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„du bist anders?“ - Eine Online-Ausstellung über Jugendliche in der Zeit des Nationalsozialismus

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Constanze Jaiser ist Projektleiterin von „du bist anders?“ und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas.

von Constanze Jaiser

Die neue Jugendwebseite der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden porträtiert Jugendliche und Kinder, die aus ganz unterschiedlichen Verfolgungsgründen von den Nationalsozialisten als „anders“ aus einer rassistisch definierten und ideologisch aufgeladenen Volksgemeinschaft ausgegrenzt wurden. Die Mehrzahl der 30 vorgestellten Jugendlichen waren bei Kriegsbeginn zwischen 9 und 19 Jahren. Etwa die Hälfte hat überlebt.

Neben den rassistischen Verfolgungsgründen (ein Drittel der Porträtierten sind Jungen und Mädchen jüdischer Herkunft, vier gehören zur Minderheit der Sinti und Roma), findet man auf der Seite eine Vielzahl, sich zum Teil überschneidende Stigmata und Opferkategorien. Jugendliche wurden als „politisch“, als Zeugin Jehova, als homosexuell, als „asozial“, wegen des Vorwurfs der „Rassenschande“, wegen dunkler Hautfarbe, Muttersprache oder der Zugehörigkeit zu Jugendcliquen, durch die NS-Militärjustiz, im Rahmen der Leningrader Hungerblockade oder als sowjetischer Kriegsgefangener verfolgt. 

Akteure mit vielen Eigenschaften

Zwar lassen sich, zum Beispiel über die Rubrik „Themen“, die unterschiedlichen Verfolgungsmerkmale recherchieren. Aber die Biografien selbst werden nicht in ihren nationalsozialistischen Verfolgungskategorien dargestellt. Sie werden auch nicht von ihrem Ende her erzählt. Im Vordergrund stehen Jugendliche und Kinder, die, ähnlich wie heutige Jugendliche auch, Träume, Ängste, Überzeugungen hatten. Die erst zu „anderen“ gemacht wurden. Und sich trotz allem, immer wieder neu, selbst zu behaupten versuchten.

Charakterisiert wird jeder Jugendliche über fünf eigens für ihn gestaltete Symbolbilder und über Einstiegssätze, die man auf der als Sternengalaxie gestalteten Startseite entdecken kann; beides sind zeitlose oder auch Brücken bildende assoziative Zugänge in die geschichtliche Ebene. Erzählt werden im Weiteren fünf Episoden, die atmosphärisch verdichtet, über einen filmischen Erzählstil Einblick in die damalige jugendliche Lebenswelt bieten. Die rechte Spalte lädt über Kurztitel dazu ein, sich selbsttätig weiter auf Spurensuche zu begeben. Wie bei einem Archivbesuch können Hintergründe und spannende Dokumente entdeckt werden; eine fiktive, begleitende Erzählstimme bietet Überlegungen zu Fragen, die sich aus den Haupttexten ergeben. Eine herausragende Rolle spielen die zahlreich vorhandenen Selbstzeugnisse sowie der Blick auf unterschiedlichste Formen der Selbstbehauptung. Die Jugendlichen werden so weit wie möglich als Akteure präsentiert.

Virtuelles Erinnerungsarchiv zum Mitmachen

Die Ausstellung ist erweiterbar mit dem Ziel, ein virtuelles Erinnerungsarchiv zu initiieren und zu kreieren: ein biografisches Archiv und ein gemeinsam mit den Nutzer/innen gestalteter Erinnerungsort – perspektivisch ein mehrsprachiger virtueller Knotenpunkt, mit dem sich andere Institutionen und Initiativen vernetzen können.

Verschiedene Zusatzfunktionen wie Europakarte, Zeitleiste und ein Schlagwortregister ermöglichen gezielte Suchen und Quereinstiege. Über sie entsteht auch ein Netz von Vielstimmigkeit, bei der sich die Erfahrungen Jugendlicher respektive die Texte über sie gegenseitig erhellen. So erhält man zum Beispiel in der Themen-Wolke bei Klick auf das Schlagwort „Kriegsbeginn“ unterschiedliche Titel und Einstiegssätze, die bereits auf sehr unterschiedliche Erfahrungen und Handlungsspielräume bei Kriegsbeginn weisen: „Hanno verteilte Zettel mit Anti-Kriegs-Parolen; „Sophie konnte nicht verstehen, warum Fritz freiwillig in den Krieg zog“; „Rita saß auf einem Sofa im Freien, als Bomben auf die Stadt fielen“; „Abraham weigerte sich, seine Mütze abzunehmen und diesen Typen auch noch Respekt zu zollen“. Die dahinter liegenden Texte verdeutlichen vor allem, wie vielstimmig die Erfahrung von Krieg ausfällt.

Parallel werden in einem Mitmach-Bereich Räume geschaffen, die persönliche Auseinandersetzung mit dem Erfahrenen ermöglichen und sichtbar machen, die sensibilisieren für das Funktionieren von Erinnerung. Nutzerinnen und Nutzer werden aufgefordert, mit eigenen visuellen oder auditiven Kommentaren zu den Lebensgeschichten der präsentierten Jugendlichen zu zeigen, was sie denken. Sie können ihre Form von Gedenken entwickeln, aber ebenso ihre eigenen Erfahrungen und Gedanken zum Thema »Anderssein« integrieren oder gegenwärtige Auseinandersetzung mit menschenrechtlichem Engagement thematisieren.

Für den schulischen Kontext haben sie die Möglichkeit, mit einem Texteditor eigene Referate zu entwerfen; hierfür können sie alle Dokumente auf den Seiten sammeln, die dann im eigenen Profil zur Verfügung stehen. Und schließlich werden auch Vorhaben unterstützt und begleitet, selbst eine Biografie für die Jugendwebseite zu erarbeiten.

Das Zusammenspiel von Form und Inhalt

Erstmalig in einer Ausstellung werden so viele unterschiedliche Opfergruppen unter einem Dach präsentiert. Dieses gemeinsame Dach zu finden, war angesichts der verschiedenen Verfolgungskontexte und der europäischen Dimension eine der großen Herausforderungen. Die Fülle und Vielfalt wurde reduziert durch streng aus der biografischen Perspektive entwickelte Fragestellungen. Die historisch sorgfältig rekonstruierten Umstände kamen also nur insoweit zur Sprache, wie sie Relevanz für das persönliche Schicksal hatten, verteilt auch auf verschiedene Ebenen (Zusatzdokumentenebene, Zeitleiste, Europakarte, „Gute Frage“) und über die Verlinkung mosaikartig verknüpft. Schon zu einem frühen Zeitpunkt arbeiteten wir mit einer Webdesignerin und Künstlerin zusammen, die mehrere Entwurfsstadien hin zu einem pädagogisch angemessenen und ästhetisch ansprechenden Format mit uns durchlief. Aus der interdisziplinären Zusammenarbeit entwickelten sich die bildlichen (Symbolbilder) und erzählerischen Mittel (Einstiegssätze, filmische Erzählschnitte), mit denen unterschiedliche – emotionale, kognitive, regionale, persönliche – Bezüge zur Vergangenheit hergestellt werden können und so ein Gespräch über Erinnerung stattfinden kann, das heutige Jugendliche einbezieht. 

Die paradoxe Sprache der Erinnerung

Die Zukunft der Erinnerung liegt, so die in diesem Konzept zum Ausdruck kommende Annahme, nicht in vereinfachten Erzählungen, im Aufreihen biografischer Daten oder emsig betriebener, oft genug moralisch aufgeladener Aufklärung. Sie liegt im Bewahren einer Sprache (vgl. Geoffrey Hartman, Der längste Schatten, 1999). Diese Sprache ist eine weitgehend literarische und künstlerische, die erlaubt, sich mit Hilfe der ästhetischen Einbildungskraft über Episoden und Details eine Vorstellung vom Holocaust zu machen. Um mit Hartman an ein Bild des Dichters Paul Celan zu erinnern: Sie will nicht in die Finsternis einbrechen, um sie zu tilgen: Sie offenbart die Finsternis. Sie eignet sich deshalb, weil sie gleichzeitig immer auch ästhetische Distanz zum Erzählten herstellt – eine notwendige Distanz, die dann der Reflexion verfügbar gemacht werden kann. Diese Form der Vergegenwärtigung hält Ambivalenzen und Unbestimmtheiten aus, ebenso wie eine aktive, kreative, gegenwartsbezogene Teilhabe. 

Anmerkung

Zum Ausstellungteam gehörten neben mir als Projektleiterin Julia Radtke, Nadja Grintzewitsch und Christin Franke, aber auch die Programmierer Uwe Seemann und Daniel Hübner.

 

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