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Kindersoldaten

Die kurzgefasste Geschichte des Hitlerjungen Wilhelm Hübner (Jg. 1928)

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Margarete Dörr ist seit ihrer Pensionierung als freie Historikerin tätig. Sie hat zudem als Lehrbeauftragte für Geschichtsdidaktikerin gearbeitet und hat an einem Gymnasium unterrichtet.
Von Margarete Dörr 

Die letzten bekannten Filmaufnahmen von Hitler zeigen einen gebückten Greis mit hochgeschlagenem Mantelkragen, der vor der Reichskanzlei kleine Hitlerjungen mit dem Eisernen Kreuz dekorierte und ihnen die Wangen tätschelte. Der jüngste von ihnen war 12 Jahre alt. Am 19. März empfing Hitler in seinem Hauptquartier 20 Hitlerjungen im Alter von 15 bis 17 Jahren, die an Nahkämpfen um Pommern und Schlesien teilgenommen hatten, um sie ebenfalls auszuzeichnen. Einer von ihnen war der knapp siebzehnjährige Wilhelm Hübner. Seine Geschichte konnte ich ausfindig machen. Sie sei in seinen eigenen Worten kurz skizziert:

„Ab dem zehnten Lebensjahr mussten wir ja zum Jungvolk, im Volksmund Pimpfe, und da ging das Exerzieren los, zuerst mal marschieren, und später dann wurde es interessant, wie dann die Zeltlager und die Geländespiele und die Sachen losgingen. Ich wurde dann als Hitlerjunge Volkssturmsoldat (er betont, dass er sich nicht als Kindersoldat fühlte) bei der Rückeroberung meiner Heimatstadt Lauban (heute polnisch Luban)als Melder eingesetzt. Die Uniform hab ich mir in der Kaserne selber besorgt, ich musste ja wie ein Soldat aussehen, und da war in der Kaserne selber eine Zeugkammer, da habe ich mir Klamotten rausgesucht, die kleinsten, die da drin waren, die waren für mich immer noch zu groß. Man sieht es ja auf verschiedenen Bildern noch, wie die Schultern runterhängen, und der Gedanke ist tatsächlich dagewesen, wenn ich mir vorgestellt habe, was werden jetzt deine Verwandten sagen, wenn es heißt, der Wilhelm ist in Lauban für uns gefallen. Dort gab es 1945 härteste Kämpfe, 50 % der ganzen Stadt wurden zerstört. Es war der SS gelungen, die Russen um zehn Kilometer zurückzuschlagen und die Stadt zu befreien. Die feindlichen Linien lagen im Stadtzentrum nur 200 Meter auseinander. Es wurde fast Auge in Auge gekämpft, Haus um Haus wurde gekämpft. Im Ganzen wurden 48 russische Panzer zerstört, das ist schon viel für eine kleine Stadt. Und was dabei an Häusern usw. kaputtgegangen ist und an Menschen, das kann man sich vorstellen.

Ich habe ja unter anderem auch bei Nacht und Nebel durch das Gelände Meldungen gebracht, und weil ich eben das Gelände so gekannt hab, ist mir das Gott sei Dank verhältnismäßig leicht gefallen. Genau dahinter ist das Wäldchen, wo wir als Kinder gespielt haben. Es war das ideale Kinderspielgelände. Wir haben Krieg gespielt und abends haben wir uns Geschichten erzählt, wie es sein könnte, wenn da Waffen rumliegen usw.

Und 1945 ist es grausame Wahrheit gewesen.  Da war das hier ein furchtbares Kampfgebiet. Der Meldestab mit dem Kommandeur war im Keller der Pestalozzi-Schule einquartiert. Und da wurden nachher Feldbetten aufgestellt. Und wenn da Alarm war und ich eine Meldung wegbringen musste, musste ich mir  ´nen guten Weg aussuchen, und dann musste ich wissen, wo momentan die Front verläuft, und bei solchen Straßenschlachten, wie es damals hier war, da wusste ja von einer Stunde zur anderen niemand mehr, in welchen Häuserblocks wer drin ist, die eigenen Leute oder der Gegner, und ich bin direkt am Kartentisch, ich kleiner Kerl damals, bin ich dabei gewesen. Ohne Glück kommt man in solchen Situationen nicht aus. Es hätte mir nichts geholfen in der Nacht, wenn ich mich auch auskannte in der Gegend, wenn ´ne Granate genau bei mir eingeschlagen wäre. Ich habe auch insofern Glück gehabt: Maschinengewehrgarben von durchgebrochenen Panzern sind einen Meter über meinem Kopf in den Zaun reingerast, das war Glück. Auf dem Schulhof sind vier oder fünf Stalinorgel-Granaten eingeschlagen. Ich war mitten in dem Feuerzauber dringelegen – kein Kratzer. Ich weiß, dass auf unserer Seite ein Schnapsladen war. Da hab ich mir ´ne Flasche Eierlikör geholt oder Kakao mit Nuss, glaub ich, war es, und dann hab ich mich mit meiner Flinte hinter einer Mauer versteckt und hab mich erst mal vollaufen lassen, wie man so schön sagt, und dann ab und zu einen Schuss rausgegeben und wieder hinter der Mauer versteckt. Ich war immer einer der Kleinsten, und vielleicht hat das was mit ausgemacht, dass die Kugeln alle über mich drübergegangen sind. Da waren die alten Soldaten, die die ganzen Feldzüge mitgemacht haben und in meinem Übereifer haben sie mich halt mal ´n bisschen gebremst und haben gesagt: ´Bubi`, so haben sie mich damals genannt, ´Bubi halt dich zurück., viel können wir nicht mehr machen, wir müssen bloß schauen, dass die restlichen Frauen und Kinder, die noch unterwegs sind als Flüchtlinge, dass die noch in Sicherheit kommen.`

Am Schluss der Kämpfe, bevor ich zur Hitlerjugend zurückgeholt worden bin, habe ich von dem Kampfkommandanten im Hof der Pestalozzischule in Lauban vor angetretener Melderkompanie das Eiserne Kreuz angeheftet gekriegt, habe die Front abgeschritten.“

Der kurzfristige Geländegewinn von 10 Kilometern wurde von Goebbels in der Wochenschau groß gebracht. Dann kam die Einladung nach Berlin zum Jugendführer Axmann. Sie waren eine Woche im Gästehaus am Gatowsee und wurden verwöhnt und beschenkt (Füllhalter mit Goldfeder und eine Mundharmonika  für Wilhelm. Das Foto, das er sich gewünscht hatte, sollte er nach dem Endsieg bekommen). Und dann schildert er den Empfang bei Hitler in der Reichskanzlei: „Da war an der Rückseite ein Hof. Hitler ist gekommen, hat jeden der 20 begrüßt, jeder hat Meldung gemacht und sagen müssen, wo er war im Einsatz. Nach meiner Meldung hat er mir so die Wange gestreichelt und hat so ungefähr gesagt, ich kann es jetzt nicht mehr genau wiederholen: ´Brav, mein Junge,` Er hat ´ne kurze Ansprache gehalten und ist wieder gegangen mit seinem Schäferhund, seinem Stab. Und wir sind wieder ins Gästehaus. Natürlich waren wir alle furchtbar aufgeregt – ich meine, als Hitlerjunge mal dem Führer gegenüberstehen und die Hand geben, das war einfach das höchste, was es überhaupt gegeben hat in der damaligen Zeit, und momentan vor Aufregung hat man da gar nichts denken können. Nur im Nachhinein, viel später dann, habe ich im Innern so ungefähr denken müssen, unser Adolf ist ein alter Mann geworden, man hat gesehen, dass er ein gebrochener Mann war.“

Nach der Rückkehr haben sie dann noch für längere Zeit in Lauban Brücken bewacht. Dann kam der 7. Mai, uns wurde gesagt: Alles zurück – aus. Ich bin dann noch zum Kampfkommandanten, wollte mit ihm mitmarschieren mit seinen Soldaten. Hat er gesagt: „Nein Bubi, ich kann dich jetzt nicht mehr mitnehmen, jetzt ist es aus...´“ 

Was lehrt uns diese Geschichte?

Wilhelm Hübner ist einer der Tausenden von Kindersoldaten, die als „Blutreserven“ am Ende des Krieges von der Staatsführung noch skrupellos ins Feuer geworfen wurden, um in völlig aussichtsloser Lage den eigenen Untergang um ein paar Tage hinauszuzögern. Wir kennen die genauen Zahlen der eingesetzten und getöteten Kinder nicht. Mit Sicherheit waren es mehrere Tausend. Und mit Sicherheit hat in der Geschichte kein anderes Regime so skrupellos seine eigenen Kinder geopfert.

Diese Kinder waren von Anbeginn ihres bewussten Lebens einer so massiven Indoktrination unterworfen, in der Schule, in der Hitlerjugend, im öffentlichen Leben, dass sie die nationalsozialistische Ideologie völlig verinnerlicht hatten und nicht der geringste Zweifel aufkommen konnte, wenn nicht von Elternhaus und/oder der Kirche starke Gegenimpulse kamen. Das war sehr selten der Fall. Wilhelm Hübner berichtet nur sehr wenig über seine Familie. Sie lebten sehr einfach, der Vater war sehr streng und hatte kein Verständnis für seine drei Kinder. Die Mutter war der ruhende Pol, aber wohl ohne politischen Einfluss. Wilhelm wird völlig von der Hitlerjugend vereinnahmt, macht auch gerne mit. wie die allermeisten und freut sich beinahe, als aus den Kriegsspielen Ernst wird. Fast alle für die Jungen damals attraktiven Aktivitäten waren auf „Wehrertüchtigung“ ausgerichtet. Sehr viele konnten gar nicht erwarten, an die Front zu kommen. Er bewährt sich, fühlt sich ernst genommen unter den Soldaten (trotz des ´Bubi`). Selbst die Vorstellung vom „Heldentod“ hatte etwas makaber Faszinierendes. Aber natürlich hat er Angst, trinkt sich Mut an (mit Likör!). Und er kommt nur mit großem Glück heil davon, das betont er stark. Fast alle, die überlebten, hatten einfach Glück.

Für diese Kinder war es das Höchste, militärisch ausgezeichnet zu werden und dem „Führer“ persönlich zu begegnen; sie zweifelten selbst jetzt noch nicht am „Endsieg“, obwohl die ganze Szenerie im Hof der Reichskanzlei etwas Gespenstisches hatte. Erstaunlich, wie die Fassade noch bis zum Ende aufrechterhalten wurde. Erst im Nachhinein kommt Wilhelm zum Bewusstsein, dass er einem „gebrochenen Mann“ gegenübergestanden hat. Wann ist ihm aufgegangen, wer dieser Hitler wirklich war? 

Was ist aus Wilhelm Hübner geworden? Er ist auf vielen Umwegen und einer sehr schwierigen beruflichen Laufbahn schließlich in Bayern gelandet und ein sehr tüchtiger Motorenschlosser geworden.

Wie denkt er heute über diese ganze Geschichte? Eine Beurteilung seiner damaligen Gefühle will er gar nicht versuchen. Das Bild von seinem Empfang in der Reichskanzlei und andere Bilder und Andenken hat er aufbewahrt: „Das sind meine persönlichen Erinnerungen. Die Geschichte ist für mich abgeschlossen.“ Aber er fügt hinzu:

„Ja, über folgendes bin ich sehr froh, dass ich während der vier Wochen Straßenkampf, wo ich als Melder in Lauban gewesen bin, dass ich nicht sagen kann, oder zumindest mit Sicherheit sagen kann, dass ich irgendjemand tödlich getroffen habe. Und das Eiserne Kreuz, das habe ich eigentlich, wie mir nachträglich dann gesagt wurde, dafür gekriegt, dass ich eben Meldegänge gemacht habe unter feindlichem  Beschuss, die ich durchgebracht  habe zu meinem Glück.“ Und er beendet seine Ausführungen mit den Worten: „Alles, was ich bis jetzt ausgesagt habe, lässt das ja anklingen, das ist für mich so selbstverständlich, dass ich das gar nicht mehr erwähnen brauche, dass ich sage, es darf keinen Krieg mehr geben, es darf keinen Krieg mehr geben.“ Und es ist ihm heute wichtig hinzuzufügen: „Von den Verbrechen der Nationalsozialisten habe ich erst in der Nachkriegzeit erfahren.“ Auch darin ist er repräsentativ.

Wilhelm Hübner ist ehrlich und glaubwürdig. Er hat selbst bewiesen, dass er nicht noch einmal „Soldat“ werden  und sich vereinnahmen lassen wollte. In seiner fast ausweglosen Ausbildungssituation und noch während seines Aufenthalts in der DDR hat er sich zur Volkspolizei gemeldet, er wollte Polizeidienst machen: „Und dann haben wir in die Kaserne müssen und haben uns auf zwei Jahre verpflichten müssen. Und da ist der alte Barras-Schliff wieder losgegangen, da habe ich gemeutert. Dann hat man mich entlassen.“

Die ausführlichere Geschichte ist nachzulesen in der Dokumentation von Margarete Dörr: „´Der Krieg hat uns geprägt.` Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten“, Frankfurt/New York 2007. Dort finden sich auch alle Nachweise.

 

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