Nachbarschaft (k)ein Thema?
Von Saskia Handro
Heiß debattiert werden gegenwärtig Nachbarschaftsfragen im großen "Haus Europa" oder gar im "global village" als Fragen nach Regeln und Formen des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Miteinanders. Doch bewegt uns das Thema Nachbarschaft auch im Nahraum? Angesichts gesellschaftlicher Individualisierungstendenzen und zunehmender Mobilität scheinen Nachbarschaften als Form der Vergesellschaftung im nahen Lebensumfeld – wie sie Max Weber noch 1922 beschrieb – an Integrationskraft zu verlieren. Wir können unsere Nachbarn frei wählen, fremde Nachbarn rücken näher und wir selbst werden in den fragilen und globalen Arbeitswelten des 21. Jahrhunderts zu Wanderern zwischen unterschiedlichen Nachbarschaften. Nachbarn, die über Generationen zusammenleben, scheinen nicht nur in städtischen, sondern auch in dörflichen Lebenszusammenhängen ein Auslaufmodell zu sein. Interesse weckt allenfalls der Kleinkrieg am Gartenzaun. Doch der erste Eindruck trügt. Nicht nur auf der Ebene der Stadtplanung, auch in zahlreichen zivilgesellschaftlichen Initiativen wird gerade angesichts des Wandels familiärer Strukturen, migrationsbedingter Veränderungen oder mit Blick auf den demografischen Wandel über neue Formen des Zusammenlebens diskutiert. Mehrgenerationenhäuser, interkulturelle Begegnungszentren, Öko-Siedlungen oder Gated Communities – Stichworte wie diese lassen erahnen, dass sich in Nachbarschaften als sozial-räumlichen Beziehungsgefügen nicht nur Phänomene gesellschaftlichen Wandels der Gegenwart spiegeln. Werden Nachbarschaften als historische Phänomene untersucht, dann verfolgt man den Wandel in einem komplexen sozialen Gewebe unterschiedlicher Familien, Generationen, sozialer, religiöser oder ethnischer Gruppen. Man stößt nicht nur auf nationale Grenzen, sondern auch auf kulturelle, konfessionelle und politische Schranken und Konflikte. Eine historische Spurensuche im Feld nachbarschaftlicher Beziehungen folgt daher Grundfragen des Mit-, Neben- und Gegeneinanders, die auch gegenwärtig und zukünftig auf der Tagesordnung stehen. Nachbarschaft ist ein universelles Phänomen und zu allen Zeiten verband sich mit dem Wunsch nach "guter Nachbarschaft" die Frage, wie Zusammenleben mit dem fremden Anderen gelingen kann und warum es scheitert.
Nachbarschaft – begriffliche Annäherung
Im Sinne Max Webers beschreibt der Begriff der Nachbarschaft zunächst nur die Tatsache der räumlichen Nähe und zeitlichen Dauer. Nachbarn sind aufgrund ihres Wohnortes über einen längeren Zeitraum aufeinander bezogen. In diesem von Kontinuität geprägten Lebenszusammenhang kommen nicht nur unterschiedliche historische Raum- und Beziehungsdimensionen in den Blick – von dörflichen Gemeinschaften, zu Mietskasernen über benachbarte Städte und Gemeinden bis hin zu Nachbarländern und inszenierten Wahlnachbarschaften in Schul- und Städtepartnerschaften.
Gleichzeitig ist Nachbarschaft als sensibles Wechselspiel von Nähe und Distanz zu beschreiben. In der "räumliche(n) Ordnung der Gesellschaft" beschreibt Georg Simmel (1908) Nachbarn als die „Anderen“. Der Nachbar ist "der Fremde, der schon immer da war" und man ist gezwungen mit ihm auszukommen. Dieses Bedürfnis nach Distanz symbolisieren Grenzziehungen durch Hecke, Mauer oder Stacheldraht. Mindestens gleichrangig bedeutsam sind aber auch durchaus fragile, identitätsrelevante Grenzziehungen zwischen dem Fremden und dem Eigenen. Hier spiegeln sich komplexe Phänomene politischen, sozialen, religiösen oder ethnischen Wandels.
Nachbarschaft – Dimensionen eines historischen Phänomens
Nähe und Dauer beschreiben lediglich ein Nebeneinander von Nachbarn. Mit- und Gegeneinander verlangen dagegen nach Interaktion. In diesem komplexen Wechselspiel von Distanz und Nähe, dem Eigenen und dem Anderen konstituieren sich Nachbarschaften als gesellschaftliche Interaktions- und Funktionsräume durch Kommunikation und Austausch. Sie bewähren sich als Hilfs- und Notgemeinschaften und sie sind Räume sozialer Kontrolle. Entlang dieser Dimensionen lassen sich zahlreiche Untersuchungsperspektiven historischer Nachbarschaften entfalten, die im Folgenden nur kurz angedeutet werden können.
Kommunikation und Austausch
Erstens verlangt die Konstituierung von Nachbarschaft nach Kommunikation und Austausch. Gemeinschaft stiftet bereits das tägliche Grußritual. An historischen Orten der Nachbarschaften, auf Bänken vor den Bauernhäusern, in den Hinterhöfen der Mietskasernen, in der Kneipe um die Ecke oder in Gemeindehäusern wurden nicht nur alltäglicher Klatsch und Tratsch ausgetauscht, sondern auch politische, moralische oder religiöse Überzeugungen verhandelt und geprägt sowie gleichzeitig soziale Grenzen gezogen. Nachbarschaft wird nicht nur in privaten Feiern, gemeinschaftlichen Dorf- oder Stadtteilfesten erfahren, sondern auch als Werte- und Normengemeinschaft im politischen und religiösen Fest inszeniert. Nachbarschaft konstituiert sich weiter bei der Arbeit und spiegelt auch die Veränderung von Arbeitswelten – von den Zunftgassen mittelalterlicher Städte, über den gemeinsamen Häuserbau der Siedlergemeinschaften des Nationalsozialismus, deren in Satzungen festgeschriebenes Nachbarschaftsideal dem Gedanken der Volksgemeinschaft folgte. Nachbarn trafen sich auch an Orten des gemeinsamen Handels – beim Kolonialwarenhändler oder Fleischer um die Ecke. In historischer Perspektive könnten so die Boykotte jüdischer Geschäfte oder die Verweigerung, mit dem jüdischen Nachbarn Handel zu treiben, als ein in der Geschichte der Ausgrenzung immer wiederkehrendes Muster verweigerter Nachbarschaft interpretiert werden.
Jenseits der "Kirche im Dorf" finden sich im ausgehenden 19. Jahrhundert neue Formen institutionalisierter nachbarschaftlicher Interaktion, deren Traditionen bis heute u.a. in Vereinen oder Stadtteilzentren fortleben. So waren Volksheime – mit Lesestuben, Festsälen und Volksküche – ökonomische, politische und kulturelle Kristallisationspunkte der Arbeiterbewegung, die nach 1933 aufgelöst oder als Nachbarschaftshäuser in den Dienst des nationalsozialistischen Nachbarschaftsgedankens gestellt wurden.
Betrachtet man die Geschichte der Migration, dann schufen neue Nachbarn z.B. mit Teestuben oder Trattorien auch neue Orte interkultureller nachbarschaftlicher Kommunikation. Gerade im Spannungsfeld des Fremden und des Eigenen stellt sich hier die Frage, wie viel Nähe und Distanz nachbarschaftliche Integration der "Anderen" brauchte und welche Konfliktlinien sich in neu konstituierenden Nachbarschaftsverhältnissen zeigen.
Nachbarschaft als Not- und Hilfsgemeinschaft
Zweitens ist Nachbarschaft eine Not- und Hilfsgemeinschaft. Dies trifft nicht nur auf ganz alltägliche Formen der Unterstützung bei der Kinderbetreuung oder beim Aushelfen mit Lebensmitteln zu. Die Redensart "Not schweißt zusammen" scheint auch auf frühe Formen nachbarschaftlicher Hilfe übertragbar. Organisierte nachbarschaftliche Hilfsgemeinschaften haben ihren Ursprung in den Notzeiten des Dreißigjährigen Krieges – davon zeugen Brunnen- und Pumpennachbarschaften. Notnachbarn hatten ihren Nächsten auch bei Krankheit und Tod beizustehen. Entlang historischer Beispiele verweigerter oder realisierter Hilfsgemeinschaft lassen sich auch der Wandel politischer, sozialer, rassisch oder ethnisch begründeter Vorurteile, mithin Modi der Inklusion und Exklusion beschreiben.
Nachbarschaft als Raum sozialer Kontrolle
Drittens ist Nachbarschaft ein Raum sozialer Kontrolle, in dem Werte und Normen einer Gemeinschaft ausgehandelt und durchgesetzt werden können. So regelten in katholischen Gemeinden die kirchlichen Gebote nicht nur den Alltag in der Familie, sondern auch das Zusammenleben in der Gemeinde. Der Nachbar beobachtet, moniert, diskutiert und ahndet auch nachbarschaftliches Verhalten. Er ist Hüter von Ordnung, Anstand und Moral. Kirchgang, später Damenbesuch beim Untermieter, die langen Haare des Nachbarsjungen, zu kurze Röcke oder wilde Ehen, Fußballspielen auf dem Wäscheplatz, der gepflegte Vorgarten oder die richtige Mülltrennung – jede Zeit hat ihre und jeder Nachbar seine Werte und Normen, über deren Einhaltung Nachbarschaft wachen kann. Hinter dem Ausruf: "Was sollen bloß die Nachbarn denken!" verbergen sich unterschiedliche Formen der Selbstbeschränkung, denn Nachbarschaft wirkt gleichzeitig als Sozialisations- und Kontrollinstanz. Doch wo sind die Grenze zwischen gemeinschaftsstiftender Kontrolle und Überwachung, zwischen Privatem und Öffentlichem? Wann wird Nachbarschaft vom Ort sozialer Kontrolle zum Ort staatlich instrumentalisierter politischer Überwachung?
Die kurz skizzierten Formen der Interaktion kann man getrennt voneinander betrachten. Als Modi der Integration, Ausgrenzung und Abgrenzung greifen sie in der Praxis der Nachbarschaft stets ineinander. Betrachtet man diese komplexen Zusammenhänge, dann erscheint Nachbarschaft als ein Beziehungsgefüge, das sich nicht nur mit Grenzverschiebungen ändert, sondern u.a. mit den Formen der Arbeit und Freizeit oder infolge von Stadtsanierungen, und es gewinnt auch an politischer Relevanz, wenn man Formen nachbarschaftlicher Proteste unter die Lupe nimmt.
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- 25 Aug 2014 - 16:00