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„Immer schön arisieren“

Rechtsextremismus, Geschichtsrevisionismus und die historisch-politische Bildung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Peter Reif-Spirek ist Politologe und stellvertretender Leiter der Landeszentrale für politische Bildung im Freistaat Thüringen.
Von Peter Reif-Spirek

Während der NPD in Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern der Wiedereinzug in beide Landesparlamente gelang, was auf ein verfestigtes, kommunal verankertes und mobilisierungsfähiges rechtsextremes Milieu verweist, blieb ihr bei der von ihr ausgerufenen Schicksalswahl in Sachsen-Anhalt 2011 dieser Erfolg versagt. Wie bei den Thüringer Landtagswahlen 2009 führte die Gegenmobilisierung sozusagen last minute zu einer gestiegenen Wahlbeteiligung, so dass die NPD knapp an der 5%-Hürde scheiterte. Auch in Sachsen-Anhalt waren und sind die Grenzen zwischen der NPD und der offen neonazistischen Szene sogenannter freier Kameradschaften fließend. Interne Mails des NPD-Landesverbands zeigten nicht nur das Gewaltpotential dieser Szene, sondern auch ihr programmatisch-propagandistisches Anknüpfen an die ideologischen Traditionsbestände des Nationalsozialismus. „Immer schön arisieren“ forderte NPD-Spitzenkandidat Mathias Heyder in Bezug auf die Gestaltung einer Wahlkampfkarte, die kostenloses Schulessen nur für deutsche Kinder forderte, „sonst wird’s unglaubwürdig, wenn wir für Negerkinder Brote fordern“.[1] Dass es nach dem völkisch-rassistischen Weltbild der NPD keine Deutschen mit anderer Hautfarbe geben kann und Migranten nicht durch Einbürgerung Deutsche werden, ist dabei evident. Offener Rassismus heute in der früheren Sprache des NS-Regimes artikuliert – selten sind die offenkundigen Verbindungslinien zwischen der Verklärung des NS-Regimes, der Rechtfertigung ihrer Terrorpraktiken gegen die jüdischen Bürger, hier ihrer Enteignung, und den aktuellen rassistischen Ausgrenzungspraktiken des Rechtsextremismus so eindeutig auf den Begriff gebracht worden.

Beispiele aus dem Thüringer Geschichtsrevisionismus

Die enge Verzahnung von NPD und sogenannten freien Kameradschaften hat die extreme Rechte gerade in Thüringen schon immer geprägt, und geschichtsrevisionistische Aktivitäten haben eine wichtige Scharnierfunktion zwischen den unterschiedlichen Subströmungen.

Seit Jahren führt die extreme Rechte auch in Thüringen Veranstaltungen zur Glorifizierung des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß durch. Ebenso regelmäßig organisieren sie am Volkstrauertag in Anlehnung an den „Heldengedenktag“ der Nationalsozialisten „Heldengedenken“, um die Wehrmachtsverbrechen zu relativieren und zu leugnen. Auch der vorpolitische und subkulturelle Raum des RechtsRock ist in Thüringen präsent: durch zahlreiche Bands, wichtige Vertriebsstrukturen und Szene-Events mit überregionaler Ausstrahlung. Die Neonazis bedienen sich des RechtsRocks, weil sie sich der Bedeutung bewusst sind, mit der Musik ihre antisemitischen und rassistischen Inhalte vermitteln zu können. Die zahlreichen positiven Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus sind evident: Bands wie z.B. SKD aus Gotha nennen sich nach dem SS-Sonderkommando Dirlewanger und singen Loblieder auf „Führer Adolf“. Hier hat sich eine rechtsextreme Parallelwelt entwickelt, die zu fast jedem Unterthema des Nationalsozialismus ihre Legendenbildungen, Verschwörungsphantasien und Geschichtslügen bereithält.

In einem Interview mit der ARD-Fernsehsendung KONTRASTE 2005 äußerte sich der Thüringer NPD-Landesvorsitzende Frank Schwerdt zu der programmatischen Zielvorstellung eines „nationalen Sozialismus“: „Wir bevorzugen....einen Sozialismus, der sich hier auf dieses Land bezieht, auf die Nation. Deswegen sagen wir ,Nationaler Sozialismus’“. Auf die Nachfrage, ob damit der Nationalsozialismus gemeint sei, antwortete Schwerdt: „Man kann das so bezeichnen“ (Dornbusch/Raabe, 14f) und zeigt damit, dass es sich bei dem „nationalen Sozialismus“ nur um eine programmatische Deckadresse handelt.

Die Leugnung oder Relativierung der nationalsozialistischen Verbrechen hat in der extremen Rechten lange Tradition, die bereits unmittelbar nach 1945 einsetzte. Sie ist ein verbindendes Band in der häufig auch zerstrittenen Szene. Das Wachhalten der Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Verbrechen hat der politischen Wirksamkeit des Rechtsextremismus in Deutschland immer wieder Grenzen gesetzt. Der Kampf gegen eine demokratische Geschichtskultur ist daher kein zufälliges Agitationsfeld, sondern nachgerade konstitutiv für die extreme Rechte hierzulande.

Dieser Geschichtsrevisionismus bleibt nun keineswegs auf die organisierte Szene beschränkt, sondern findet durchaus einen gesellschaftlichen Resonanzboden, wie der alljährlich von der Landesregierung in Auftrag gegebene Thüringen-Monitor zeigt. Nach dem aktuellen Monitor 2011 befürworten 14% der Thüringer unter Umständen eine rechte Diktatur „im nationalen Interesse“, und 19 % attestieren dem Nationalsozialismus gute Seiten. Der Anteil rechtsextremer Einstellungen in der Thüringer Bevölkerung ist wieder auf 17 % angestiegen. Auch unterhalb erfolgreicher Wahlpolitik prägen solche Einstellungen die Mentalitätsstrukturen und sind ein Hindernis für eine bunte, demokratische politische Kultur. Manch Abgesang auf die politisch-historische Bildungsarbeit erweist sich vor dem Hintergrund solcher Befunde als vorschnell.

Ohne mehr Wissen geht es nicht

Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr (und bessere) historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus. Diese Forderung scheint auf den ersten Blick überraschend. Denn obwohl zahlreiche Studien gravierende Wissensdefizite über die Zeit des Nationalsozialismus konstatieren, wird vielfach vor einer Übersättigung gewarnt, die gerade bei Jugendlichen zu Abwehrreaktionen führe. Die empirische Basis solcher Warnungen scheint mir wenig tragfähig zu sein. Die Jugendlichen wissen zu wenig und sind zugleich von dem Thema medial umstellt, weil kaum ein Tag vergeht, in der sich nicht ein Film der historischen Kulisse des Nationalsozialismus bedient, ohne zu dessen Aufklärung beitragen zu können.

Wir haben als Pädagog/innen eine gewisse Bringschuld. Zu Recht hat Klaus Ahlheim darauf hingewiesen, dass wir „den Jugendlichen mehr und nicht weniger Wissen schuldig (sind), und zwar lebendiges, erschließendes, exemplarisches Wissen, Wissen, das die Frage der Macht, der Interessen (auch der ökonomischen), das Konflikte nicht ausspart, sondern thematisiert. Wissen, das die Kenntnis der Fakten einschließt und doch mehr ist als die bloßen Fakten, das die Dinge erklärt und ordnet, das Zusammenhänge herstellt und so Verstehen und Handeln möglich machen kann und das den Schülern und Jugendlichen zugleich Raum lässt, ihre eigene Position zu entwickeln“ (Ahlheim, 26). Solche Lernformen finden am ehesten immer noch im außerschulischen Bereich statt, in Gedenkstätten, aber auch in konkreten regionalgeschichtlichen Spurensuchen.

Die historisch-politische Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus nimmt einen wichtigen Stellenwert im Programmprofil der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen ein. Dazu gehören mehrtägige Projekttage an KZ-Gedenkstätten, regelmäßige Fortbildungsseminare im Lehrer/innen-, aber auch Polizeibereich sowie zahlreiche Einzelveranstaltungen. In diesem Arbeitskontext wurden auch drei regionalgeschichtliche Wanderausstellungen auf den Weg gebracht: In Zusammenarbeit mit der Thüringer Polizei und der Gedenkstätte Buchenwald entstand eine Ausstellung zur „Gestapo im NS-Gau Thüringen“, in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte der Medizin und dem damaligen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen die Ausstellung „Überweisung in den Tod“ über die Kindereuthanasieverbrechen in Thüringen und jetzt die Ausstellung zur „Arisierung“ in Thüringen in einem breiten Trägerkreis. Zu allen Themen erschienen umfangreiche Quellendokumentationen im Rahmen der LZT-Reihe „Quellen zur Geschichte Thüringens“; zur „Arisierung“ erschien zusätzlich ein biographischer Band, der Einzelschicksale dokumentiert. Solche Projekte leisten einen wichtigen Beitrag gegen das Verdrängen der nationalsozialistischen Vergangenheit und sind für sich genommen schon ein Dementi der rechtsextremen Forderung nach einem „Schlussstrich unter die Vergangenheit“. Sie informieren am Beispiel des jeweiligen konkreten Ausstellungsgegenstands über den aktuellen Stand der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und stellen dem rechtsextremen Geschichtsrevisionismus und seiner Verharmlosung des NS-Staats solides Gegen-Wissen entgegen.

Gerade das Lernen an Berufs- und Lokalgeschichten bietet ein enormes Potential. Diese Geschichten zeigen, dass sich die NS-Verbrechen nicht an einem fernen Ort abgespielt haben (als die selbst nahe KZ-Gedenkstätten manchmal empfunden werden), sondern dass sie eingebunden waren in die jeweiligen Dorfgemeinschaften und Stadtgesellschaften, sich also wirklich in unmittelbarer Nachbarschaft abgespielt haben. Sie zeigen, wie Nachbarn sich entscheiden konnten und entschieden haben - Gehe ich noch ins jüdische Geschäft nebenan? Halte ich den persönlichen Kontakt zu meinem jüdischen Nachbarn aufrecht? - und durch ihre Entscheidungen einen sozialen Alltag konstituierten, in dem zuerst die Entrechtung, dann die Enteignung und schließlich auch die Deportation und Ermordung der jüdischen Bürger möglich wurden. So etablierte sich eine entsolidarisierte „gesellschaftliche Wirklichkeit, in der zwei Kategorien von Menschen geschaffen wurden: solche, die als ,arische’ oder ,deutsche’ Menschen zum Universum allgemeiner Verbindlichkeiten gehörten – für die also soziale Werte wie Mitleid, Solidarität, Nächstenliebe nach wie vor in Geltung waren -, und solche, die zu diesem Universum nicht gehörten...“ (Welzer, 50) Die Projekte zur „Arisierung“ verweisen auf die Täter im sozialen Nahbereich oder in den Worten des Holocaust-Überlebenden Primo Levi: „Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“ (Welzer, 12) Das ist ein sehr ungemütlicher Befund.

Keine Überforderung von historischer Bildung und Gedenkstättenarbeit

Die historisch-politische Bildungsarbeit kann einiges an demokratischer Sensibilisierung bewirken. Sie muss aber auch überhöhte und unrealistische Erwartungen zurückweisen, die immer wieder an sie herangetragen werden. Sie ist ein spezifisches Lernfeld, aber keine Allzweckwaffe gegen den Rechtsextremismus. Historische Bildungsarbeit ist auch kein Ersatz für antirassistisches Lernen und pädagogische Projekte gegen Fremdenfeindlichkeit.

Eine wirksame Strategie gegen den Rechtsextremismus wird jenen spezifischen politischen Interaktionszusammenhang auflösen müssen, in dem hohe Gewaltbereitschaft, organisierter Rechtsextremismus, fremdenfeindliche Einstellungen in breiten Bevölkerungsschichten und “leere Institutionen” (Heitmeyer, 47ff) zusammenwirken und in den neuen Bundesländern zu einer rechten Alltagskultur führen, in der die alltägliche Diskriminierung von Fremden und Anderen überhaupt nicht mehr als Problem wahrgenommen wird, sondern als normal und berechtigt gilt. Es versteht sich von selbst, dass eine solche komplexe Gegenstrategie gegen den Rechtsextremismus über pädagogische Projekte, zumal der historischen Bildungsarbeit und der Gedenkstättenprojekte, hinausgehen muss. Pädagogisches Handeln bewegt sich zudem immer im strukturierten Feld, das durch objektive gesellschaftliche Verhältnisse und politische Vorgaben geprägt ist. Pädagogik kann keine Umbruchserfahrungen außer Kraft setzen. “Pädagogische Programme und Projekte, Seminare und Reisen, Curricula und Fortbildungen bewirken langfristig viel. Aber: Sie können nie und nimmer ausgleichen und korrigieren, was das allen in Fernsehen, Funk und Presse erfahrbare Handeln der Regierenden an Haltungen stilbildend durchsetzt”.(Brumlik, 835)

Das pädagogische (und politische) Problem besteht ohnehin nicht in der Ansprache ideologisch verfestigter Rechtsextremisten, sondern in ihrer Isolierung in ihrem Umfeld. “Wir haben da zwei, die sind etwas extrem”, heißt es häufig, wenn ich zu Schulvorträgen eingeladen werde. Die als “etwas extrem” geschildert werden, erweisen sich als hardcore-Nazis. Ihre Mitschüler, die selbst keine Schwierigkeiten haben, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren, finden sie „zu krass“, während sie zugleich fremdenfeindliche Argumentationsmuster und Phantasien teilen. Bei vielen Jugendlichen koexistieren demokratische und fremdenfeindliche Einstellungen. Historisches Wissen und aktuelles Verhalten bleiben bei vielen Jugendlichen heute entkoppelt. Betroffenheit um die Opfer des Nationalsozialismus muss nicht vor fremdenfeindlichen Einstellungen heute immunisieren. Und umgekehrt stellte Ulrich Herbert zurecht gegen die pädagogische Inanspruchnahme des Nationalsozialismus fest: „Auch ohne jemals etwas über das Dritte Reich und den Judenmord gehört zu haben, sollte man wissen, dass man keine Menschen anzündet.“ (Herbert, 566)

Rechtsextreme Ideologie und diskriminierende Einstellungen in der Mitte der Gesellschaft wie Fremdenfeindlichkeit bilden einen Interaktionszusammenhang, aber sie sind nicht identisch. Wenn Jugendliche sich fremdenfeindlich, autoritär und diskriminierend äußern, ist das in der Regel nicht das Ergebnis rechtsextremer Geschichtspropaganda. Solche subjektiven Verarbeitungsweisen gesellschaftlicher Umbrüche und alltäglicher Desintegrationserfahrungen besitzen für die Individuen Rationalität, weil ihnen nationalisierende und ethnisierende Interpretationen Halt, Anerkennung und Weltsicherheit bieten – und gerade deshalb sind sie so schwer durch Aufklärung allein aufzubrechen. Je verdichteter diese Vorurteilsstrukturen und je tiefer solche Einstellungen psychisch verankert sind, um so schwieriger wird die pädagogische Intervention. Die Auseinandersetzung mit diesen Jugendlichen muss daher in der Gegenwart und von ihrer gegenwärtigen Situation ausgehend geführt werden. Dabei müssen ihre jeweiligen, sozial durchaus unterschiedlichen Zugänge zu menschenfeindlichen Einstellungen konkret, d.h. auf der Ebene ihrer jeweiligen Konstruktionsmuster bearbeitet werden. Hier existiert ein breites Feld sinnvoller pädagogischer Eingriffe, die problematische Einstellungen im Alltagsverstand zurückdrängen können. Dabei geht es immer um eine Verbindung von (Selbst-)Aufklärung - nicht als autoritäre Belehrung, sondern als gemeinsame Arbeit an den subjektiven Erfahrungen und Weltverständnissen - und dem Machen anderer demokratischer und nichtausgrenzender sozialer Erfahrungen.

Gedenkstättenprojekte und historisch-politische Bildungsarbeit müssen daher in einen breiteren Lernkontext eingebettet sein und können dabei auch eigenständige Akzente setzen, wenn es gelingt, Verbindungslinien zu aktuellen Diskriminierungserfahrungen aufzuzeigen (ohne zugleich den NS-Terror zu banalisieren). Dafür ist es sicherlich sinnvoll, wieder stärker die frühe Herrschaftsphase des Nationalsozialismus in der Bildungsarbeit zu thematisieren, um die ersten Schritte zur Beseitigung der Menschenrechte, zur Entrechtung und Ausbürgerung von Minderheiten in den Blick zu nehmen.

„Kraft zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno)

Historisch-politischer Bildung geht es nicht um die Beschäftigung mit einem abgeschlossenen Kapitel deutscher Geschichte, sondern immer auch um die Frage des Fortdauerns jener Bedingungen, die die nazistischen Verbrechen ermöglichten.

Es gibt hierbei keine zivilisatorische Sicherheit. Die Menschenrechte basieren nur auf gesellschaftlicher Übereinkunft. An diesem Gesellschaftsvertrag ist jeder Einzelne mit seinem Votum und seinem alltäglichen Handeln beteiligt.

Historisch-politische Bildungsarbeit hat eine nicht zu unterschätzende, das demokratische Engage­ment verstärkende Funktion für die aktiven Bürger/innen, die sich gegen den Rassismus und andere Ausgrenzungspraktiken wehren wollen. Indem sie diese stärkt und argumentativ qualifiziert, festigt sie die demokratische politische Kultur und leistet damit auch einen präventiven Beitrag gegen den Rechtsextremismus.

Historisch-politisches Lernen zielt immer auf die Gegenwart. Es geht um unsere heutigeGesellschaft und unsere tagtäglichen Verhaltensmuster, die der (Selbst-)aufklärung bedürfen. Historische Rekonstruktion allein könnte auch zur Entlastung der Gegenwart und der eigenen Verantwortung führen. Es geht um eine Selbstreflexion mit historischem Blick, mit dem Wissen um die Möglichkeit des Verlusts jeder zivilisatorischen Sicherheit.

In Konfrontation mit dem historischen Material und den dokumentierten Handlungsalternativen von Hilfe und Entsolidarisierung, von Widerständigkeit, Anpassung und Mittäterschaft wirft jedes dieser Projekte Fragen an uns selbst zurück: Warum nehme ich es heute hin, dass in dieser Gesellschaft Menschen stigmatisiert und ausgegrenzt werden? Es geht um eine Erinnerungsarbeit, die gefährliche Fragen an die heutige Gesellschaft stellt. Und es geht um eine grundlegend veränderte pädagogisch-politische Kultur, die Nonkonformismus, Zivilcourage und Empathie fördert, also Kompetenzen, die jene Helferpersönlichkeiten ausgezeichnet haben, die im Nationalsozialismus verfolgte Menschen unterstützt haben. „Kraft zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen“ (Adorno, 93) sind die nach wie vor unbequemen Leitideen einer „ Erziehung nach Auschwitz “, ein Programm, das weit über die Vermittlung historischen Wissens zum NS-Staat hinausgeht.

Literatur

Theodor W.Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main 1971.

Klaus Ahlheim: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“. Anmerkungen zur Didaktik historisch-politischer Jugendbildung. In: ders.: Erinnern und Aufklären. Hannover 2009.

Micha Brumlik: Über die Verwechslung von Standortpolitik und Verantwortung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2000, S. 830 ff.

Christian Dornbusch/Jan Raabe. Die extreme Rechte in Thüringen, Erfurt 2008 (Schriftenreihe der LZT).

Wilhelm Heitmeyer: Sozialräumliche Machtversuche des ostdeutschen Rechtsextremismus. Zum Problem unzureichender politischer Gegenöffentlichkeit in Städten und Kommunen. In: Peter E. Kalb/Karin Sitte/Christian Petry: Rechtsextremistische Jugendliche - was tun? Weinheim/Basel 1999.

Ulrich Herbert: „Ein Element der Verunsicherung, der Irritation, des Erschreckens“. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Entschädigung von Zwangsarbeitern. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2000, S. 566.

Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main 2005.

Der Beitrag erscheint in einer erweiterten Fassung in dem von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen herausgebenem Band  "Ausgegrenzt und ausgeplündert. Judenverfolgung in Thüringen 1933-1945. Zur Bilanz eines Wanderausstellungsprojektes" (i.E., März 2012)


[1] Taz-Dokumentation: NPD-Leak in der taz. http://www.taz.de/1/politik/deutschland/npd-mails/
W. Schmidt/Andreas Speit: Nazis scheitern an 5%. In: taz vom 20.3.2011. 

 

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