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Von Matthias Heyl
In unseren auf die Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen bezogenen pädagogischen Erinnerungsdiskursen machen wir immer wieder neue Herausforderungen aus, denen wir uns dann eingehender widmen. Dabei ist die historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus – ebenso wie andere Felder historisch-politischer Bildung auch – einem permanenten Wandel ausgesetzt, da neue Generationen ihre jeweils eigenen Fragen an diese Geschichte stellen.
Schon länger diskutieren wir den Umbruch, der im Wechsel vom »kommunikativen« oder »kommunizierten« hin zum »kulturellen Gedächtnis« liegt, da nun die Erlebnisgeneration und insbesondere die Überlebenden altersbedingt immer weniger daran teilhaben werden. Der wachsende Abstand zum historischen Anlass bringt es mit sich, dass die Zahl der Zeugen, die diese Geschichte aus ihrer Geschichte erzählen könnten, schwindet. Aber machen wir uns nichts vor, schon länger findet historisch-politische Bildung zum Nationalsozialismus ganz überwiegend ohne aktive Teilhabe der Überlebenden statt. In der Gruppenbetreuung in Gedenkstätten wie Ravensbrück ist die Möglichkeit, mit Überlebenden ins Gespräch zu kommen, seit jeher eine – außerordentliche und außerordentlich wertvolle – Ausnahme gewesen und geblieben. Dennoch spiegelt sich bislang in den Erzählungen der Guides die Erfahrung, selber mit Überlebenden gesprochen zu haben, in ihren Führungsnarrativen. Ich selber merke, dass in einer Gedenkstättenführung die von mir aus eigenen Gesprächen mit Überlebenden gewonnenen Erzählungen besonders tragen. Schon dies ist eine Erzählung aus zweiter Hand, die sich aber doch von dem abzuheben scheint, was ich aus Dokumenten und Studien zu erzählen weiß. Das, was mich im persönlichen Gespräch beeindruckt hat, scheint auch für viele Zuhörende eine besondere Eindrücklichkeit, ein anderes Gewicht zu haben, als das vermittelte »abstraktere«, anders abgeleitete Wissen. Hier werden die Folgen des Generationenumbruchs durch die Teilhabe der heutigen Mittler »aus zweiter Hand« vielleicht noch etwas aufgeschoben – erkennbarer wird die Wirkung dessen, dass die Zeitzeugenschaft als Quelle unserer Erzählung schwindet, vielleicht erst, wenn die Mehrzahl der gedenkstättenpädagogischen Akteure selber nicht mehr die Möglichkeit gehabt haben, selber mit Überlebenden zu sprechen, ihnen ihre Fragen zu stellen – und damit die Fragen zu reflektieren, die in ihrer jeweiligen gedenkstättenpädagogischen Praxis relevant scheinen.
Es gibt eine grundsätzlichere Kritik an gegenwärtiger Erinnerungs- und Gedenkkultur, die von einer – zugegebenermaßen in der Praxis durchaus auch vorfindbaren – Karikatur der Erinnerungspädagogik ausgeht. »Vieles an der geschichts- und erinnerungskulturellen Praxis« sei, so Harald Welzer, »schal geworden, petrifiziert, inhaltsleer«, Schülerinnen und Schüler würden »gleich in mehreren Fächern mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust traktiert, wobei das didaktische Paradoxon, Fakten in einem Atemzug mit der dazugehörigen Botschaft zu vermitteln, seit Jahrzehnten unproblematisiert« bleibe, und »immer noch« würden »Kinder« - man mag fast einschieben: unnützerweise - »auf ›Spurensuche‹ geschickt«, deren »Erkenntniswert« letztlich »inzwischen gegen Null« gehe. Harald Welzer zeichnet in einem Beitrag für den Gedenkstättenrundbrief im vergangenen Jahr ein Bild einer normativ aufgeladenen, von sozialer Erwünschtheit gerahmten Betroffenheitspädagogik, die ihn nach einer »Modernisierung« rufen lässt.
Auch wenn mir zu einzelnen Bildern, die Welzers Beschreibung evoziert, Beispiele einfallen, die ihn bestätigen, kann ich das Gesamtbild nicht teilen, und noch weniger die daraus abgeleiteten Forderungen. Das, was Welzer als »seit Jahrzehnten unproblematisiert« skandalisiert, ist seit Jahrzehnten Gegenstand der erziehungswissenschaftlichen, geschichtsdidaktischen und gedenkstättenpädagogischen Diskussionen, an denen ich teilhabe. Verquere Routinen und Überforderungsszenarien werden immer wieder problematisiert und ich nehme wahr, dass sich eine Profilierung und Professionalisierung etwa in der Gedenkstättenpädagogik entwickelt, die mit ihren weithin praktizierten Standards besser ist, als das von Welzer angedeutete Bild.
Ich will hier jetzt nur skizzenhaft für den Bereich der Gedenkstättenpädagogik sprechen, den ich einigermaßen überblicke, und ich möchte es weiter eingrenzen auf das Segment der Gedenkstättenpädagogik in KZ-Gedenkstätten, also an Orten, die vielfach als historische Tatorte, »Opfer-« und »Täterorte«, Gedenk- und Lern- bzw. Bildungsorte markiert sind. Ihre Ausstellungen erfüllen Aufgaben zeithistorischer Museen. Diese Summierung deutet schon an, dass der damit gespannte Erwartungshorizont weit ist.
Ich nehme wahr, dass die Bildungsabteilungen in den KZ-Gedenkstätten es als eine Kernkompetenz begreifen, ihre Orte zum wirklichen, konkreten Ausgangspunkt einer gedenkstättenpädagogischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu nehmen. Sie löst sich ab von der Erwartung einer »auratischen Wirkung« der historischen Tatorte, die trotz ihrer Überformungen häufig als »authentisch« beschrieben werden, hin auf einen quasi »forensischen Blick«, mit dem die vorfindbaren »Spuren« der Verbrechensgeschichte zum Anlass der Auseinandersetzung gewählt werden. Gedenkstättenpädagog/innen bemühen sich, erziehungswissenschaftlich fundierte Professionalität zu zeigen, indem sie Führungen und Projekte partizipativ gestalten. Gedenkstättenpädagogische Diskurse handeln von Fragen der Multiperspektivität, der Thematisierung von Entscheidungs- und Handlungsräumen, der aktiven Teilhabe Jugendlicher mit und ohne Migrationshintergrund, sie nehmen Fragen der gender-Sensibilität auf und versuchen, auf Überforderungsszenarien zu reagieren, mit denen Gedenkstätten immer wieder auch konfrontiert sind. Sie verwahren sich gegen eine naive »Betroffenheitspädagogik«, die gedenkstättenpädagogische Marienerscheinungen schaffen will, mit der im Zweifel noch Skinheads durch gedenkstättenpädagogische Projekte binnen zweier Stunden zu multikulturellen Demokaten werden sollen oder Jugendlichen die singuläre empathische Zuwendung auf die Opfer der Verfolgung nahegebracht werden soll.
Gedenkstättenpädagogik weiß besser um ihre Grenzen und Möglichkeiten, als es die Karikatur ihrer Praxis, die auch hinter der Welzerschen Kritik aufscheint, nahelegt.
Vielleicht ist es eine der Herausforderungen für 2012, die aktuellen Debatten in der Gedenkstättenpädagogik für »Außenstehende« transparenter zu machen, Foren zu schaffen, in denen die Profilierung der Gedenkstättenpädagogik als Teil professioneller historisch-politischer Bildung sichtbarer wird. Und vielleicht lässt sich im interdisziplinären Austausch auch deutlicher konturieren, warum überwiegend kurzzeitpädagogische Angebote der Gedenkstätten nicht dazu angetan sind, eine gründliche schulische und außerschulische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Massenverbrechen zu ersetzen, sondern gekonnt zu ergänzen – als eine konkretisierende, kondensierende Auseinandersetzung mit komplexer Geschichte an einem seiner historischen Orte. Für die Gedenkstätte Ravensbrück gesprochen: »Be our guest!«
Wir setzen uns in Ravensbrück unter anderem dafür ein, die Verbindung zur lokalgeschichtlichen Spurensuche an den Herkunftsorten der zu uns kommenden Gruppen zu stärken, wenn Schüler/inn/en aus Neubrandenburg sich in Zukunft mit einem von einer ehemaligen Praktikantin der Gedenkstätte angefertigten Material über die Neubrandenburger Außenlager von Ravensbrück sich auf den Gedenkstättenbesuch vorbereiten können, oder wenn Siemens-Auszubildende mit Überlebenden des Siemens-Lagers zusammentreffen und die Geschichte der Zwangsarbeit für Siemens in Ravensbrück erforschen. Damit versuchen wir uns auch gegen eine Wahrnehmung der KZ-Gedenkstätten zu wappnen – als seien dies die eindeutig mit nationalsozialistischer Verbrechensgeschichte kontaminierten Orte, die in keinem Kontext zur damaligen deutschen Umgebungsgesellschaft stünden.
Projekte der Spurensuche erscheinen mir noch lange nicht obsolet – weder mit Blick auf die Notwendigkeit, den Opfern des Nationalsozialismus wenigstens die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ihre Geschichte zu dokumentieren, noch mit Blick auf die lokalgeschichtliche Konkretion, die Nachgeborenen Zugänge zu dieser Geschichte eröffnet, die vor der eigenen Haustür liegen. Aber tatsächlich bleibt die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte stumpf, wenn die Thematisierung allein der Opfer die Täter, Helfer, Zuschauer und Profiteure der Verfolgung außer Acht ließe, als wären die Untaten »Taten ohne Täter« (Monika Richarz). Jeder Stolperstein muss, weitergedacht, auch die Frage nach Tätern, Zuschauern und Helfern aufwerfen, nach historischen Entscheidungs- und Handlungsräumen der Gesellschaft vor Ort. »What made them tick?«
Die Verbindungslinien zwischen der Lebenswelt und den Herkunftsorten unserer Besucher/inn/en einerseits und den Gedenkstätten andererseits sichtbar zu machen und in unserer Arbeit zu stärken, gehört sicherlich zu den Aufgaben, die wir mit unseren Partner/inn/en im Bildungsprozess weiter stärken müssen. Weil Ravensbrück eben Teil des nationalsozialistischen Deutschlands war und kein fremder Planet.
Jüngere Veröffentlichungen von Matthias Heyl (Auswahl):
(1) Erziehung nach Auschwitz – Bildung nach Ravensbrück, in: Ahlheim / Heyl (Hg.): Adorno revisited. Erziehung nach Auschwitz und Erziehung zur Mündigkeit heute. Hannover 2010, S. 89-125.
(2) Historisch-politische Bildung zur Geschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen im 21. Jahrhundert, in: Hilmar (Hg.): Ort, Subjekt, Verbrechen. Koordinaten historisch-politischer Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus. Wien 2010, S. 21-51.
(3) »Forensische Bildung« am historischen Tat- und Bildungsort. Ein Plädoyer gegen das Erspüren von Geschichte, in: Overwien / Geißler (Hg.): Elemente einer zeitgemäßen politischen Bildung. Münster 2010, S. 189-202.
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- 24 Jan 2012 - 17:37