Empfehlung Zeitschrift

Zeitgeschichtsschreibung

Eckdaten

Aus Politik und Zeitgeschichte. Bundeszentrale für politische Bildung. 62. Jahrgang. 1-3/2012. 2. Januar 2012. „Zeitgeschichtsschreibung“.

Passend zum Thema unseres aktuellen Magazins beschäftigt sich auch die neueste Ausgabe der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ unter dem Titel „Zeitgeschichtsschreibungen“ mit neuen Tendenzen in der Forschung zur Zeitgeschichte. In seinem Vorwort konstatiert Hans-Georg Golz einen anhaltenden Geschichtsboom, den er auf ein gewachsenes Bedürfnis nach (nationaler) Selbstvergewisserung zurück führt. Dieser Boom biete zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten für den Geschichtsunterricht und in der Historiografie verschiebe sich das Interesse von der traditionellen Ereignisgeschichte auf alltags- und kulturgeschichtliche Herangehensweisen. Die APuZ-Ausgabe skizziert in acht Beiträgen diese Entwicklungen und analysiert dabei vor allem die  nationale bzw. globale Orientierung zeitgenössischer Historiografie.

Zeitgeschichte der „Berliner Republik“

Axel Schildt fordert in seinem Beitrag „Zeitgeschichte der „Berliner Republik““ eine Geschichtsschreibung, die statt einer nationalen Lesart die Umwälzungen seit dem Ende des 20. Jahrhunderts in europäische und globale Prozesse verortet. Er beschreibt dabei sowohl die Historiografie des 20. Jahrhunderts wie sie im 21. Jahrhundert betrieben wird, als auch die Historisierung des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Entgegen anders lautenden Erwartungen trat kein Ende der Debatten über das Dritte Reich ein, was Schildt der hohen Bedeutung symbolischer Abgrenzung zu den nationalsozialistischen Verbrechen zuschreibt. Er skizziert Tendenzen der jüngeren Zeitgeschichtsforschung zur DDR und zur alten Bundesrepublik wobei er sich bemüht, eine Verbindung zwischen Zeitgeschichte und Zeitgeist zu ziehen und somit die Bedingtheit historischer Forschung verdeutlicht. Abschließend identifiziert Schildt Themen der jüngsten Zeitgeschichte, die er als historisch erklärungsbedürftig bezeichnet, wie die Ost-West-Migration, den Bruch nach der Zusammenführung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II und die Veränderungen in Folge der rasanten Technisierung.

Die NS-Diktatur als Lehrstück

Andreas Wirsching, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der LMU München konstatiert das Ende der Weimarer Republik als Lehrstück für die Gegenwart und betont die Dominanz des Nationalsozialismus in dieser Funktion. Das Verblassen des ersteren wiederum sei bedingt durch einen Wandel in der Forschung über Weimar, die sich inzwischen nicht mehr nur auf ihr Scheitern konzentriere, sondern mit einem Schwerpunkt auf die Erfahrungen der kulturellen Moderne Weimars Funktion als Negativfolie beende. Zudem lasse sich in der Forschung zum Nationalsozialismus eine Tendenz beobachten, die ebenfalls verstärkt auf kultur- und erfahrungsgeschichtliche Fragestellungen abhebe. Der Autor führt dabei als Beispiele die Beschäftigung mit dem Konzept der Volksgemeinschaft als eine tatsächliche sozial integrierende und mobilisierende Kraft an und betont deren Verbindung mit dem Holocaust. In Hinblick auf den NS verlieren also traditionelle Fragen nach Antriebskräften, gesellschaftlicher Zustimmung und ähnlichem ihre Aktualität nicht; der Nationalsozialismus besteht weiterhin als wichtigstes Lehrstück des 20. Jahrhundert.

Zeitgeschichte in Schulbuchdarstellungen

Simone Lässig, Professorin für Neuere/Neueste Geschichte an der Technischen Universität Braunschweig und Direktorin des Georg-Eckert-Instituts für internationale Schulbuchforschung identifiziert in ihrem Beitrag „Repräsentationen des „Gegenwärtigen““ im deutschen Schulbuch“ die Schwierigkeit dieses im Titel des Beitrags anklingenden Anspruches vor dem Hintergrund der historischen Belastungen deutscher Geschichte. Zeitgeschichte liege die besondere Brisanz inne, dass sie in die Gegenwart hineinrage und damit eine Distanzierung erschwere; Lässig bezeichnet sie darum als „Streitgeschichte“. Das Schulbuch als Medium stehe dabei vor der Herausforderung mit anderen Massenmedien konkurrieren zu müssen. In der neueren Forschung werde das Schulbuch zudem nicht mehr nur als Medium für kanonisiertes Mainstream-Wissen betrachtet, sondern zunehmend auch als interdiskursiver Raum im Spannungsfeld zwischen vorherrschenden Sichtweisen und Erinnerungskonflikten. Schulbücher unterliegen somit zahlreichen bildungspolitischen, fachlichen und didaktischen Erwartungen. Ausgehend von diesen Feststellungen analysiert Lässig eine Vielzahl deutscher Schulbücher für den Geschichtsunterricht in Hinblick auf ihre Darstellung des NS, Holocaust, Zweiten Weltkriegs, Kalten Kriegs sowie der deutschen und europäischen Einigung. Sie resümiert, dass die Zeitgeschichte in Schulbüchern meist national geprägt sei, globale Perspektiven dagegen werden meist im Kontext der „großen Politik“ aufgezeigt.

Weitere Beiträge

Andere Autor/innen thematisieren im vorliegen Heft weitere Tendenzen aktueller Historiografie: Thomas Großbölting gibt einen Überblick über die Wahrnehmungsgeschichte der Zweistaatlichkeit und verdeutlicht den Umgang der Zeitgeschichte mit Gemeinsamkeiten und Brüchen in der Geschichte der DDR und BRD. Andreas Eckert identifiziert globalhistorische Ansätze in der Zeitgeschichte, Hanno Hochmuth plädiert für eine Zeitgeschichte des Vergnügens und Alexander Gallus schreibt über das Verhältnis von Geschichts- und Politikwissenschaft. Thomas Lindenberger und Muriel Blaive schließlich thematisieren Erinnerungskonflikte in Europa, die auf tendenziell statischen Opferidentitäten beruhen und einem dynamischen Verständnis europäischer Geschichte im Wege stehen.

„Zeitgeschichtsschreibung“ bietet einen fundierten Einblick in aktuelle Tendenzen der zeitgeschichtlichen Forschung, gibt einen Überblick über den Forschungsstand zur Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts und ist auch für Nicht-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler insofern interessant, als dass es ihr gelingt, die Verbindung zwischen Zeitgeist und Zeitgeschichte sowie die  Bedingtheit und Veränderlichkeit historischer Forschung deutlich zu machen.

Die ApuZ-Ausgabe ist als Druckexemplar kostenlos erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung und kann auf deren Homepage auch als pdf-Dokument herunter geladen werden.

 

 

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