mit der im Westen lebenden Familie zusammen sein zu können bis hin zu dezidiert politischen Motivationen: Längst ist den Menschen in der DDR klar, dass sie in einer Diktatur leben, in der Willkür und Terrormaßnahmen zur Einschüchterung der Bevölkerung an der Tagesordnung sind. Offene als feindlich eingestufte Meinungsäußerungen, ja selbst das Erzählen von politischen Witzen, kann zu langen Haftstrafen führen. Hinzu kommen vielfältige Schikanen und Einschränkungen bei der Ausbildung und im Berufsleben. Von Presse-, Versammlungs- und Meinungsfreiheit oder freien Wahlen nicht zu reden. Auch haben die Bemühungen der kommunistischen Führung den Lebensstandard zu verbessern, nur wenig Erfolg. Den im Westen erblickten Möglichkeiten der freien Lebensgestaltung in allen Bereichen hat die SED nur wenig entgegenzusetzen. Nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstands vom 17. Juni 1953 ist vielen Menschen klar, dass es demokratische Änderungen nicht oder nur zu einem sehr hohen Preis geben wird. Immer wenn die DDR-Führung die Repressionen gegen bestimmte Gruppen oder Bevölkerungsteile verstärkt, steigen die Flüchtlingszahlen massiv an wie bspw. Ende der 1950er Jahre, als Bauern und der Mittelstand enteignet und Christen bekämpft werden.

Auch nach der Schließung der innerdeutschen Grenze engt die DDR-Führung die bestehenden Reisemöglichkeiten weiter ein. Seit 1957 ist bereits der Versuch strafbar, die DDR unerlaubt zu verlassen. Immer öfter werden die erforderlichen Reisegenehmigungen von den DDR-Behörden nicht ausgestellt, weil an der Rückkehr der Antragsteller gezweifelt wird. Es sind vor allem junge, gut ausgebildete Frauen und Männer, die den Arbeiter-und-Bauernstaat für immer verlassen. Die SED spricht von kriminellen Abwerbestrategien des Westens. Tatsächlich sehen die Flüchtlinge in der Parteidiktatur keine Perspektive. Im ersten Halbjahr 1961 spitzt sich die Situation weiter zu. Trotz vielfältiger Kontrollen, Schikanen und nicht zuletzt drakonischer Strafen gegenüber Fluchtwilligen, versuchen immer mehr Menschen die DDR zu verlassen. Sind es im Juni 1961 noch 600 Menschen pro Tag, steigt diese Zahl im Juli auf über 1000 Flüchtlinge pro Tag an. Während der damalige Staatschef der DDR, Walter Ulbricht, noch am 15. Juni 1961 vor der Weltpresse erklärt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, findet im Hintergrund ein zähes Ringen zwischen Ost-Berlin und Moskau statt. Schließlich kann sich Ulbricht mit seiner Forderung durchsetzen, das West-Berlin-Problem ein für alle Mal zu lösen. Am 13. August 1961 wird in Berlin die Mauer gebaut. Sie wird mit ihren 160 Kilometern Länge, ihrem tief gestaffelten Überwachungssystem, mit Hunderten Wachtürmen, Stacheldrahtzäunen und Tausenden unübersteigbaren 3,20 Meter hohen Betonelementen mehr als 28 lange Jahre stehen; Familien und Freundschaften zerreißen, Leben zerstören. Mit dem Mauerbau werden Millionen Menschen in der DDR quasi über Nacht zu Gefangenen im eigenen Land gemacht. 

Kaum jemand kann sich im August 1961 vorstellen, dass das Ost-Berliner Regime tatsächlich plant, die einstige deutsche Hauptstadt mit einer unüberwindlichen Grenze dauerhaft zu teilen. Bis 1989 verlieren mindestens 126 Menschen bei Fluchtversuchen ihr Leben. Noch im Februar 1989 findet der erst 20-jährige Chris Gueffroy als letztes Opfer dieser unmenschlichen Grenze den Tod. Zehntausende werden bei der Vorbereitung zur Flucht bereits im Vorfeld verhaftet und inhaftiert. Tausende Flüchtlinge, die es bis in die Nähe der hermetisch abgeriegelten Grenze schaffen, werden bei Fluchtversuchen angeschossen und kommen schwer verletzt in die Gefängnisse, wo sie ihre Versuche, dem Leben in der DDR zu entkommen, mit langen Haftstrafen abbüßen müssen. 

Für Millionen Menschen in der DDR bestimmen Mauer und Grenze das Leben ganz elementar: Fluchtversuche sind lebensgefährlich und bereits Fluchtgedanken oder -pläne werden hart bestraft. Viele Familien, die durch Mauer und Grenze getrennt sind, können sich bis zum Mauerfall nur sehen, wenn den im Westen lebenden Angehörigen die Einreise in die DDR durch die DDR-Behörden erlaubt wird. Eine Reise aus der DDR in den Westen ist über lange Jahre nicht möglich. Erst in den späten siebziger und achtziger Jahren beginnt die DDR hier Zugeständnisse zu machen. Selbst bei Krankheiten oder Todesfällen oder zu freudigen Anlässen wie Hochzeiten oder Geburtstagen gestattet die DDR ihren Bürgerinnen und Bürgern nur selten, in den Westen zu reisen. Zu groß ist die Angst, die Menschen könnten die Chance zur Flucht nutzen. Wenn ein Familienmitglied reisen darf, wird streng darauf geachtet, dass Ehepartner oder Kinder als Geiseln in der DDR zurückbleiben.

Während der Westen für viele Menschen in der DDR während der langen Jahre der Teilung ein Sehnsuchtsort bleibt und mit dem Leben im Westen persönliche und politische Freiheit verbunden wird, gerät für viele Menschen im Westen das Schicksal der Deutschen hinter der Mauer aus dem Blick. Das Leben geht im Westen trotz der Mauer sehr gut weiter. Wer keine Familienangehörigen in der DDR hat, weiß oft nichts mehr von den für viele bedrückenden Erfahrungen, die das Leben hinter der Mauer bestimmen. Man orientiert sich nach Westen: Hier versperren keine unüberwindliche Grenze, keine Angst einflößenden Grenzbeamten, keine kleinen und großen Schikanen bei Reisen den Weg in die Welt. Paris, London, die Toskana – Reisen in alle Weltgegenden werden für die Bürger in der alten Bundesrepublik normal. Für die Lebenswelt hinter der Mauer schwindet das Interesse je länger die Teilung anhält, Noch im Frühsommer 1989 sind über 90% der Menschen im Westen überzeugt davon, dass sie den Fall der Mauer nicht mehr erleben werden. Glücklicherweise haben sie sich ebenso getäuscht wie Erich Honecker, der ebenfalls im Sommer 1989 noch behauptete, die Mauer werde auch in 50 oder 100 Jahren noch stehen.

 

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