Kerstin Bichl

Es gehört zu den weniger bekannten Facetten des Zweiten Weltkriegs, dass in der Roten Armee Kindersoldaten in großer Zahl eingesetzt wurden. Mit dem Buch von Olga Kucherenko liegt nun die erste Monographie vor, die sich für die Geschichte dieser 60.000 bis 300.000 sowjetischen Kinder und Jugendlichen interessiert. Im Gegensatz zu gängigen Annahmen über Kindersoldaten stellt sie die These auf, dass die meisten von ihnen „bewusst entschieden zu kämpfen.“ Die Gründe hierfür seien in Loyalität, Patriotismus und Selbstaufopferung im Kontext der Kriegsverwerfungen zu finden (S.5). In ihrem Buch will Kucherenko die ideologischen, sozialen und ökonomischen Kontexte rekonstruieren, die den Einsatz von Kindern ermöglichten. Denn ihrer Ansicht nach waren die „actions of individual children […] influenced as much by Soviet ideology and shared values as by the idiosyncrasies of adolescence and the reality of warfare.“ (S.8)

Kucherenkos Monographie ist in zwei große Teile gegliedert. Im ersten Abschnitt analysiert sie die sowjetische Gesellschaft und staatliche Maßnahmen ab 1928, der zweite ist dem konkreten Kriegseinsatz Minderjähriger gewidmet. Auch wenn diese Gliederung Kucherenkos These angemessen ist, so bedeutet sie doch eine Enttäuschung für all diejenigen, die sich eine stärkere Fokussierung auf das eigentliche Thema, die „little soldiers“, gewünscht hätten: Denn im umfangreichen ersten Teil beschreibt Kucherenko mit Schlagwörtern wie „Soviet social identy“, „socialist motherland“ und „militarised socialism“ (Mark von Hagen) vor allem die großen Linien der stalinistischen Gesellschaft mit starken Anleihen bei der bisherigen Forschung. Im ersten Kapitel kann sie zwar deutlich machen, dass sich der sowjetische Impetus, utilitaristisch einen neuen Menschen zu schaffen, insbesondere an Jugendliche und Kinder richtete. Denn diese galten als tabula rasa und waren in der Schule, den Jugendorganisationen, den Unterhaltungskünsten, der Propaganda sowie über ihre peer groups einer verstärkten Indoktrination ausgesetzt, die sie auf den sowjetischen Staat einschwören sollte. In den folgenden Kapiteln des ersten Teils bleibt Kucherenko jedoch oft im Allgemeinen stecken, wenn sie ausführt, wie dieser Prozess in den späten 1930er-Jahren eine nationale Note bekam und die Kinder und Jugendlichen über paramilitärische Übungen auf den bevorstehenden bewaffneten Konflikt vorbereitet wurden. Insgesamt kommt Kucherenko in diesem Teil zu dem bereits bekannten Ergebnis, dass militärisches Leben und Uniformen für die Minderjährigen durchaus attraktiv gewesen seien, da sie die staatlichen Identifikationsangebote mit dem von ihnen geforderten Patriotismus angenommen hätten.

Im zweiten Teil, der den Fronteinsatz der Minderjährigen thematisiert, wird Olga Kucherenko konkreter. Hier greift sie vielfach auf eigene Interviews mit ehemaligen Kindersoldaten oder auf Biographien und Erinnerungen zurück, die im „Museum der jugendlichen Verteidiger der Heimat“ in Kursk archiviert sind. Kucherenko beginnt mit einer Analyse der offiziellen Kriegspropaganda und Mobilisierungsaufrufe: Kinder, so deren Botschaft, sollten die Armee an der „Heimatfront“ unterstützen. Zudem wurden romantische Geschichten vom Krieg, den Heldentaten der Roten Armee sowie von jugendlichen Märtyrern erzählt. Mit Bezug auf die Berichte der ehemaligen Kindersoldaten konstatiert Kucherenko den ambivalenten Erfolg der Propagandamaßnahmen: So hätten die Darstellungen des Krieges die Jugendlichen fasziniert und bei vielen den Wunsch genährt, an den Kampfhandlungen teilzuhaben. Insbesondere die Bilder vom jugendlichen Märtyrer hätten dazu geführt, dass sich viele Jugendliche an die Front „flüchteten“, als sie aufgrund des raschen Vormarschs der Wehrmacht von Evakuierung, Hunger und Familienverlust bedroht waren. Dort angekommen ließen sie sich als so genannte „wospitanniki“ (deutsch: zu Erziehende) adoptieren und nahmen Aufgaben bei der Nachrichtenübermittelung, der medizinischen Betreuung oder der Aufklärung wahr. Die erwachsenen Soldaten, so zitiert Kucherenko die ehemaligen Kindersoldaten, ohne ihre Berichte in Frage zu stellen, seien ihnen zumeist voller Verantwortungsgefühl und Wärme begegnet und hätten versucht, sie aus den Gefechten herauszuhalten. Auch seien junge Mädchen keinen sexuellen Belästigungen ausgesetzt gewesen, wie sie für erwachsene Frauen an der Front so oft bezeugt sind.

Leider kann das Kapitel über sowjetische Kinder und Jugendliche unter deutscher Besatzung nicht mit ähnlich detaillierten Beschreibungen aufwarten. Kucherenko berichtet hier vor allem von deren Leid und dem oftmals sehr brutalen Verhalten der deutschen Besatzer. Das Erleben derjenigen Jugendlichen, die sich den Partisanen anschlossen, wird jedoch nur unzureichend analysiert. So zitiert Kucherenko einzelne Stimmen und verweist auf verschiedene Aspekte, zum Beispiel darauf, dass Jungen in der Nachrichtenübermittlung und Aufklärung, Mädchen aber in (von Kucherenko nicht weiter ausgeführten) „domestic roles“ eingesetzt wurden (S.210); sie bleibt aber eine quantifizierende Einordnung der geschilderten Phänomene schuldig ebenso wie Überlegungen zu der Frage, wie repräsentativ die zitierten Passagen sind. Auch im letzten Kapitel, das die 1942 wieder eingeführte Position des „junga“, des Schiffsjungen, thematisiert, fehlen solcherlei Einordnungen. Kucherenkos Ausführungen darüber, wie diese Jugendlichen nach einer acht- bis zehnmonatigen Ausbildung unter anderem auf den Solowezki-Inseln auf Kriegsschiffen dienten und in ihren Quellen von den hohen Ansprüchen an sich berichten, sind zwar spannend zu lesen; aufgrund der fehlenden Einordnungen sind ihre Schlussfolgerungen aber nicht überzeugend. So konstatiert sie zum Beispiel, ohne es genauer zu belegen, dass Regierung und Marine über die Institution des „junga“ den Wünschen der patriotischen Jugendlichen gerecht werden und sie gleichzeitig so lange wie möglich aus den Gefechten heraushalten wollten. Zudem hätte die „Ausbildung die Kinder von der Straße geholt und sie vor Hunger, Landstreicherei und Delinquenz gerettet.“ (S.244)

Auch wenn Olga Kucherenko viele interessante Informationen und Geschichten von und über sowjetische Kindersoldaten im Großen Vaterländischen Krieg zusammenträgt, bleibt ihr Buch doch vielfach unbefriedigend. Insbesondere der umfangreiche erste Teil verharrt zu sehr bei weithin bekannten Strukturen der Vorkriegs-Sowjetunion. Hier zeichnet Kucherenko ein sehr allgemeines und homogenes Bild der stalinistischen Gesellschaft und ihrer patriotisch erzogenen Jugendlichen, in dem es nur wenige Differenzen aufgrund von städtischer oder ländlicher Herkunft, imperialer Geographie oder Geschlecht gibt. Schwerer wiegt indes, dass die Perspektive der sowjetischen Jugendlichen auf die pädagogischen Maßnahmen des Vorkriegsstalinismus in ihrer Untersuchung zu kurz kommt. Dies mag einem Mangel an Quellen geschuldet sein, hätte aber stärker problematisiert werden müssen. So erweckt Kucherenko den Eindruck, dass sie eine eigen-sinnige Aneignung (Alf Lüdtke) der sowjetischen Inhalte durch die Jugendlichen wie selbstverständlich ausschließt. Die psychologischen Arbeiten zu anderen Kontexten entnommene These, dass Jugendliche grundsätzlich mehr auf Propaganda reagierten als Erwachsene (S.10), hätte stärker hinterfragt werden müssen.

Erst im zweiten Teil schafft es Kucherenko, detaillierte Geschichten über die minderjährigen Mitglieder der Roten Armee zu erzählen. Sie kann durchaus plausibel machen, dass die sowjetischen Behörden nicht auf das Phänomen der freiwilligen Kindersoldaten vorbereitet waren und von den Konsequenzen der eigenen Propaganda überrascht wurden. Auch dass Jugendliche einen besonderen Status in der Armee hatten, ist nachvollziehbar. Allerdings wäre gerade hier ein kritischerer Umgang mit den verwendeten Quellen wünschenswert gewesen. Denn das harmonische Bild, das Kucherenko von der Roten Armee zeichnet, ist fragwürdig. Es besteht die Möglichkeit, dass es vor allem einer russisch-sowjetischen Erinnerungskultur geschuldet ist, die die Gewaltverhältnisse innerhalb der Roten Armee tabuisiert und allzu oft heroische Narrative vom Krieg produziert. In ihrer Einleitung verweist Kucherenko zwar auf diese Problematiken, sie versäumt es aber, einen Umgang mit den Quellen zu finden, der über das bloße Wiedergeben hinausgeht. All die genannten Auslassungen sind umso bedauerlicher, als die Monographie von Olga Kucherenko tatsächlich die einzige zu diesem bislang wenig erforschten Thema ist.

Zweitveröffentlichung einer Rezension auf H-Soz-Kult.

 

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