Neue Formen der Geschichtskultur im Internet können viele Ausprägungen annehmen: Die Erinnerung an historische Ereignisse verlagert sich hier von materiellen Denkmälern, Gedenkstätten und Museen hin zu virtuellen Stadtrundgängen, Audioblasen, Karten auf denen jede und jeder die eigenen Erinnerungsstücke hinterlassen kann und Blogs, die diese Neuentwicklungen thematisieren und verbreiten. In diesem Beitrag sollen einige Beispiele für die aktuelle Ausdrucksformen der Geschichtskultur im Netz vorgestellt werden.
Henio Żytomirski auf Facebook
Sucht man auf Facebook nach der Person „Henio Żytomirski“ erscheint das Profil eines kleinen Jungen. Sein Profilfoto ist eine schwarz-weiße Aufnahme, er hat dunkle Haare, trägt kurze Hosen und ein weißes Hemd. Sein Geburtsdatum ist der 25. März 1933, seit dem 18. August 2009 ist er bei Facebook.
Henio Żytomirski stammt aus dem polnischen Lublin, er wurde im Alter von 9 Jahren im Konzentrationslager Majdanek ermordet. 2009 eröffnete der damals 22-jährige Piotr Buzek, Mitarbeiter des Lubliner Kulturzentrums Brama Grodzka das Facebook-Profil des toten Jungen und schrieb bis 2010 Beiträge in seinem Namen, die die Lebenswelt des kleinen Jungen wiederaufleben lassen sollten. Am 29. September 2009 schreibt er beispielsweise: „Der Winter ist gekommen. Jeder Jude muss seinen Nachnamen auf einem David-Stern tragen. Viel hat sich geändert. Auf der Straße laufen deutsche Truppen. Mama sagt, dass ich mich nicht fürchten soll, dass alles immer gut wird. Immer?"
Das Kulturzentrum Brama Grodzka widmet sich seit gut 20 Jahren der Rekonstruktion des jüdischen Lublins. Vor einigen Jahren kam eine Verwandte von Henio, Neta Żytomirska – Avidar, aus Israel nach Lublin und brachte ein Fotoalbum mit Bildern von Henio und weitere persönliche Dokumente der Familie mit. So entstand Piotr Buzeks Idee, mit Hilfe dieser Informationen über den kleinen Jungen einen persönlichen Zugang zum Holocaust zu erschaffen und über das Medium des Internets eine junge Zielgruppe zu erreichen.
Im Sommer 2010 löschte Buzek Henios Profil, es hatte die maximal mögliche Zahl von 5.000 Freunden erreicht. Auf der Homepage des Brama Grodzka findet sich eine umfangreiche Projektdokumentation, die auch die digitalisierten Familienfotos enthält.
Historypin
Zur Repräsentation von Geschichte im Internet gehört auch eine Demokratisierung von Erinnerung. Diese Rhetorik der Demokratisierung verfolgt auch das Projekt Historypin und fordert seine Nutzer auf, eine „digitale Geschichte der Welt“ zu kreieren. Jede/r hat hier die Möglichkeit, Fotos und Geschichten zu Orten auf eine virtuelle Weltkarte zu pinnen.
Die Sammlung beruht auf einer Googlemaps-Karte, über die Orte angesteuert werden können. Eine Zeitleiste ermöglicht die Einschränkung der gezeigten Fotos nach Jahren oder Zeiträumen beginnend mit 1840. Über eine Suchfunktion kann man Ereignisse, Namen, Orte oder Jahreszahlen eingeben. Ebenso können die Fotos auf eine Google-Streetview-Karte gelegt und so die historische Ansicht mit der aktuellen verglichen werden. Unter „Collections“ sind Fotos zu Themen zusammen gefasst, „Tours“ sind thematische Zusammenstellungen, die durch Erklärungen ergänzt sind und auf einer Google-Streetview-Karte Rundgänge zu den jeweiligen Themen ermöglichen. Ein Historypin App bietet iPhone oder Android-Nutzern auch von unterwegs den direkten Zugriff auf die Karte und ihre Inhalte.
Real-Time Twitter Zweiter Weltkrieg
Twitter ist eine Plattform zur Verbreitung von kurzen Textnachrichten im Internet. Angemeldete Nutzer können Nachrichten von bis zu 140 Zeichen Länge eingeben, die allen Benutzern, die dem Autor folgen automatisch bekommen. Lesen kann man die Nachrichten auch ohne Benutzerkonto.
Der Benutzer mit dem Namen „Real Time WWII“ erzählt in seinen Tweets in englischer Sprache den Zweiten Weltkrieg in Echtzeit nach.
Das am 31. August 2011 – am Jahrestag des Vorabends des deutschen Überfalls auf Polen – gestartete Projekt ist dementsprechend auf 6 Jahre angelegt. Autor ist der ehemalige Oxforder Geschichtsstudent Alwyn Collinson. Er verfasst täglich bis zu 40 Tweets und will laut eigenen Aussagen mit Hilfe von Zeitzeugenaussagen, Videos und Fotos das Gefühl vermitteln, dass die Nachrichten direkt aus dem Jahr 1939 stammen.
Blogs zur Geschichtskultur
Über die vorgestellten Projekte und einiges mehr kann man sich auf Blogs zur Erinnerungskultur und Geschichtspolitik auf dem Laufen halten.
Der Blog „Memorama“ von Erik Meyer widmet sich Themen rund um Politik, Kultur und Kommunikation. In der Unterkategorie „Erinnerungskultur“ stellt er vor allem Neuigkeiten aus der Online-Erinnerungskultur vor. Er ist auch Herausgeber des Buches „Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien“ das auf dem Portal bereits besprochen wurde.
Auf dem Blog „Geschichtsunterricht“ schreibt Daniel Bernsen über Medien im Geschichtsunterricht; er stellt empfehlenswerte Publikationen vor, kommentiert Tagungen, thematisiert aktuelle Entwicklungen in der Didaktik und in der Nutzung von neuen Medien im Unterricht. Der Blog lohnt sich vor allem für Geschichtslehrende, da er ausführlich und aktuell Neuheiten aufgreift und kommentiert.
Einen Überblick derzeit (Stand: Dezember 2011) aktuell gehaltener deutschsprachiger Blogs aus dem Bereich Geschichtswissenschaften bietet redaktionsblog.hypotheses.org.
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- 25 Jan 2012 - 13:31